JudikaturJustiz7Ob118/23p

7Ob118/23p – OGH Entscheidung

Entscheidung
30. August 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J* P*, vertreten durch die Poduschka Partner Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagte Partei U* AG, *, vertreten durch Dr. Andreas A. Lintl, Rechtsanwalt in Wien, wegen Feststellung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 27. Mai 2023, GZ 60 R 47/23a 20, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 17. März 2023, GZ 14 C 473/21t 16, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 751,92 EUR (darin enthalten 125,32 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

[1] Dem Rechtsschutzversicherungsvertrag zwischen dem klagenden Versicherungsnehmer und dem beklagten Versicherer liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutz Versicherung ARB 2011 – Fassung 10/2011 (R 912) zugrunde. Diese lauten auszugsweise:

Artikel 2

Was gilt als Versicherungsfall und wann gilt er als eingetreten?

1. Für die Geltendmachung eines Personen-, Sach- oder Vermögensschadens, der auf einen versicherten Personen- oder Sachschaden zurückzuführen ist (Artikel 17 Pkt. 2.1, Artikel 18 Pkt. 2.1, Artikel 19 Pkt. 2.1 und Artikel 24 Pkt. 2), gilt als Versicherungsfall das dem Anspruch zugrundeliegende Schadenereignis. Als Zeitpunkt des Versicherungsfalles gilt der Eintritt dieses Schadenereignisses.

[...]

3. In den übrigen Fällen – insbesondere auch für die Geltendmachung eines reinen Vermögensschadens (Artikel 17 Pkt. 2.1, Artikel 18 Pkt. 2.1, Artikel 19 Pkt. 2.1), sowie für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen wegen reiner Vermögensschäden (Art. 23.2.1 und Art. 24.2.1.1) – gilt als Versicherungsfall der tatsächliche oder behauptete Verstoß des Versicherungsnehmers, Gegners oder eines Dritten gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften; der Versicherungsfall gilt in dem Zeitpunkt als eingetreten, in dem eine der genannten Personen begonnen hat oder begonnen haben soll, gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften zu verstoßen. [...]

Artikel 7

Was ist vom Versicherungsschutz ausgeschlossen?

1. Sofern nichts anderes vereinbart ist, besteht kein Versicherungsschutz für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen

[...]

1.6 aus dem Bereich des Kartell oder sonstigen Wettbewerbsrechtes;

[...]

Artikel 8

Welche Pflichten hat der Versicherungsnehmer zur Sicherung seines Deckungsanspruches zu beachten? (Obliegenheiten)

1. Verlangt der Versicherungsnehmer Versicherungsschutz, ist er verpflichtet,

1.1 den Versicherer unverzüglich, vollständig und wahrheitsgemäß über die jeweilige Sachlage aufzuklären und ihm alle erforderlichen Unterlagen auf Verlangen vorzulegen;

[...]

Artikel 9

Wann und wie hat der Versicherer zum Deckungsanspruch des Versicherungsnehmers Stellung zu nehmen? [...]

[...]

2. Davon unabhängig hat der Versicherer das Recht, jederzeit Erhebungen über den mutmaßlichen Erfolg der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung anzustellen. Kommt er nach Prüfung des Sachverhaltes unter Berücksichtigung der Rechts- und Beweislage zum Ergebnis,

[...]

2.2 dass diese Aussicht auf Erfolg nicht hinreichend, d. h. ein Unterliegen in einem Verfahren wahrscheinlicher ist als ein Obsiegen, ist er berechtigt, die Übernahme der an die Gegenseite zu zahlenden Kosten abzulehnen;

2.3 dass erfahrungsgemäß keine Aussicht auf Erfolg besteht, hat er das Recht, die Kostenübernahme zur Gänze abzulehnen.“

Rechtliche Beurteilung

[2] Da die Beklagte in ihrer Revision das Vorliegen der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zu begründen vermag, ist die Revision entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig. Die Zurückweisung eines ordentlichen Rechtsmittels wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO):

[3] 1. Die behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wurde geprüft; sie liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

[4] 2. Eine Aktenwidrigkeit einer Rechtsmittelentscheidung wäre nur bei einem Widerspruch zwischen dem Inhalt eines bestimmten Aktenstücks und dessen Zugrundelegung und Wiedergabe durch das Rechtsmittelgericht verwirklicht (vgl RS0043284; RS0043397).

[5] Die Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger habe hinreichend mitgeteilt, dass er das Fahrzeug bei Kenntnisstand des Dieselskandals „wertgemindert“ gekauft hätte, ist durch seine – von der Revisionswerberin nicht zitierte – Aussage gedeckt, die er auch zu seinem Vorbringen erhob. Die von der Revisionswerberin behauptete Aktenwidrigkeit liegt daher nicht vor.

