JudikaturJustiz3Ob9/23d

3Ob9/23d – OGH Entscheidung

Entscheidung
07. Juli 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon. Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. Dipl. Ing. S* K*, 2. M* K*, beide vertreten durch Dr. Karin Prutsch, Mag. Michael Franz Damitner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei Dr. C* H*, vertreten durch Dr. Sabine Gauper, Rechtsanwältin in Klagenfurt am Wörthersee, wegen restlicher 76.479,41 EUR sA und Feststellung, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 10. November 2022, GZ 3 R 193/22k 82, womit das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 17. Juni 2022, GZ 27 Cg 9/19f 73, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Es liegen die Voraussetzungen des § 8 Abs 1 OGHG vor; zur Entscheidung über die Revision ist deshalb ein verstärkter Senat berufen.

Text

Begründung:

[1] Die Tochter der Kläger kam mit einer schweren Behinderung zur Welt, die der beklagte Arzt im Rahmen der Pränataldiagnostik schuldhaft nicht erkannt hatte. Bei pflichtgemäßem Vorgehen des Beklagten hätten sich die Kläger für eine Abtreibung entschieden.

[2] Die Vorinstanzen gaben dem Schadenersatzbegehren der Kläger im Sinn der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (5 Ob 165/05h; 5 Ob 148/07m) im Wesentlichen statt und sprachen ihnen – insbesondere den Entscheidungen 5 Ob 165/05h und 5 Ob 148/07m folgend – den gesamten Unterhalt für das Kind zu.

Rechtliche Beurteilung

[3] In seiner Revision macht der Beklagte geltend, die zitierte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs sei unrichtig, insbesondere stehe den Klägern an Unterhalt, wenn überhaupt, nur der behinderungsbedingte Mehraufwand zu; im Übrigen sei die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs auch insofern uneinheitlich, als die Fallkonstellationen „wrongful conception“ und „wrongful birth“ zu Unrecht nicht gleich gelöst würden.

Dazu hat der Senat erwogen:

[4] 1. Dem Beklagten ist dahin zuzustimmen, dass nach der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs die beiden Fallkonstellationen „wrongful conception“ und „wrongful birth“ nicht einheitlich gelöst wurden.

[5] 1.1. Im Fall einer sogenannten „wrongful conception“ wird die Geburt eines gesunden, wenn auch „unerwünschten“ Kindes nicht als Schaden im Rechtssinn angesehen. Die für die Eltern sich daraus ergebenden Rechtsfolgen sollen nach Ansicht der dazu entwickelten Judikaturgrundsätze familienrechtlich erfasst und abgewogen sein. Die Grundsätze der Personenwürde und der Familienfürsorge sollen demnach Vorrang vor den Schadenersatzfunktionen und Haftungsgründen haben. Nur dort, wo ganz besondere Umstände vorlägen, die der typisierten umfassenden Bewertung im Rahmen des familienrechtlichen Verhältnisses nicht entsprechen, könne die schadenersatzrechtliche Ausgleichsfunktion durchdringen. Dies wurde im Fall der Geburt eines behinderten Kindes, aber auch bei der Geburt eines gesunden Kindes, wenn die zusätzliche Unterhaltsbelastung eine „ungewöhnliche und geradezu existenzielle Erschwerung wegen der zu gering verfügbaren Unterhaltsmittel“ zur Folge hätte, in Betracht gezogen. Diese Ausnahme soll jedoch nur solche Fälle betreffen, in denen durch den Unterhaltsaufwand im Ergebnis eine persönlich-existenzielle Notsituation drohen würde (9 Ob 37/14b mwN RdM 2015/110 [ Bernat ]; 8 Ob 69/21m mwN JBl 2022, 665 [ Dullinger ]; RS0121189) .

[6] 1.2. Im Fall der „wrongful birth“ hat der Oberste Gerichtshof die Ansicht vertreten, die Ablehnung eines Schadenersatzanspruchs mit der Behauptung, es liege kein Schaden im Rechtssinn vor, als auch der bloße Zuspruch nur des behinderungsbedingten Unterhaltsmehraufwands stehe mit den Grundsätzen des österreichischen Schadenersatzrechts nicht im Einklang (5 Ob 148/07m RdM 2008/38 [ Kopetzki ]).

