JudikaturJustiz2Ob12/88

2Ob12/88 – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. Juni 1988

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Melber und Dr. Kropfitsch als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dipl.Ing. Ulrich L***, Beamter, Einsiedeleigasse 14/1/3, 1130 Wien, vertreten durch Dr. Herbert Neuhauser, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagten Parteien 1) Gottfried R***, Angestellter, Hütteldorferstraße 265/1, 1140 Wien, und 2) I*** U***- UND S*** AG,

p. Adr. Ghegastraße 3, 1030 Wien, beide vertreten durch Dr. Günther Steiner, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 19.063,-- sA, infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgerichtes vom 3. Juni 1987, GZ 42 R 325/87-48a, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Hietzing vom 12. Jänner 1987, GZ 6 C 48/87-39, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit S 2.656,19 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin Umsatzsteuer von S 241,47, keine Barauslagen) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Begründung:

Am 10. März 1984 ereignete sich im 13. Wiener Gemeindebezirk im Bereich der Kreuzung Diabelligasse - Glasauergasse ein Verkehrsunfall, an dem Mag. Gerda L*** als Lenkerin des PKW des Klägers mit dem Kennzeichen W 410.480 und der Erstbeklagte als Halter und Lenker des PKW mit dem Kennzeichen W 436.683 beteiligt waren. Die Zweitbeklagte ist der Haftpflichtversicherer des letztgenannten Kraftfahrzeuges. Die beiden Fahrzeuge stießen zusammen und wurden beschädigt; Personenschaden trat nicht ein. Ein gerichtliches Strafverfahren fand nach der Aktenlage gegen keinen der beiden beteiligten Lenker statt.

Im vorliegenden Rechtsstreit begehrte der Kläger mit seiner am 26. Februar 1985 eingebrachten Klage aus dem Rechtsgrund des Schadenersatzes aus diesem Verkehrsunfall die Verurteilung der Beklagten zur ungeteilten Hand zur Zahlung von S 19.063,-- sA. Der Höhe nach ist das Klagebegehren nicht strittig. Dem Grunde nach stützte der Kläger sein Begehren im wesentlichen auf die Behauptung, daß den Erstbeklagten das Alleinverschulden an diesem Verkehrsunfall treffe, weil er den dem Fahrzeug des Klägers zukommenden Rechtsvorrang mißachtet habe.

Die Beklagten wendeten dem Grunde nach im wesentlichen ein, daß das Alleinverschulden an diesem Verkehrsunfall die Lenkerin des PKW des Klägers treffe. Diese habe sich mit dem von ihr gelenkten Fahrzeug in der Diabelligasse der Kreuzung genähert, wobei sie so weit links gefahren sei, daß sie sich mit mehr als der Hälfte des Fahrzeuges auf der Gegenfahrbahn befunden habe. Der Erstbeklagte habe beabsichtigt, aus der Glasauergasse nach rechts in die Diabelligasse einzubiegen. Als er sich bereits in der Diabelligasse auf seinem Fahrstreifen befunden habe, habe er das auf seiner Fahrbahnseite entgegenkommende Fahrzeug des Klägers wahrgenommen und seinen PKW sofort angehalten. Die Lenkerin des Fahrzeuges des Klägers sei gegen den bereits stehenden PKW des Erstbeklagten gefahren.

