JudikaturJustiz3Ob629/85

3Ob629/85 – OGH Entscheidung

Entscheidung
12. Februar 1986

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Kinzel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Hule, Dr.Warta, Dr.Klinger und Mag.Engelmaier als Richter in der Vormundschaftssache mj. Georg P***, geboren 26. September 1978, derzeit im Aufenthalt beim Vater Ladislaus SZAVKA, kaufmännischer Angestellter, 1200 Wien, Burghardtgasse 2/1/22, infolge Revisionsrekurses der Mutter Monika FRIMMEL, geborene P***, Angestellte, 1100 Wien,

Neilreichgasse 115/28/29, vertreten durch Dr.Wolfgang KLUGER, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Jugendgerichtshofes Wien als Rekursgerichtes vom 19.Juli 1985, GZ. 15 b R 23/85-21, womit der Beschluß des Jugendgerichtshofes Wien vom 8.März 1985, GZ. 26 P 219/84-12, ersatzlos aufgehoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben. Der angefochtene Beschluß wird dahin abgeändert, daß der Beschluß des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Text

Begründung:

Das am 26.9.1978 unehelich geborene Kind Georg P*** unterstand zunächst der Amtsvormundschaft des Bezirksjugendamtes für den

21. Bezirk Wien. Mit Beschluß des Bezirksgerichtes Floridsdorf vom 19.12.1978, 3 P 683/78-2, wurde die Mutter Monika P***, später verehelichte FRIMMEL, damals wohnhaft in 1210 Wien, Voltagasse 5/2/1, zum Vormund des Kindes bestellt.

Am 9.3.1982 begann beim Bezirksgericht Floridsdorf ein Verfahren über die allenfalls notwendige Übertragung der Pflege und Erziehung an den Vater oder an die mütterliche Großmutter, das schließlich in einem zweiten Rechtsgang zum Beschluß des Bezirksgerichtes Floridsdorf am 16.3.1984, 3 P 683/78-54 führte, mit dem das Erstgericht das Kind der Pflege und Erziehung des Vaters Ladislaus SZARKA, damals wohnhaft in 1210 Wien, Brünnerstr. 9/3/1/7, überwiesen und er zum Vormund des Kindes bestellt wurde. Das Gericht zweiter Instanz änderte diesen Beschluß mit Beschluß vom 23.5.1984, 44 R 3223/84-61, dahin ab, daß der Antrag des Vaters, das Kind in seine Pflege und Erziehung einzuweisen und ihn zum Vormund zu bestellen, abgewiesen wurde. Der Oberste Gerichtshof bestätigte die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz mit Beschluß vom 30.8.1984, 6 Ob 639/84-68. Die zweite und dritte Instanz war kurz zusammengefaßt der Auffassung, daß zwar der Vater zur Betreuung des Kindes besser geeignet sei als die Mutter, daß aber bei einer Weiterbetreuung durch die Mutter trotz verschiedener Unzulänglichkeiten keine Gefährdung des Kindeswohles zu befürchten sei, weshalb "derzeit" kein Anlaß bestehe, ihr die ihr gesetzlich zustehende Pflege und Erziehung zu entziehen.

Faktisch hält sich das Kind seit dem Oktober 1983 im Haushalt des Vaters auf, der nach einem Besuch das Kind nicht mehr an die Mutter zurückstellte, welcher Zustand in der Folge durch die vorläufige Entscheidung des Vormundschaftsgerichtes sanktioniert wurde (Beschluß des Bezirksgerichtes Floridsdorf vom 13.10.1983, 3 P 633/78-36). Der Vater war inzwischen nach 1200 Wien, Burghardtgasse 2/1/22 übersiedelt. Zu einer Durchsetzung des Beschlusses auf Abweisung des erwähnten Antrages des Vaters kam es in der Folge nicht, weil inzwischen ein Verfahren eingeleitet wurde, das Gegenstand der jetzigen Rechtsmittelentscheidung ist, wobei es um folgendes geht:

Am 22.10.1984 langte beim Jugendgerichtshof Wien ein an diesen gerichteter Antrag des auf Grund des jetzt gegebenen tatsächlichen Aufenthaltsortes des Kindes zuständigen Bezirksjugendamtes für den

20. Bezirk Wien auf Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe gemäß § 26 JWG durch Einweisung in die Pflege und Erziehung des Vaters und Übernahme des Vormundschaftsaktes 3 P 683/78 des Bezirksgerichtes Floridsdorf ein. Der Jugendgerichtshof Wien ließ diesen Vormundschaftsakt zwecks Weiterführung beischaffen (Beschluß vom 30.10.1984, 26 P 219/84-1), welchem Ersuchen das Bezirksgericht Floridsdorf dahin nachkam, daß es die Akten 3 P 683/78 mit einer niemandem zugestellten "Verfügung" vom 7.12.1984, 3 P 683/78-75, dem Jugendgerichtshof Wien zur Einbeziehung in das dort anhängige Verfahren 26 P 219/84 übermittelte.