[6] 3.1. Für das Vorliegen des Versicherungsfalls trifft nach der allgemeinen Risikoumschreibung den Versicherungsnehmer die Beweislast (RS0043438). Der Versicherungsnehmer, der eine Versicherungsleistung behauptet, muss die anspruchsbegründende Voraussetzung des Eintritts des Versicherungsfalls beweisen (RS0080003).

[7] 3.2. Hier hat der Versicherungsnehmer während des versicherten Zeitraums einen gebrauchten Diesel PKW erworben und begehrt Rechtsschutzdeckung für die Geltendmachung eines auf § 1295 ABGB sowie § 874 ABGB gestützten Anspruchs auf Ersatz des Minderwerts (30 % des Kaufpreises) sowie eine Haftung für Spät und Dauerfolgen gegen die V* AG wegen des Kaufs eines Fahrzeugs, dessen Motor mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgeliefert worden sei. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, damit habe der Kläger den Versicherungsfall schlüssig dargelegt, entspricht der Rechtsprechung des Fachsenats (vgl etwa 7 Ob 91/22s; 7 Ob 61/22d; 7 Ob 130/22a; 7 Ob 45/23b; 7 Ob 89/23y).

[8] 3.3. Die Vorinstanzen beurteilten – entsprechend dem Vorbringen des Klägers und der bestehenden höchstgerichtlichen Judikatur (vgl 7 Ob 130/22a mwN) – den Eintritt des Versicherungsfalls nach Art 2.3 ARB 2011.

[9] Entgegen der Ansicht der Beklagten macht der Kläger keinen Sachschaden im Sinn des Art 2.1 ARB 2011 geltend (7 Ob 89/23y; vgl 7 Ob 32/18h).

[10] 4.1. In der Rechtsschutzversicherung ist bei Beurteilung der Erfolgsaussichten kein strenger Maßstab anzulegen (RS0081929). Eine nicht ganz entfernte Möglichkeit des Erfolgs genügt (RS0117144 [T3]).

[11] 4.2. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass das anspruchsbegründende Vorbringen des Klägers nicht unschlüssig sei und eine nicht ganz entfernte Möglichkeit des Erfolgs bestehe, ist nicht zu beanstanden (vgl 7 Ob 61/22d; 7 Ob 129/22d; 7 Ob 130/22a).

[12] Entgegen der Ansicht der Beklagten stellte der Kläger auch die Behauptung auf, dass er mit Rechtsschutzdeckung gegen die Herstellerin V* AG vorzugehen beabsichtige. Dies wurde von der Beklagten im erstgerichtlichen Verfahren nicht konkret bestritten. Wie schon ihre Darlegungen in der Berufung zur behaupteten fehlenden Herstellereigenschaft der V* AG, worauf das Berufungsgericht zutreffend hingewiesen hat, verstoßen auch ihre Revisionsausführungen gegen das Neuerungsverbot (§ 504 Abs 2 ZPO; 7 Ob 82/23v [2.5.1]).

[13] 4.3. Die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist aufgrund einer Prognose nach dem im Zeitpunkt vor Einleitung des Haftpflichtprozesses vorliegenden Erhebungsmaterial vorzunehmen, weil eine Beurteilung der Beweischancen durch antizipierte Beweiswürdigung nicht in Betracht kommt (RS0124256 [T1]). Eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung und des Ergebnisses des Haftpflichtprozesses kommt daher im Deckungsprozess bei Beurteilung der Erfolgsaussichten nicht in Betracht (RS0081927).

[14] Abgesehen von diesen Grundsätzen verstößt der (erstmals in der Berufung erhobene) Einwand der Beklagten, dass dem Kläger infolge der „gefahrenen Kilometer“ kein Schaden entstanden und die beabsichtigte Rechtsverfolgung aussichtslos sei, zudem gegen das Neuerungsverbot (§ 482 Abs 1, § 504 Abs 2 ZPO).

[15] 5.1. Richtig ist, dass der Oberste Gerichtshof in seiner Entscheidung 7 Ob 95/21b zur selben Bedingung wie Art 7.1.6 ARB 2011 (dort: Art 7.1.6 ARB 2009) ausgesprochen hat, dass für einen durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmer der darin geregelte Ausschluss nur dahin zu verstehen ist, dass der Versicherer für die Verfolgung von ihm nach Kartell oder sonstigem Wettbewerbsrecht (einschließlich UWG) zustehenden Ansprüchen keine Deckung übernimmt.

