JudikaturJustiz2Ob72/16a

2Ob72/16a – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. März 2017

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé sowie den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei W***** R*****, vertreten durch Mag. Karl Komann, Rechtsanwalt in Villach, gegen die beklagte Partei Fachverband der Versicherungsunternehmungen, Schwarzenbergplatz 7, 1030 Wien, vertreten durch Dr. Ivo Burianek, Rechtsanwalt in Mödling, und den Nebenintervenienten auf Seiten der beklagten Partei H***** K*****, vertreten durch Mag. Dieter Benko, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 91.154,59 EUR sA und Feststellung (Streitinteresse: 20.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 15. Jänner 2016, GZ 2 R 158/15w 56, womit infolge der Berufungen beider Parteien und des Nebenintervenienten auf Seiten der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 30. Juni 2015, GZ 15 Cg 3/14k 47, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 17. Juli 2015, GZ 15 Cg 3/14k 50, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung über die Berufungen an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der Kläger und der Nebenintervenient sind Mitarbeiter der „Firma S*****“. Beide waren am 26. 10. 2011 auf der Baustelle im K*****tunnel tätig.

Der Kläger hatte damals den Auftrag, ein Sicherheitsgitter eines in einer Nische abgestellten Radladers zu reparieren. Er stieg eine am Radlader angebrachte Leiter hinauf, um das Sicherheitsgitter abzumontieren. Danach stieg er die Leiter wieder hinab, wobei er das Gesicht dem Radlader zuwandte.

Unterdessen steuerte der Nebenintervenient einen „Merlo“ rückwärts fahrend durch den Tunnel. Dabei handelt es sich um ein einsitziges Mehrzweckfahrzeug mit ausfahrbarem Kran und Lastgabeln, das eine Geschwindigkeit bis zu 20 km/h, im Falle einer Getriebeänderung sogar bis zu 40 km/h erreichen kann. Das Fahrzeug dient zum Heben und zum Transport von Lasten, aber auch zum Anheben eines Arbeitskorbs. Das Führerhaus ist mit zwei Außenspiegeln ausgestattet, die Heckscheibe verfügt über einen Scheibenwischer. Bei Rückwärtsbewegung ertönt ein akustisches Warnsignal.

Der Nebenintervenient drehte sich während der Fahrt nach rückwärts, um durch die Heckscheibe hinauszusehen. Diese war damals in dem vom Scheibenwischer erfassten Bereich geringfügig und außerhalb dieses Bereichs sehr stark verschmutzt. Der „Merlo“ näherte sich mit einer Geschwindigkeit von 4 bis 5 km/h dem Radlader. Als der Kläger den Boden erreicht hatte und sich umdrehte, befand sich der „Merlo“ nur mehr 1 bis 1,5 m vom Radlader entfernt. Der Kläger stieß einen Schrei aus, worauf der Nebenintervenient bremste. Dennoch wurde der Kläger vom Schild des „Merlo“ erfasst und gegen den linken hinteren Reifen des Radladers gedrückt. Dadurch wurde der Kläger schwer verletzt. Unfallskausale Spätfolgen sind nicht auszuschließen.

Der Kläger begehrt den Ersatz seines zuletzt mit 91.154,59 EUR sA bezifferten Schadens sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Partei für alle künftigen, derzeit nicht bekannten Schäden aus dem Unfall vom 26. 10. 2011 bis zur gesetzlichen Versicherungssumme des KHVG. Die Haftung des Fachverbands gründe sich auf § 6 VOEG idF BGBl I 2007/37. Der „Merlo“ sei ein nicht haftpflichtversicherungspflichtiges Fahrzeug iSd § 1 Abs 2 lit b iVm § 2 Abs 1 Z 21 KFG. Das Alleinverschulden an dem Unfall treffe den Nebenintervenienten.

Die beklagte Partei bestritt ihre Haftung. Das VOEG ziele schon definitionsgemäß auf den Schutz von Verkehrsopfern ab. Mit der Novellierung des § 6 VOEG, BGBl I 2013/12, habe der Gesetzgeber klargestellt, dass das VOEG auf Arbeitsunfälle in geschlossenen Betriebsbereichen bei Beteiligung von in den Arbeitsbetrieb eingebundenen Personen nicht anzuwenden sei. Davon abgesehen treffe den Kläger das Alleinverschulden, jedenfalls aber das überwiegende Mitverschulden an dem Unfall. Das Klagebegehren werde auch der Höhe nach bestritten, ebenso das Feststellungsbegehren und der Zinsenlauf.