In einer Eingabe sprach sich die Mutter gegen den Antrag auf Bewilligung der gerichtlichen Erziehungshilfe aus und vertrat insbesondere auch die Auffassung, der Jugendgerichtshof Wien sei mangels eines gegebenen Erziehungsnotstandes im Sinne des § 22 JGG nicht zuständig.

Mit Beschluß vom 8.3.1985, 26 P 219/84-12, ersuchte der Jugendgerichtshof Wien als Vormundschaftsgericht erster Instanz a) die Wiener Jugendgerichtshilfe um Stellungnahme zu den Anträgen der Kindeseltern und übernahm b) den Akt 3 P 683/78 des Bezirksgerichtes Floridsdorf zur Weiterführung.

Das Erstgericht war der Auffassung, daß ein Erziehungsnotstand dann vorliege, wenn eine schwere seelische oder körperliche Störung des Kindes befürchtet werden müsse, weil die moralische oder geistige Entwicklung vernachlässigt werde oder wenn dem Körper oder der Gesundheit des Kindes nicht die erforderliche Pflege zuteil werde. Nach der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 30.8.1984 hätten sich verschiedene neue Gesichtspunkte ergeben, welche einen Anhaltspunkt dafür böten, von einem Erziehungsnotstand auszugehen. Ob das Vorbringen des Bezirksjugendamtes richtig sei, werde geprüft werden müssen. Zur Entscheidung über den Antrag auf Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe und damit zur Beantwortung der Rechtsfrage, ob ein Erziehungsnotstand vorliege oder nicht, sei aber jedenfalls der Jugendgerichtshof Wien zuständig. Gegen diesen Beschluß erhob die Mutter Rekurs, indem sie das Vorliegen eines Erziehungsnotstandes in Abrede stellte und neuerlich die Zuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien bestritt. Sie stellte den Antrag, den angefochtenen Beschluß dahin abzuändern, daß der Antrag des Bezirksjugendamtes für den 20.Bezirk Wien auf Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe mangels Zuständigkeit des Jugendgerichtshofes zurückgewiesen werde.

Das Gericht zweiter Instanz gab diesem Rekurs dahin Folge, daß der angefochtene Beschluß ersatzlos aufgehoben wurde. Das Gericht zweiter Instanz war der Auffassung, daß das Erstgericht zwar von einer durchaus zutreffenden Definition des Begriffes des Erziehungsnotstandes ausgehe. Da aber das Kind immer noch beim Vater sei, sei derzeit kein Erziehungsnotstand gegeben. Das Erstgericht habe daher mangels Zuständigkeit den Akt des Bezirksgerichtes Floridsdorf nicht zur Weiterführung übernehmen dürfen. Die Tatsache, daß das Kind, sobald es in Durchsetzung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes zur Mutter komme, gefährdet sein würde, begründe nicht die Zuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien, sondern sei im Rahmen der allgemeinen Zuständigkeit, also vom Bezirksgericht Floridsdorf, zu beachten. Wegen der zwischenzeitig vorgebrachten Änderungen in den Lebensverhältnissen der Mutter könne beim Bezirksgericht Floridsdorf jederzeit ein neuer Antrag eingebracht werden. Erst wenn das Kind in Durchführung des Beschlusses des Obersten Gerichtshofes bei der Mutter untergebracht werde und dann ein Erziehungsnotstand festgestellt werden sollte, wäre die Zuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien gegeben. Zu diesem Beschluß des Gerichtes zweiter Instanz stellte die Mutter einen Beschlußergänzungsantrag in der Richtung, es möge auch die Zurückweisung des Antrages des Bezirksjugendamtes wegen Unzuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien ausgesprochen werden. Aus Gründen der Vorsicht erhob die Mutter auch einen Revisionsrekurs mit dem Antrag, den Beschluß des Gerichtes zweiter Instanz dahin zu ergänzen, daß der genannte Antrag des Bezirksjugendamtes infolge Unzuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien zurückgewiesen werde, weil die Rekursentscheidung des Gerichtes zweiter Instanz den Rekursantrag der Mutter diesbezüglich nicht vollständig erledigt habe.