Schließlich wendeten die Beklagten eine Schadenersatzforderung des Erstbeklagten aus diesem Verkehrsunfall in der Höhe von S 19.300,-- aufrechnungsweise gegen die Klagsforderung ein. Der Höhe nach ist auch diese Gegenforderung nicht mehr strittig. Das Erstgericht entschied, daß die Klagsforderung mit S 6.354,33 zu Recht besteht und daß die eingewendete Gegenforderung bis zu dieser Höhe zu Recht besteht; es wies daher das Klagebegehren ab. Das Erstgericht stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Zur Unfallszeit waren die Fahrbahnen trocken; es herrschte Tageslicht. Die Kreuzung Diabelligasse - Glasauergasse ist trichterförmig. Die Diabelligasse, auf der sich der PKW des Klägers der Kreuzung näherte, weist ein Gefälle von 2 % auf und ist 7,7 m breit. Zur Unfallszeit war sie beidseitig verparkt, sodaß, ausgehend von einer Verparkungsbreite von knapp 2 m auf jeder Seite, die Fahrbahn nur mehr knapp unter 4 m breit war. Auf der linken Seite der Diabelligasse - Ecke Glasauergasse - befand sich eine Holzplakatwand, die die Sicht der beiden beteiligten Lenker behinderte. Die "zulässige Höchstgeschwindigkeit, mit der diese Kreuzung zu passieren wäre", beträgt etwa 21 bis 24 km/h. Die Lenkerin des PKW des Klägers näherte sich der Kreuzung mit 30 km/h, wobei sie einen Seitenabstand von 0,8 m zu den rechts parkenden Fahrzeugen einhielt. Dabei überfuhr sie mit dem von ihr gelenkten 1,61 m breiten Fahrzeug die theoretische Fahrbahnmitte um 0,4 m. 13,7 m vor dem Kollisionspunkt führte sie eine Notbremsung durch, konnte den Zusammenstoß aber nicht mehr verhindern. Der Erstbeklagte kam von der Glasauergasse mit einer Geschwindigkeit von 20 bis 25 km/h. Die Glasauergasse ist in Anfahrtsrichtung des Erstbeklagten 10 m breit. Im Zuge des Einfahrens in die Diabelligasse hatte der Erstbeklagte 9,2 m vor dem Kollisionspunkt Sicht auf das Fahrzeug des Klägers und führte eine Notbremsung durch. Dabei rutschte das Fahrzeug mit blockierten Rädern tangential aus der Kurve. In der Kontaktstellung ragte das Fahrzeug des Erstbeklagten mit der linken vorderen Ecke über die theoretische Fahrbahnmitte in die Gegenfahrbahn hinein. Das Fahrzeug des Klägers überragte in seiner Endstellung in der gesamten Fahrzeuglänge die theoretische Fahrbahnmitte.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt im wesentlichen dahin, daß beide am Unfall beteiligte Fahrzeuglenker ein Verschulden treffe. Zwar habe sich die Lenkerin des PKW des Klägers dem Erstbeklagten gegenüber im Vorrang befunden, doch sei sie über die Fahrbahnmitte geraten und habe überdies eine für die Straßenverhältnisse relativ überhöhte Geschwindigkeit eingehalten. Auch der Erstbeklagte sei zu schnell gefahren. Es sei eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten des Klägers gerechtfertigt.

Der gegen diese Entscheidung gerichteten Berufung des Klägers gab das Berufungsgericht mit dem angefochtenen Urteil Folge. Es änderte die Entscheidung des Erstgerichtes dahin ab, daß es die Klagsforderung mit S 19.063,-- als zu Recht bestehend, die eingewendete Gegenforderung hingegen als nicht zu Recht bestehend erkannte; es verurteilte daher die Beklagten zur ungeteilten Hand zur Zahlung von S 19.063,-- sA. Das Berufungsgericht sprach aus, daß gegen sein Urteil die Revision zulässig sei.

Das Berufungsgericht führte im wesentlichen aus, es sei auf Grund der unbestritten gebliebenen unbedenklichen Skizze, die der Sachverständige S*** nach fotogrammetrischer Auswertung der vorliegenden Lichtbilder von der Unfallstelle angefertigt habe, davon auszugehen, daß die Kontaktstelle selbst bereits außerhalb der Kreuzung der Glasauergasse mit der Diabelligasse gelegen sei. Der Erstbeklagte habe aber mit seinem PKW die Kreuzung noch nicht verlassen gehabt, sondern zur Fahrbahnlängsachse der Diabelligasse einen Winkel von noch zumindest 30 Grad eingehalten. Der Beginn bzw das Ende der Kreuzung liege dort, wo die Ausweitung des Mündungstrichters der Diabelligasse beginne bzw ende. Von einer Vorrangverletzung könne erst dann keine Rede mehr sein, wenn der an sich Benachrangte die Kreuzung verlassen habe; zumindest bis zu diesem Zeitpunkt müsse von einer Vorrangverletzung ausgegangen werden.