[16] 5.2. Entgegen der Ansicht der Beklagten beurteilte der EuGH in seiner Entscheidung C 100/21 Art 5 Abs 2 der Verordnung (EG) Nr 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. 6. 2007 über die Typengenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) nicht dahin, dass diese Bestimmung den fairen Wettbewerb regle. Einen Bezug zum fairen Wettbewerb stellte der EuGH lediglich im Zusammenhang mit den in Art 46 der Richtlinie 2007/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. 9. 2007 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge in der durch die Verordnung (EG) Nr 385/2009 der Kommission vom 7. 5. 2009 geänderten Fassung (Rahmenrichtlinie) vorgesehenen Sanktionen her. Ein weiteres Eingehen erübrigt sich (7 Ob 86/23g).

[17] 5.3. Der Kläger hat Deckung für das in Punkt 3.2. dargestellte Begehren beansprucht und zusätzlich im für die Beurteilung relevanten erstinstanzlichen Verfahren ausdrücklich klargestellt, dass er sich im Haftpflichtprozess weder auf kartellrechtliche noch auf wettbewerbsrechtliche Anspruchsgrundlagen stützen werde. Damit ist auch klargestellt, dass die Verfolgung der letztgenannten Ansprüche vom vorliegenden Deckungsbegehren und daher dem auf dessen Grundlage ergangenen Feststellungsurteil nicht umfasst sind (7 Ob 86/23g).

[18] 5.4. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der Kläger im Deckungsprozess nicht verpflichtet, allfällige – vom beklagten Versicherer erst einzuwendende – Risikoausschlüsse zu berücksichtigen und seinem Begehren insoweit eine einschränkende Formulierung zu geben (auch keine entsprechende Pflicht des Gerichts; dazu 7 Ob 89/23y). Dies gilt umso mehr, als der Kläger im vorliegenden Fall auch keine Deckung für die von der Beklagten in Art 7.1.6 ARB 2009 ausgeschlossenen Risiken begehrt (7 Ob 86/23g).

[19] 6.1. Die Auskunftsobliegenheit (§ 34 Abs 1 VersVG; Art 8.1.1 ARB 2011) endet mit der Ablehnung des Entschädigungsanspruchs durch den Versicherer, weil sich das der Vereinbarung zugrunde liegende Ziel, die Leistung des Versicherers zu ermöglichen oder zu erleichtern, danach nicht mehr erreichen lässt. Mit anderen Worten bringt der Versicherer mit der Deckungsablehnung zum Ausdruck, dass er weiterer Auskünfte zur Beurteilung seiner Leistungspflicht nicht mehr bedarf (7 Ob 190/22z mwN). Dies gilt freilich nicht, wenn der Versicherer nach der Ablehnung zu erkennen gibt, er lege gleichwohl noch Wert auf Erfüllung der Obliegenheiten, und dies zumutbar erscheint (7 Ob 60/86; 7 Ob 319/01i; 7 Ob 153/20f). Letzteres setzt aber jedenfalls voraus, dass der Versicherer klar macht, inwieweit er noch ein Aufklärungsbedürfnis hat (7 Ob 190/22z mwN).

[20] 6.2. Im vorliegenden Fall lehnte die Beklagte die Versicherungsdeckung mit Schreiben vom 12. 1. 2021 definitiv ab, worauf der Kläger am 7. 10. 2021 die Deckungsklage einbrachte. Erst kurz vor Schluss der mündlichen Streitverhandlung erster Instanz forderte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 3. 10. 2022 auf, ihr Informationen und Unterlagen über den Besitzstatus, den Kilometerstand, den Kenntnisstand des Klägers betreffend den Dieselskandal und die vom Kläger wahrgenommenen Täuschungshandlungen der Fahrzeugherstellerin zu erteilen. Ganz abgesehen davon, dass die verlangten Informationen entweder nicht „erforderlich“ (vgl RS0080185) sind oder vom Kläger ohnehin im Rahmen dieses Verfahrens erteilt wurden, ist auch das Aufklärungsbedürfnis der Beklagten nicht erkennbar, hat sie es doch über einen Zeitraum von über 1,5 Jahren nach Ablehnung der Deckung und von einem Jahr nach Beginn dieses Verfahrens nicht für notwendig erachtet, die nunmehr verlangten Informationen zu fordern, obwohl sich die Sachlage seither nicht geändert hat. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, es liege keine Verletzung des Art 8.1.1 ARB 2011 vor, ist daher nicht korrekturbedürftig (so bereits 7 Ob 89/23y).

[21] 7. Die Revision ist damit zurückzuweisen.

[22] 8. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 und § 50 ZPO. Der Kläger hat auf die fehlende Zulässigkeit der Revision hingewiesen.

Rechtssätze
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