Mit Beschluß vom 12.11.1985, 15 b R 23/85-23, wies das Gericht zweiter Instanz den Ergänzungsantrag mit der Begründung zurück, die bekämpfte Beschlußfassung entspreche dem Willen des Gerichtes zweiter Instanz im Zeitpunkt der Fällung des Beschlusses, so daß keine Änderung stattfinden könne. Das Gericht zweiter Instanz habe sich wegen der Fassung des Beschlusses des Erstgerichtes bewußt nur mit den beiden Punkten (1. Ersuchen an die Wiener Jugendgerichtshilfe, 2. Übernahme des Aktes des Bezirksgerichtes Floridsdorf zur Weiterführung) des Beschlusses des Erstgerichtes befaßt und diese Entscheidung ersatzlos aufgehoben. Die begehrte Ergänzung stelle demgegenüber ein Begehren dar, eine der ersten Instanz zukommende Entscheidung durch die zweite Instanz vornehmen zu lassen, somit die Parteien um eine Rechtsmittelinstanz zu verkürzen.

Rechtliche Beurteilung

Dem Revisionsrekurs der Mutter kommt teilweise Berechtigung zu. Mit Recht beanständet die Rechtsmittelwerberin, daß durch die angefochtene Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz nicht wirklich über die Zuständigkeit des Erstgerichtes abgesprochen wurde und ihr Antrag auf Zurückweisung des Antrages des Jugendamtes unerledigt blieb.

Beim Erstgericht lagen hinsichtlich der Zuständigkeit zwei widersprechende Anträge vor. Das zuständige Jugendamt ging von der Zuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien aus und beantragte die "Übernahme" des bisher beim Bezirksgericht Floridsdorf geführten Verfahrens. Die Mutter ging von der Unzuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien aus und beantragte die Zurückweisung des Antrages des Jugendamtes. Der Beschluß des Erstgerichtes folgte der Auffassung des Jugendamtes und lehnte damit den gegenteiligen Standpunkt der Mutter ab. Infolge Rekurses der Mutter mußte sich daher das Gericht zweiter Instanz für den Fall der Verneinung der Zuständigkeit - wie dies in der Begründung ausgeführt wird - auch mit dem Antrag der Mutter befassen und durfte nicht einfach nur den Beschluß auf Weiterführung des Vormundschaftsverfahrens (Beschlußteil lit. b) ersatzlos aufheben, ohne auszusprechen, was mit dem Antrag des Jugendamtes zu geschehen habe, nämlich ob derselbe zurückzuweisen oder aber in Anwendung des § 44 JN vielleicht dem zuständigen Vormundschaftsgericht zu überweisen wäre. Es ist nicht richtig, daß dadurch den Parteien eine Instanz genommen würde, denn die erste Instanz stand allen Parteien in dieser Hinsicht durchaus offen.

Statt der Erteilung eines entsprechenden Auftrages zur vollständigen Erledigung des Rechtsmittels der Mutter kann aber der Oberste Gerichtshof in der Zuständigkeitsfrage sofort selbst die richtige Entscheidung treffen, auch wenn diese aus den im folgenden auszuführenden Gründen zum Nachteil der Mutter ausfallen muß, weil im Verfahren außer Streitsachen eine sog. "reformatio in peius" diesbezüglich nicht verboten ist (EvBl. 1970/225; JBl. 1973,97; SZ 47/12).

Gemäß § 22 Abs. 1 Z 2 a JGG 1961 ist der Jugendgerichtshof Wien für die Sprengel der in Wien gelegenen Bezirksgerichte ausschließlich zur Ausübung der den Bezirksgerichten übertragenen Vormundschaftsgerichtsbarkeit über Personen berufen, bei denen ein Erziehungsnotstand vorliegt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Erziehungsnotstand im Zeitpunkt der Einleitung des Vormundschaftsverfahrens besteht, sondern ob er gegeben ist, wenn wegen eines konkreten Erziehungsnotstands eine Befassung des Vormundschaftsgerichtes notwendig ist

