JudikaturJustiz2Ob54/07s

2Ob54/07s – OGH Entscheidung

Entscheidung
27. September 2007

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Baumann als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Veith, Dr. Grohmann und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Thomas W*****, *****, vertreten durch HULE BACHMAYR HEYDA NORDBERG Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. Alfred O*****, 2. G***** Versicherung AG, ***** beide vertreten durch Dr. Karl Stockreiter, Rechtsanwalt in Wien, wegen EUR 44.154,61 sA und Feststellung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Teil und Zwischenurteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht vom 12. Jänner 2007, GZ 13 R 220/06b 19, womit das Teil und Zwischenurteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 18. August 2006, GZ 3 Cg 90/06m 15, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichtes wird einschließlich der in Rechtskraft erwachsenen Teile als Teil und Zwischenurteil abgeändert, sodass es lautet:

„Das Klagebegehren, die beklagten Parteien seien zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei EUR 43.600 samt 4 % Zinsen seit 7. 7. 2004 zu bezahlen, besteht dem Grunde nach zur Hälfte zu Recht.

Das Teilbegehren, die beklagten Parteien seien zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei EUR 21.800 samt 4 % Zinsen seit 7. 7. 2004 zu bezahlen, wird abgewiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten."

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe :

Am 7. 7. 2004 ereignete sich in Wien 17 auf der Kreuzung der Hernalser Hauptstraße mit der Güpferlingstraße und der Dornbacher Straße ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger mit einem von ihm gelenkten und gehaltenen Motorrad und der Erstbeklagte als Lenker eines bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW beteiligt waren.

Der Kläger fuhr auf der Dornbacher Straße auf seinem Motorrad stadteinwärts und beabsichtigte die Kreuzung mit der Güpferlingstraße in gerader Fahrtrichtung zu übersetzen. Der Erstbeklagte fuhr in der Nebenfahrbahn der Hernalser Hauptstraße stadtauswärts und beabsichtigte, nach links in Richtung Güpferlingstraße einzubiegen.

Die Dornbacher Straße weist in Fahrtrichtung des Klägers zwei Fahrstreifen auf. Der linke Fahrstreifen ist als Geradeausfahrstreifen gekennzeichnet, der rechte Fahrstreifen als Rechtsabbiegestreifen in die Güpferlingstraße.

Wenn die Ampel in Fahrtrichtung des Erstbeklagten auf Grün schaltet, haben die Fahrzeuge in Fahrtrichtung des Klägers, egal ob sie geradeaus fahren oder nach rechts abbiegen, noch Rotlicht. Erst 17 bzw 22 Sekunden nachdem die Ampel für den Erstbeklagten auf Grün schaltet, erhalten sie Grünlicht.

Der Erstbeklagte fuhr bei Grünlicht aus der Nebenfahrbahn kommend in die Kreuzung ein und bog nach links in die Güpferlingstraße ab. Dabei achtete er nicht auf den entgegenkommenden Geradeausverkehr, weil er die Ampelschaltung kannte und damit rechnete, dass der Gegenverkehr noch Rot habe.

Der Kläger näherte sich der Kreuzung, vor der im Geradeausfahrstreifen zwei oder drei Autos vor einer Straßenbahn standen. Er fuhr rechts an der angehaltenen Straßenbahn langsam mit etwa 10 km/h vorbei und beschleunigte sein Motorrad in dem Moment, als er sah, dass die Ampel auf Grün umschaltete. Dabei befand er sich im linken Bereich der rechten Abbiegespur knapp neben der Sperrlinie zwischen dem rechten und dem linken Fahrstreifen im Bereich der Straßenbahnfront und beschleunigte sein Fahrzeug vor der Kollision auf 40 bis 50 km/h. Er hielt eine gerade Fahrlinie ein und beschleunigte, als er das nach links abbiegende Fahrzeug des Erstbeklagten wahrnahm. Er konnte die Kollision aber nicht verhindern und hätte sie auch bei einer Vollbremsung nicht verhindern können. Der Kläger fuhr bei Grünlicht in die Kreuzung ein. Der Erstbeklagte hätte bei einem Blick nach rechts das Motorrad wahrnehmen können; bei einer Reaktion des Erstbeklagten auf das Motorrad wäre es nicht zur Kollision gekommen.

Der Kläger wurde beim Unfall verletzt und begehrt Schmerzengeld sowie Schadenersatz für Verdienstentgang, Kosten der Privatbeteiligung im Strafverfahren und den Schaden am Motorrad sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle zukünftigen auf den Unfall zurückführenden Schäden.

