JudikaturJustiz4Ob215/22d

4Ob215/22d – OGH Entscheidung

Entscheidung
31. Januar 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ. Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und MMag. Matzka sowie die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Fitz als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen M*, geboren am * 2019, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter N*, vertreten durch den Verfahrenshelfer Mag. Lukas Honzak, dieser vertreten durch Held Berdnik Astner Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt als Rekursgericht vom 30. August 2022, GZ 20 R 79/22z 115, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Die Vorinstanzen haben vorläufig der Mutter und der Kinder und Jugendhilfe die Obsorge für das Kind entzogen und sie der Tante übertragen.

[2] Die Mutter beantragt mit ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs die Übertragung der alleinigen Obsorge an sie; sie macht allerdings keine erheblichen Rechtsfragen geltend, sodass das Rechtsmittel nicht zulässig und somit zurückzuweisen ist.

Rechtliche Beurteilung

[3] 1.1. Gemäß § 181 Abs 1 ABGB hat dann, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes gefährden, das Gericht, von wem immer es angerufen wird, die zur Sicherung des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen. Besonders darf das Gericht die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise entziehen. Gemäß § 182 ABGB darf das Gericht durch eine Verfügung nach § 181 ABGB die Obsorge nur so weit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes nötig ist. Gemäß § 204 ABGB hat das Gericht, soweit weder Eltern noch Großeltern oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut sind oder betraut werden können, unter Beachtung des Wohles des Kindes eine andere geeignete Person mit der Obsorge zu betrauen. Gemäß § 209 ABGB sind dafür Verwandte oder andere nahestehende oder sonst besonders geeignete Personen heranzuziehen. Lassen sich solche nicht finden, so hat das Gericht die Obsorge dem Kinder und Jugendhilfeträger zu übertragen.

[4] 1.2. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeit oder die soziale Integration oder die wirtschaftliche Sphäre des Kindes konkret gefährden (RS0048633). Ob dies zutrifft, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (RS0048699 [T18]).

[5] 1.3. Eine Verfügung, mit der die Obsorge entzogen wird, kommt nur als ultima ratio in Betracht. Zuvor hat das Gericht alle anderen Möglichkeiten zu prüfen, die dem Kindeswohl gerecht werden können und eine Belassung des Kindes in der Familie ermöglichen (RS0132193). Denn nur, wenn bei einer im Interesse des Kindes gebotenen Beschränkung der Obsorge die jeweils gelindesten Mittel angewandt werden, wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt (4 Ob 216/19x). Ob gelindere Mittel ausreichen, ist eine Frage des Einzelfalls (RS0132193 [T2]).

[6] 1.4. Gemäß § 107 Abs 2 AußStrG hat das Gericht die Obsorge und die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte nach Maßgabe des Kindeswohls, insbesondere zur Aufrechterhaltung der verlässlichen Kontakte und zur Schaffung von Rechtsklarheit, auch vorläufig einzuräumen oder zu entziehen. Bei § 107 Abs 2 AußStrG idF des KindNamRÄG 2013, BGBl I 2013/15, kommt es auf eine akute Gefährdung des Kindeswohls nicht mehr an (Kindeswohlförderung statt bisheriger Gefahrenabwehr, RS0129538). Das Gericht hat schon dann eine vorläufige Entscheidung zu treffen, wenn zwar für die endgültige Regelung noch weitergehende Erhebungen (etwa die Einholung eines Sachverständigengutachtens) notwendig sind, aber eine rasche Regelung der Obsorge oder der persönlichen Kontakte für die Dauer des Verfahrens Klarheit schafft und dadurch das Kindeswohl fördert (7 Ob 198/18w).

[7] 1.5. Im vorliegenden Fall haben die Tatsacheninstanzen (für den Obersten Gerichtshof bindend) festgestellt, dass die Mutter aufgrund mangelnder Aufsicht und Sorgfalt das Kind akut an Leib und Leben gefährdete, dass sie vielfältige Hilfestellungen und Unterstützungen angeboten bekam, diese aber keine nachhaltigen Veränderungen bewirken konnten und ihre eigene große Bedürftigkeit verhindert, dass sie die Bedürfnisse des Kindes durchgehend erkennt und ihnen nachkommen kann. Demgegenüber lebt die Tante in einer stabilen Partnerschaft, ist persönlich gefestigt und nicht psychisch instabil und zeigt sich dem Kind geschickt zugewandt und empathisch.

[8] In der vorläufigen Entziehung der Obsorge der Mutter und der Kinder- und Jugendhilfe und Übertragung an die Tante liegt daher keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende (grobe) Fehlbeurteilung.

[9] 2.1. Ein Mangel des Rekursverfahrens liegt vor, wenn sich das Rekursgericht mit der Beweisrüge nur unvollständig oder gar nicht auseinandergesetzt hat (vgl RS0043371 [T32]). Hier ist das Rekursgericht jedoch auf die Beweisrüge der Mutter eingegangen und hat nachvollziehbare Überlegungen zur Schlüssigkeit der erstgerichtlichen Beweiswürdigung angestellt. Von einer „floskelhaften Scheinbegründung“ kann daher keine Rede sein und der angezogene Verfahrensmangel wurde somit nicht dargetan.

[10] 2.2. Dasselbe gilt für das geltend gemachte Fehlen des rechtlichen Gehörs. Aufgrund der Entscheidung des EGMR 17056/06, Micallef gegen Malta , sind zwar im Regelfall auch im Provisorialverfahren die Garantien des Art 6 EMRK voll anwendbar (vgl 2 Ob 140/10t), allerdings hat im vorliegenden Provisorialverfahren ohnehin eine Verhandlung unter Beiziehung einer Sachverständigen stattgefunden, an deren Ende der Beschluss über die einstweilige Obsorgeübertragung verkündet wurde. Das Erstgericht war im Sinne der Eilbedürftigkeit des Verfahrens nicht dazu gehalten, auch nachfolgende ergänzende Angaben der Mutter einer Behandlung durch die Sachverständige zu unterziehen.

[11] 2.3. Angebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz, die vom Rekursgericht nicht als solche anerkannt worden sind, können in dritter Instanz nicht geltend gemacht werden (vgl RS0042963).

Rechtssätze
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