(1 Ob 57/65 = EvBl. 1961/316 = SZ 38/48). Daß also im vorliegenden Fall das Verfahren beim Bezirksgericht Floridsdorf begann, steht der Zuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien nicht entgegen, weil § 29 JN in diesem Zusammenhang nicht Anwendung findet. Wie der Oberste Gerichtshof schon einmal ausgesprochen hat, obliegt in einem solchen Fall auch schon die Prüfung, ob ein Erziehungsnotstand vorliegt oder nicht, dann, wenn der Antrag des Jugendamtes beim Jugendgerichtshof Wien eingebracht wird, nicht dem bisher befaßten Vormundschaftsgericht, sondern sofort dem Jugendgerichtshof Wien (6 Ob 98/63, teilweise wiedergegeben in Edlbacher Verfahren außer Streitsachen 2 MGA E Nr. 4 zu § 22 JGG 1961). Der erkennende Senat hält an dieser Auffassung fest, denn es kann wohl kaum dem Sinne des § 22 JGG 1961 entsprechen, daß sozusagen für die Abweisung eines Antrages ein anderes Gericht zuständig sein solle als für die Stattgebung. Sondern wenn es infolge eines Antrages des Jugendamtes darum geht, ob ein Erziehungsnotstand besteht oder nicht und welche Maßnahme nach dem JWG daher zu treffen ist, sollen die dem Jugendgerichtshof Wien zur Verfügung stehenden besonderen Möglichkeiten zur Behebung von Erziehungsnotständen ausgenützt werden (vgl. dazu auch EvBl. 1980/81 = ÖA 1981,93).

Der Auffassung des Gerichtes zweiter Instanz, derzeit werde das Kind beim Vater so betreut, daß nicht von einem Erziehungsnotstand gesprochen werden könne, und schon deshalb scheide eine Zuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien aus, kann nicht beigetreten werden. Es kann nicht dem Sinn richtig verstandener Maßnahmen der Jugendwohlfahrt entsprechen, daß ein Kind zuerst für einen kurzen Zeitraum zu einem Elternteil gegeben werden muß, damit dieser sozusagen den Erziehungsnotstand herbeiführt, um dann einzuschreiten, sondern man kann und muß in einem solchen Fall auch schon etwas unternehmen, wenn der Schade beim Kind zwar noch nicht eingetreten ist, aber von dem durch rechtskräftigen Beschluß als Erziehungsberechtigter anerkannten Elternteil von vornherein feststeht, daß er die nötige Erziehung nicht werde leisten können. Es war also zutreffend, daß der Jugendgerichtshof Wien als Vormundschaftsgericht erster Instanz seine Zuständigkeit bejahte, was zur Wiederherstellung des Beschlusses des Erstgerichtes führen muß.

In der Sache selbst sei zur Vermeidung von Mißverständnissen angefügt, daß zwar die vollkommen unpassende Bemerkung im Antrag des Bezirksjugendamtes für den 20. Bezirk zurückzuweisen ist, das Jugendamt könne sich mit einer unanfechtbaren Entscheidung des Obersten Gerichtshofes "nicht einverstanden" erklären. Keinesfalls könnte es dahin kommen, daß ein rechtskräftiger Beschluß des Obersten Gerichtshofes dadurch unterlaufen würde, daß man einfach einen Antrag der vorliegenden Art stellt und geltend macht, der vom Obersten Gerichtshof vertretene Standpunkt, daß das Wohl des Kindes einer Betreuung durch die Mutter nicht gefährdet sei, sei unrichtig; denn in Wahrheit werde dadurch ein Erziehungsnotstand heraufbeschworen. Der Jugendgerichtshof Wien dürfte also mit anderen Worten nicht als sozusagen weitere Instanz über dem Obersten Gerichtshof mißbraucht werden.

Aber von diesem Mißgriff in der Formulierung abgesehen, enthält der Antrag des Jugendamtes ja auch konkrete, bisher nicht bekannte neue Umstände. Und diese, aber wie gesagt nur solche neuen Umstände, können sehr wohl den Antrag allenfalls rechtfertigen. Daß diese neuen Umstände ohne Geltendmachung eines Erziehungsnotstandes im Sinn des § 26 JWG auch beim Bezirksgericht Floridsdorf vorgetragen werden könnten, macht nach Ansicht des erkennenden Senates den vom Jugendamt im vorliegenden Fall beschrittenen Weg (Antrag nach § 26 JWG) nicht unzulässig. Immerhin wird dadurch das primäre Erziehungsrecht der Mutter nach § 170 ABGB weitgehend berücksichtigt und der Vater bekommt bei positiver Erledigung des strittigen Antrages nur die Rechte aus einem der Aufsicht des Jugendamtes unterliegenden Pflegeverhältnis.

Rechtssätze
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