Derjenige, der sich einer Kreuzung nähere, an der ihm der Vorrang gebühre, sei nicht genötigt, auf halbe Sicht zu fahren, weil er mit einem aus einer Querstraße kommenden Verkehr, der erst in der Folge zum Begegnungsverkehr werde, zu einem Zeitpunkt nicht mehr rechnen müsse, in dem die Einstellung auf diesen späteren Begegnungsverkehr nur mit Gefahr oder Behinderung bewerkstelligt werden könne.

Dem Erstbeklagten liege unter den gegebenen Umständen eine Vorrangverletzung zur Last. Werfe man ihm eine solche nicht vor, dann wäre ihm eine unzulässige (weil die Lenkerin des Fahrzeuges des Klägers gefährdende bzw behindernde) Fahrtrichtungsänderung zur Last zu legen. Da die Lenkerin des PKW des Klägers nicht verpflichtet gewesen sei, auf halbe Sicht zu fahren, sei ihre Geschwindigkeit von 30 km/h nicht als überhöht anzusehen. Zu prüfen bleibe, ob ihr ein Verstoß gegen § 7 StVO vorzuwerfen sei. Dem Umstand, daß sie zu den rechts geparkten Fahrzeugen einen Seitenabstand von 0,8 m eingehalten habe und deshalb um etwa 0,4 m über die Mitte der Fahrbahn gelangt sei, komme keine für die Verschuldensabwägung entscheidende Bedeutung zu. Ein Seitenabstand von 0,8 m sei bei einer Geschwindigkeit im Bereich von 30 km/h durchaus angemessen. Solange kein Gegenverkehr geherrscht habe, sei sie nicht genötigt gewesen, ihre Fahrgeschwindigkeit drastisch zu vermindern und den Seitenabstand nach rechts deutlich herabzusetzen.

Das Alleinverschulden an diesem Verkehrsunfall treffe daher den Erstbeklagten.

Seinen Ausspruch über die Zulässigkeit der Revision nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO begründete das Berufungsgericht damit, daß es in seiner Entscheidung von Grundsätzen abgegangen sei, die für die in ZVR 1976/342 veröffentlichte oberstgerichtliche Entscheidung maßgebend gewesen seien.

Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der Beklagten. Sie bekämpfen sie aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichtes abzuändern; hilfsweise stellen sie einen Aufhebungsantrag.

Der Kläger hat eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag erstattet, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, allenfalls ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen der in der Revisionsbeantwortung des Klägers vertretenen Rechtsmeinung ist die Revision nicht nach § 502 Abs 2 Z 2 ZPO unzulässig. Denn der Beschwerdegegenstand übersteigt, da das Erstgericht das auf Zahlung von S 19.063,-- sA gerichtete Klagebegehren abwies, das Berufungsgericht diesem Klagebegehren stattgab und die Beklagten die Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichtes anstreben, sehr wohl den Betrag von S 15.000,--. Wohl aber macht der Kläger in seiner Revisionsbeantwortung zutreffend geltend, daß die Revision nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO unzulässig ist.

Gemäß § 508 a Abs 1 ZPO ist das Revisionsgericht an einen Ausspruch des Berufungsgerichtes nach § 500 Abs 3 ZPO nicht gebunden.

Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes gehört zum Kreuzungsbereich die gesamte innerhalb eines Mündungstrichters gelegene Fläche; der Kreuzungsbereich beginnt dort, wo die durch die Einmündung bedingte Verbreiterung der Straße deutlich sichtbar wird (ZVR 1974/123; ZVR 1984/27; ZVR 1985/185; ZVR 1987/121 uva). Durch § 19 Abs 7 StVO soll sichergestellt werden, daß der Wartepflichtige nicht nur durch den Beginn seines die Fahrweise des Vorrangberechtigten allenfalls beeinträchtigenden Fahrmanövers (Kreuzen, Einbiegen oder Einordnen), sondern durch die Durchführung dieses Fahrmanövers bis zu seiner Beendigung den Vorrangberechtigten nicht in der in dieser Gesetzesstelle dargestellten Weise behindern, also zu unvermitteltem Bremsen oder zum Ablenken seines Fahrzeuges nötigen darf (ZVR 1979/244; ZVR 1983/51; ZVR 1984/134; ZVR 1987/67 uva). Hat ein Wartepflichtiger einen Vorrangberechtigten in der im § 19 Abs 7 StVO dargestellten Weise behindert, kommt es nicht entscheidend darauf an, ob der Zusammenstoß der beiden beteiligten Fahrzeuge noch innerhalb oder schon außerhalb des Kreuzungsbereiches erfolgt (ZVR 1980/42; ZVR 1982/238; ZVR 1984/310; ZVR 1985/154 uva). Bei schlechten Sichtverhältnissen ist der im Nachrang befindliche Kraftfahrer verpflichtet, an einer Kreuzung seine Geschwindigkeit bis zu einem "Vortasten" (langsames etappenweises Vorrollen des Fahrzeuges bis zur Erlangung der erforderlichen Sicht) herabzumindern, um den Vorrang eines von rechts kommenden Fahrzeuges wahren zu können (ZVR 1978/279; ZVR 1979/65; ZVR 1987/34; ZVR 1987/66 uva). Hingegen ist der im Vorrang befindliche Verkehrsteilnehmer nicht verpflichtet, seine zulässige Geschwindigkeit allein wegen der Annäherung an eine Kreuzung mit einer Straße ohne Vorrang oder deswegen herabzusetzen, weil diese Querstraße schlecht einzusehen ist (ZVR 1979/64; ZVR 1984/204; ZVR 1985/41; ZVR 1985/76 uva). Das aus § 20 Abs 1 StVO unter bestimmten Umständen abzuleitende Gebot des Fahrens auf halbe Sicht dient dem Schutz auf der Fahrbahn der gleichen Straße entgegenkommender Verkehrsteilnehmer; es gilt gegenüber dem Begegnungsverkehr, nicht dem kreuzenden Verkehr (8 Ob 69/81; ZVR 1984/200).

Die Anwendung dieser in ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes vertretenen rechtlichen Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt die sachliche Richtigkeit der Entscheidung des Berufungsgerichtes.

Der PKW des Erstbeklagten hatte nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen (deren Zustandekommen ungerügt blieb) den Kreuzungsbereich im Augenblick der Kollision noch nicht verlassen; es kann daher, auch wenn der Zusammenstoß selbst knapp außerhalb des Kreuzungsbereiches erfolgte, keinem Zweifel unterliegen, daß dem Erstbeklagten eine Verletzung des dem Fahrzeug des Klägers zukommenden Rechtsvorranges (§ 19 Abs 1 StVO) anzulasten ist. Es mag durchaus zutreffen, daß die Lenkerin des PKW des Klägers unter den festgestellten Umständen (beiderseitige Verparkung der Diabelligasse) zum Fahren auf halbe Sicht verpflichtet war. Dabei handelt es sich aber einerseits um keine Schutzvorschrift zu Gunsten des Benachrangten, in die Diabelligasse einbiegenden Erstbeklagten und andererseits steht gar nicht fest, daß die Lenkerin des PKW des Klägers bei der von ihr eingehaltenen Fahrgeschwindigkeit von 30 km/h nicht die Möglichkeit gehabt hätte, ihr Fahrzeug innerhalb der halben Sichtstrecke (auf die Fahrbahn der Diabelligasse) anzuhalten. Auch eine Reaktionsverspätung der Lenkerin des PKW des Klägers auf das verkehrsordnungswidrige Verhalten des Erstbeklagten (nachdem es für sie erkennbar wurde) ergibt sich aus den Feststellungen der Vorinstanzen nicht. Der von ihr eingehaltene Seitenabstand zu den rechts geparkten Kraftfahrzeugen ist nicht zu beanstanden.

Die Entscheidung des Berufungsgerichtes steht somit durchaus im Einklang mit den oben dargestellten in ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes vertretenen rechtlichen Grundsätzen. Die Revisionsausführungen bieten keinen Anlaß, ihre Richtigkeit in Zweifel zu ziehen.

Mangels Vorliegens der im § 502 Abs 4 Z 1 ZPO normierten Voraussetzungen war daher die vorliegende Revision der Beklagten als unzulässig zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

Rechtssätze
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