Er brachte vor, der Erstbeklagte habe als von einer Nebenfahrbahn kommender in die Kreuzung einfahrender Linksabbieger den Vorrang des bei grün in die Kreuzung einfahrenden Klägers verletzt und überdies verspätet reagiert, weshalb ihn das Alleinverschulden treffe. Überdies hafteten die Beklagten auch nach dem EKHG.

Die Beklagten wendeten ein, der Kläger sei aus dem Rechtsabbiegestreifen bei Rotlicht in die Kreuzung eingefahren und daher nicht bevorrangt gewesen. Das Alleinverschulden treffe den Kläger.

Das Erstgericht sprach mit Teil und Zwischenurteil aus, das geltend gemachte Leistungsbegehren bestehe dem Grunde nach zu Recht. Der Erstbeklagte habe den Vorrang des Klägers verletzt und auch die im Verkehr gebotene zumutbare Sorgfalt beim Einfahren und Verlassen des Kreuzungsbereiches missachtet und somit den Unfall rechtswidrig und schuldhaft verursacht. Hinsichtlich des Verstoßes des Klägers gegen § 9 Abs 6 StVO mangle es sowohl an der Kausalität des Fehlverhaltens für den Schaden als auch am Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der übertretenen Norm und dem Schadenseintritt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge und sprach aus, das Leistungsbegehren bestehe dem Grunde nach mit einem Viertel zu Recht. Im Betrag von EUR 32.700 samt Zinsen wies es das Klagebegehren ab. Die Erstbeklagte sei doppelt, nämlich einerseits als Linksabbieger gegenüber den entgegenkommenden geradeaus fahrenden Fahrzeugen, andererseits aus der Nebenfahrbahn kommend, gemäß § 38 Abs 4 Satz 4 und 5 StVO benachrangt. Die Vorrangregel gemäß § 38 Abs 4 Satz 4 StVO gelte ohne Unterschied, ob die entgegenkommenden Fahrzeuge zu Recht oder zu Unrecht in die Kreuzung eingefahren seien. Die Annahme eines Vorranges habe allerdings zur Voraussetzung, dass der betreffende Verkehrsteilnehmer die Möglichkeit zum zulässigen Weiterfahren habe. Der auf dem Rechtsabbiegestreifen fahrende Kläger hätte nach rechts einbiegen müssen und habe durch seine Geradeausfahrt gegen § 9 Abs 6 StVO verstoßen und sei überdies „flott" in die Kreuzung eingefahren, obwohl er sich im Rechtsabbiegestreifen befunden habe. Er habe sich daher grob verkehrswidrig verhalten. Der Oberste Gerichtshof habe in ZVR 1992/62 in einem vergleichbaren Fall auf einer nicht ampelgeregelten Kreuzung ausgesprochen, das Alleinverschulden an der Kollision zwischen einem im Rechtsabbiegestreifen die Kreuzung Geradeausübersetzenden mit einem entgegenkommenden Linksabbieger treffe den Geradeausfahrenden. Dem Erstbeklagten sei jedoch ein für das Unfallgeschehen kausaler Aufmerksamkeits bzw Reaktionsfehler vorwerfbar. Sein Verschulden liege darin, dass er gar nicht auf den Geradeausverkehr geachtet habe, weil er jederzeit mit dem Losfahren der im Geradeausfahrstreifen stehenden Fahrzeuge habe rechnen müssen. Eine Verschuldensteilung von 3 : 1 zu Lasten des Klägers sei angemessen.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision nicht zu, weil es sich um eine Verschuldensteilung im Einzelfall handle.

Gegen den klagsabweisenden Teil des Berufungsurteiles richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer gänzlichen Klagsstattgebung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Beklagten, denen die Beantwortung der Revision freigestellt wurde, beantragen in der Revisionsbeantwortung, die Revision nicht zuzulassen bzw ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und teilweise auch berechtigt.

Gemäß § 38 Abs 4 Satz 4 StVO ist beim Einbiegen nach links den entgegenkommenden geradeausfahrenden sowie den entgegenkommenden nach rechts einbiegenden Fahrzeugen der Vorrang zu geben. Gemäß Satz 5 der Bestimmung haben Fahrzeuge, die von Hauptfahrbahnen kommen, den Vorrang gegenüber Fahrzeugen, die aus Nebenfahrbahnen kommen.

Der Erstbeklagte war daher gegenüber dem Kläger jedenfalls benachrangt.