[7] 2. Der 2. Senat des Obersten Gerichtshofs war der Ansicht, dass die beiden genannten Fallk onstellationen auf unterschiedlichen Sachverhalten beruhten , weshalb er keinen Anlass für eine Verstärkung des Senats gemäß § 8 OGHG erkannte (2 Ob 172/06t).

[8] 3. Der wiedergegebenen Ansicht des 2. Senats ist dahin zu folgen, dass beide Fallkonstellationen regelmäßig auf unterschiedlichen Sachverhalten beruhen. Beide Fallgruppen hängen allerdings grundlegend mit der Frage zusammen, ob aus der Geburt eines Kindes (mit gegebenenfalls besonderen Bedürfnissen) ein Schadenersatzanspruch abgeleitet werden kann und genau diese Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung wird in den beiden Judikaturlinien unterschiedlich beantwortet.

[9] 4. Die bezeichneten – unterschiedlichen – Lösungswege der beiden Fallkonstellationen wurden bisher in der Lehre sehr kontrovers diskutiert (vgl etwa die Nachweise bei Schickmair , Keine Produkthaftung nach Bruch der „Spirale“ und Geburt eines gesunden Kindes, iFamZ 2022, 233 [234, FN 4]). Die grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage nach einem möglichen Schadenersatzanspruch aufgrund der Geburt eines Kindes ist auch im Hinblick auf diese von der Wissenschaft ausführlich und teilweise auch sehr kritisch geführte Debatte und die inhaltlich darauf gestützten Argumente in der Revision neuerlich zu prüfen. Sollte der verstärkte Senat dabei zum Ergebnis kommen, dass keine Unterhaltskosten zuzusprechen seien oder nur der behinderungsbedingte Unterhaltsmehraufwand zu ersetzen sei, dann würde dies ein Abgehen von der dazu vorliegenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu den Fällen der „wrongful birth“ bedeuten.

[10] 5 . Es sind somit die Voraussetzungen nach § 8 Abs 1 Z 1 und 2 OGHG erfüllt, was nach dieser Gesetzesstelle mit Beschluss auszusprechen war.

Rechtssätze
5
  • RS0123136OGH Rechtssatz

    21. November 2023·3 Entscheidungen

    a) Im Rahmen des ärztlichen Behandlungsvertrags schuldet der Arzt Diagnostik, Aufklärung und Beratung nach den aktuell anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst. Die pränatale Diagnostik dient nicht zuletzt der Ermittlung von Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des ungeborenen Kindes und soll damit auch der Mutter (den Eltern) im Falle, dass dabei drohende schwerwiegende Behinderungen des Kindes erkannt werden, die sachgerechte Entscheidung über einen gesetzlich zulässigen, auf § 97 Abs 1 Z 2 zweiter Fall StGB beruhenden Schwangerschaftsabbruch ermöglichen. Dass in einem solchen Fall die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch auch wegen der erheblichen finanziellen Aufwendungen für ein behindertes Kind erfolgen kann, ist objektiv voraussehbar, weshalb auch die finanziellen Interessen der Mutter (der Eltern) noch vom Schutzzweck des ärztlichen Behandlungsvertrags umfasst sind. b) Wird beim Organscreening im Rahmen pränataler Diagnostik ein Hinweis auf einen beginnenden Wasserkopf als Folge einer Meningomyelozele nicht entdeckt und unterbleibt eine Wiederbestellung der Schwangeren, obwohl diagnoserelevante Strukturen nicht einsehbar waren, dann liegt ein ärztlicher Kunstfehler vor. Hätten sich die Eltern bei fachgerechter Aufklärung über die zu erwartende schwere Behinderung des Kindes und einen deshalb gesetzlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch gemäß § 97 Abs 1 Z 2 zweiter Fall StGB zu Letzterem entschlossen, haftet der Arzt (der Rechtsträger) für den gesamten Unterhaltsaufwand für das behinderte Kind. In einem solchen Fall stünden sowohl die Ablehnung eines Schadenersatzanspruchs mit der Behauptung, es liege kein Schaden im Rechtssinn vor, als auch der bloße Zuspruch nur des behinderungsbedingten Unterhaltsmehraufwands mit den Grundsätzen des österreichischen Schadenersatzrechts nicht im Einklang.