Der Nebenintervenient brachte vor, der Kläger sei für ihn nicht sichtbar gewesen und unter Missachtung des akustischen Warnsignals unerwartet hervorgetreten. In einem Logistikstollen müsse mit Baustellenverkehr gerechnet werden. Der Kläger habe die von ihm einzuhaltenden Sicherheitsvorschriften verletzt.

Das Erstgericht gab dem Leistungsbegehren mit 48.553,12 EUR sA und dem Feststellungsbegehren zur Gänze statt. Das Leistungsmehrbegehren von 42.601,47 EUR sA wies es ab.

Das Erstgericht traf über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus noch weitere Feststellungen zum Unfallhergang und zum Schaden des Klägers. Rechtlich gelangte es zu dem Ergebnis, dass den Nebenintervenienten das Alleinverschulden an dem Unfall treffe. Die beklagte Partei hafte gemäß § 6 Abs 1 Z 1 VOEG idF BGBl I 2007/37 für den Schaden. Die erst mit dem BGBl I 2013/12 in Kraft getretene Ausnahmeregelung des § 6 Abs 3 Z 2 VOEG sei auf den Sachverhalt noch nicht anzuwenden. Aus den Gesetzesmaterialien lasse sich nicht verlässlich ableiten, dass der Gesetzgeber mit dieser Gesetzesänderung nur eine Klarstellung der bisherigen Rechtslage beabsichtigt habe.

Gegen diese Entscheidung erhoben beide Parteien und der Nebenintervenient Berufung, wobei die Rechtsmittel des Klägers und des Nebenintervenienten auch Beweisrügen, die Berufung des Klägers überdies eine Mängelrüge enthielten.

Das Berufungsgericht änderte die erstinstanzliche Entscheidung dahin ab, dass es das Klagebegehren zur Gänze abwies. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Das Berufungsgericht ließ die Mängelrüge und die Beweisrügen unerledigt. Es erörterte rechtlich, der Gesetzgeber habe mit dem VersRÄG 2013 § 6 Abs 3 VOEG um einen weiteren, hier maßgeblichen Ausschlusstatbestand (Z 2) ergänzt. Den Erläuternden Bemerkungen zufolge solle diese Bestimmung sicherstellen, dass durch die Unfälle mit Arbeitsmaschinen in einem abgesperrten Fabriksgelände (zB Fabriks oder Lagerhalle) zwischen in den Arbeitsbetrieb des Arbeitgebers eingebundenen Personen (Arbeitnehmer, Leiharbeitskräfte sowie Personen in ähnlichen Rechtsverhältnissen) nicht eine Ersatzpflicht des Fachverbands der Versicherungsunternehmungen gefolgt von einer Regresspflicht der schuldtragenden Person begründet werde. In diesem Fall sei wohl primär die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, allenfalls gekoppelt mit Leistungen aus einer Betriebshaftpflichtversicherung sowie der allgemeinen Unfallversicherung, angesprochen und nicht ein Ausgleich über das VOEG, der letztlich auf eine Schadensteilung „unter und nach dem Verschulden der beteiligten Arbeitnehmer“ hinauslaufe.

Durch die Aufnahme des weiteren Ausschlusstatbestands habe der Gesetzgeber § 6 VOEG idF BGBl I 2007/37 im Sinne einer authentischen Interpretation dahin „erklärt“, keine Regresspflicht des schuldhaften Schädigers gegenüber dem Fachverband gewollt zu haben. Der Ausschlusstatbestand sei deshalb auch auf den gegenständlichen Unfall anzuwenden. Es könne kein Zweifel bestehen, dass der dem Kläger entstandene Schaden durch einen Unfall „im geschlossenen Bereich“, nämlich in einem Stollen des zu errichtenden K*****tunnels, „zwischen in den Arbeitsbetrieb eingebundenen Personen“ herbeigeführt worden sei. Die Haftung der beklagten Partei könne daher nicht auf das VOEG gestützt werden. Einer näheren Auseinandersetzung mit allen übrigen Berufungsgründen bedürfe es nicht.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Rechtsfrage einer durch den Gesetzgeber mit BGBl I 2013/12 vorgenommenen authentischen Interpretation des § 6 VOEG fehle.