Nach ständiger Rechtsprechung geht der Vorrang durch Übertreten von Verkehrsvorschriften nicht verloren (RIS Justiz RS0074976).

Von dem vom Berufungsgericht herangezogenen Fall 2 Ob 44/91 = ZVR 1992/62 unterscheidet sich der vorliegende Fall dadurch, dass dort die linksabbiegende Erstbeklagte den entgegenkommenden geradeausfahrenden Kläger vor der Kollision wahrnahm und sie daher gemäß § 3 StVO darauf vertrauen durfte, der Kläger werde rechts abbiegen. Hier hingegen hat der Erstbeklagte mangels (rechtzeitiger) Wahrnehmung des Klägers nicht auf dessen vorschriftsmäßiges Fahren vertraut. Dem Erstbeklagten kommt daher der Vertrauensgrundsatz insoweit nicht zustatten, weil dieser nicht in Bezug auf nicht wahrgenommene Verkehrsteilnehmer gilt und auch nicht demjenigen zugutekommt, der seinerseits nicht jene Vorsicht anwendet, die von ihm im Interesse der Sicherheit des Verkehrs erwartet wird (RIS Justiz RS0073146).

Zur Vorrangverletzung durch den Erstbeklagten, die nach ständiger Rechtsprechung an sich schwer wiegt (auch im Bereich des § 38 StVO, vgl jüngst 2 Ob 35/06w = RIS Justiz RS0026775 [T55]), kommt auch seine unfallkausale Unaufmerksamkeit als weiteres Verschuldenselement.

Der Kläger hat gegen § 9 Abs 6 StVO verstoßen. Primärer Zweck dieser Bestimmung ist es, eine Behinderung des Verkehrs insbesondere auf Straßen zu vermeiden, auf denen etwa durch Spurensignalisation (§ 39 Abs 2 StVO) eine für einzelne Fahrstreifen gesonderte Verkehrsregelung erfolgt (ZVR 1980/286 = RIS Justiz RS0073484; vgl Pürstl/Somereder, StVO11 § 9 Anm 15). Darüber hinaus dient die Bestimmung vor allem dem sicheren und klar erkennbaren Einordnen (§ 12 StVO) und damit der Unfallvermeidung im Zuge von Einbiegevorgängen (Dittrich/Stolzlechner, StVO § 9 Rz 64), also überhaupt der Ordnung der Verkehrsströme. Nach Ansicht des erkennenden Senates fällt auch der linksabbiegende Gegenverkehr in den Schutzbereich des § 9 Abs 6 StVO (implizit so schon 2 Ob 44/91 = ZVR 1992/62). Wenngleich hier der Erstbeklagte in der insoweit irrigen Ansicht, für den Gegenverkehr gelte noch das Rotlicht, diesen nicht beachtet hat, durfte er dennoch darauf vertrauen, dass aus dem Rechtsabbiegestreifen der Gegenfahrbahn keine geradeausfahrenden Fahrzeuge mit der überdies relativ hohen Geschwindigkeit des Motorrades des Klägers (40 bis 50 km/h, eine Geschwindigkeit, die beim Abbiegevorgang kaum eingehalten werden könnte) kommen würden. Der Rechtswidrigkeitszusammenhang ist daher im vorliegenden Fall zu bejahen, wobei dem Kläger sein Verstoß gegen § 9 Abs 6 StVO auch vorwerfbar ist.

Wie schon das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, fällt dem Kläger weiters sein unvorsichtiger „fliegender Start" als Mitverschulden zur Last (vgl RIS Justiz RS0075003, RS0074998, RS0075080).

Soweit sich der Kläger auf § 12 Abs 5 StVO („Vorschlängeln") stützen will, ist ihm entgegenzuhalten, dass diese Bestimmung nicht die Missachtung von § 9 Abs 6 StVO erlaubt.

Darauf, dass bei rechtmäßigem Alternativverhalten des Klägers der Unfall genauso passiert wäre, kann sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen: Entgegen seiner Ansicht hätte das rechtmäßige Alternativverhalten nicht darin bestanden, vor der Kreuzung im Geradeausfahrstreifen zu fahren (das wäre wegen der dort angehaltenen PKWs und der Straßenbahn nicht möglich gewesen), sondern vom Rechtsabbiegestreifen aus nach rechts einzubiegen. Dass dann der Unfall genauso passiert wäre, hat der Kläger nicht vorgebracht und steht auch nicht fest.

Bei Berücksichtigung dieser beiderseitigen Verschuldenselemente erscheint dem erkennenden Senat eine Verschuldensteilung von 1 : 1 angemessen.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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