Gegen dieses Berufungsurteil richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung „samt Verfahrensfehlern“ mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern; hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.

Die beklagte Partei und die Nebenintervenientin beantragen in ihren Revisionsbeantwortungen, das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig , weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist. Sie ist im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt .

Der Kläger macht geltend, der Oberste Gerichtshof habe in der Entscheidung 2 Ob 69/15h das Vorliegen einer authentischen Interpretation bereits ausdrücklich verneint. Im Übrigen widerspreche die neue Fassung des § 6 Abs 3 VOEG der 5. Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie (5. KH-RL), die eine Verbesserung des Verkehrsopferschutzes bezwecke.

Hiezu wurde erwogen:

1. § 6 VOEG regelt die Entschädigung von Verkehrsopfern bei nicht versicherungspflichtigen Fahrzeugen durch den Fachverband. Die Bestimmung lautete idF BGBl I 2007/37:

„(1) Der Fachverband hat Entschädigung für Personen- und Sachschäden zu leisten, die im Inland durch

1. ein Fahrzeug im Sinn des § 1 Abs 2 lit a, b und d sowie des Abs 2a KFG 1967 oder

2. ein Fahrzeug, […]

verursacht wurden.

(2) Der Fachverband hat Leistungen nach Abs. 1 so zu erbringen, als ob ihnen ein Schadenersatzanspruch des Verkehrsopfers und das Bestehen einer Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung im Rahmen der in den kraftfahrrechtlichen Bestimmungen festgesetzten Versicherungspflicht zugrunde lägen. Der Fachverband kann gegen einen Entschädigungsanspruch nicht einwenden, dass ein Haftpflichtiger Ersatz zu leisten habe, oder dass ein Haftpflichtversicherer einzutreten habe, wenn dieser seine Deckungspflicht bestreitet.

(3) Der Geschädigte ist nach Abs. 1 nicht zu entschädigen, wenn das Fahrzeug als ortsgebundene Kraftquelle oder für ähnliche Zwecke verwendet wird.“

Mit dieser Bestimmung wurde Art 4 lit b RL 72/166/EWG in der durch die 5. KH-RL geänderten Fassung (nunmehr Art 5 Abs 2 der 6. KH RL) innerstaatlich umgesetzt (ausführlich 2 Ob 89/12w mwN ZVR 2014/7 [ Kathrein ]). In der soeben zitierten Entscheidung – sie betraf einen Unfall aus dem Jahr 2007 mit einem Elektrohubstapler in einer Lagerhalle – vertrat der Oberste Gerichtshof mit Hinweisen auf das einschlägige Schrifttum die Rechtsansicht, dass § 6 VOEG durch die Einbeziehung der in § 1 Abs 2 lit b KFG genannten Fahrzeuge in die Haftpflicht der beklagten Partei geradezu typischerweise Unfälle auf einem Betriebsgelände, damit aber auch „innerbetriebliche Unfälle“, erfasst (RIS Justiz RS0128779; vgl auch Haupfleisch , Lücken im europäischen Verkehrsopferschutz, ZVR 2015/18, 45 [50]). Im Zeitpunkt dieser Entscheidung (21. 2. 2013) war bereits die geänderte Fassung des § 6 VOEG in Kraft.

2. Mit dem Versicherungsrechts-Änderungsgesetz (VersRÄG) 2013, BGBl I 2013/12, erhielt § 6 Abs 3 VOEG folgende Fassung:

„(3) Der Geschädigte ist nach Abs. 1 nicht zu entschädigen, wenn

1. das Fahrzeug als ortsgebundene Kraftquelle oder für ähnliche Zwecke verwendet wird oder

2. der Schaden durch einen Unfall von in § 1 Abs 2 lit a und b KFG 1967 angeführten Fahrzeugen im geschlossenen Bereich zwischen in den Arbeitsbetrieb eingebundenen Personen herbeigeführt wird.“

Die Gesetzesänderung trat ohne besondere Übergangsregelung mit 1. 1. 2013 in Kraft (§ 19 Abs 4 VOEG). Das erklärte Ziel des Gesetzgebers war es, durch den neuen Ausnahmetatbestand Arbeitsunfälle von den Entschädigungsfällen des VOEG auszunehmen (ErläutRV 2005 BlgNR XXIV. GP 1; dazu 2 Ob 112/15g ecolex 2016/295 [ Melcher ] = JBl 2017, 117 [ Perner ]). Mittlerweile (seit 18. 1. 2017) gilt wieder die ursprüngliche Fassung des § 6 Abs 3 VOEG (Art 6 Z 2 MinVersValG 2016, BGBl I 2017/19).

3. Der gegenständliche Unfall ereignete sich am 26. 10. 2011. Die Bestimmungen des VOEG sind daher nach § 5 ABGB in der zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung anzuwenden (vgl 2 Ob 15/16v mwN; RIS Justiz RS0008732 [T3]).

4. § 8 ABGB sieht zwar die Möglichkeit vor, dass der Gesetzgeber den normativen Sinn eines (unklaren) Gesetzes durch ein neuerliches Gesetz erklärt. Die authentische Interpretation eines Gesetzes kann aber nur durch eine – uU auch schlüssige – Erklärung des Gesetzgebers vorgenommen werden, die sich als Gesetz darstellt und auch als Gesetz kundgemacht worden ist; bloßen Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren kommt aber diese Eigenschaft nicht zu (2 Ob 237/07b mwN; 2 Ob 20/15b; 10 ObS 101/16z; RIS Justiz RS0008907 [T1]). Auch Gesetzesmaterialien können nur zur Auslegung des Gesetzes, dessen Vorarbeiten sie sind, herangezogen werden. Es ist nicht zulässig, allein aus den Erläuterungen zu einer Regierungsvorlage darauf zu schließen, welche Absicht der Gesetzgeber bei Erlassung des früheren Gesetzes verfolgt hat (2 Ob 20/15b; RIS Justiz RS0008771). Die Aussage über die authentische Interpretation muss demnach, auch wenn sie schlüssig erfolgt, stets (zumindest auch) im kundgemachten Text des „erklärenden Gesetzes“ enthalten sein (2 Ob 237/07b mwN; 2 Ob 20/15b; RIS Justiz RS0008908 [T3]).

5. Diese Voraussetzung trifft hier nicht zu. Das Berufungsgericht vermag seine Rechtsansicht nur auf die Erläuterungen zur Regierungsvorlage des VersRÄG 2013 zu stützen, die es ausführlich wiedergibt. Den darin enthaltenen Äußerungen kommt aber, wie soeben ausgeführt, nicht die Bedeutung einer authentischen Auslegung zu. Der Oberste Gerichtshof hat demzufolge bereits ausdrücklich festgehalten, dass § 6 Abs 3 VOEG idF BGBl I 2013/12 keineswegs eine die frühere Rechtslage bloß „klarstellende“ Wirkung hat (2 Ob 69/15h [Unfall vom 12. 3. 2012]; vgl auch 2 Ob 20/16d [Unfall vom 17. 8. 2010]).

Davon abgesehen hat der Senat in der Entscheidung 2 Ob 112/15g die mit dem VersRÄG 2013 vorgenommene Einschränkung der Haftung des Fachverbands als richtlinienwidrig beurteilt und selbst für Sachverhalte, die in den zeitlichen Geltungsbereich der geänderten Fassung des § 6 Abs 3 VOEG fielen, statt dieser Bestimmung Art 5 Abs 2 der 6. KH RL für unmittelbar anwendbar erklärt (idS auch 9 ObA 65/16y; 9 ObA 72/16b; RIS Justiz RS0130696).

6. Die vom Berufungsgericht angenommene authentische Interpretation liegt jedenfalls nicht vor. Anzuwenden ist das VOEG idF BGBl I 2007/37. Da das Berufungsgericht, ausgehend von seiner durch den Obersten Gerichtshof nicht gebilligten Rechtsansicht, auf die sonstigen Berufungsgründe nicht einging, ist die Aufhebung des angefochtenen Urteils unumgänglich.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

Rechtssätze
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