JudikaturJustiz15Os99/20b

15Os99/20b – OGH Entscheidung

Entscheidung
04. November 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 4. November 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in der Strafsache gegen S***** A***** wegen des Verbrechens des räuberischen Diebstahls nach §§ 127, 131 erster Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 13. Mai 2020, GZ 37 Hv 18/20m 90, ferner über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den unter einem gefassten Beschluss auf Absehen vom Widerruf einer bedingten Strafnachsicht nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGH Geo 2019) den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen und die Beschwerde werden die Akten dem Oberlandesgericht Innsbruck zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde S***** A***** mehrerer Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (I./1./), § 83 Abs 2 StGB (I./2./) und §§ 15, 83 Abs 1 StGB (I./3./), der Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und Abs 2 [erster Fall] StGB (II./), der Vergehen der Nötigung nach §§ 105 Abs 1, 15 StGB (III./1./ bis 3./), des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (IV.), des Verbrechens des räuberischen Diebstahls nach [richtig:] §§ 127, 131 erster Fall StGB (V./1./, 3./ und 4./) und [vgl aber RIS Justiz RS0114927] des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB (V./2./ und 5./) schuldig erkannt.

Danach hat er – soweit für das Nichtigkeitsverfahren relevant –

I./ am 21. September 2018 in J***** Nachgenannte am Körper verletzt (1./), zu verletzen versucht (3./) sowie misshandelt und dadurch fahrlässig am Körper verletzt (2./),

1./ Sa***** A***** dadurch, dass er ihr einen Faustschlag in die linke Gesichtshälfte und sodann einen kräftigen Stoß gegen den Hinterkopf versetzte, wodurch sie zu Sturz kam und Prellungen der linken Hüfte und des linken Oberarms, ein Hämatom an der linken Augenbraue sowie über den körperlichen Angriff hinaus andauernde Kopfschmerzen erlitt;

2./ M***** S*****, indem er ihm einen heftigen Stoß gegen den Oberkörper versetzte, wodurch dieser zu Sturz kam und Abschürfungen an beiden Knien erlitt;

3./ den am Boden liegenden M***** S***** durch das Versetzen mehrerer Faustschläge gegen den Kopf, den dieser jedoch mit seinen Händen schützte;

II./ am 21. September 2018 in J***** Sa***** A***** und M***** S***** durch die an beide gerichtete Äußerung: „Eines verspreche ich euch, ich bringe euch beide um!“, während er je einen Arm um deren Hals legte und sie gegen ein Garagentor drückte, gefährlich mit dem Tod bedroht, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen;

III./ am 11. April 2019 in J***** Nachgenannte mit Gewalt zu folgenden Duldungen genötigt bzw zu nötigen versucht:

1./ A***** L***** durch Entreißen seines auf dem Arm gehaltenen zweijährigen Enkels P***** L***** zur Herausgabe des Kindes (US 9);

2./ außer zeitlicher Konnexität zu Punkt 1./ A***** L***** durch den wiederholten Versuch, das Kind zu erfassen, zur Duldung des Entreißens seines auf dem Arm gehaltenen zweijährigen Enkels P***** L*****;

3./ An***** L*****, A***** L***** und F***** W***** durch den Versuch, den von An***** L***** auf ihrem Arm gehaltenen zweijährigen Sohn P***** L***** zu erfassen, wobei er A***** L***** und F***** W*****, die ihm den Weg verstellten, beiseite stieß bzw A***** L***** am Oberkörper umklammerte, zur Duldung des Entreißens des Kindes;

IV./ …

V./ in I***** fremde bewegliche Sachen Nachgenannten mit dem Vorsatz weggenommen, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wobei er teilweise (Punkt 1./, 3./ und 4./) bei seiner Betretung auf frischer Tat Gewalt gegen Personen anwendete, um sich die weggenommenen Sachen zu erhalten,

1./ am 20. September 2019 Gewahrsamsträgern der Tabak-Trafik in der ***** drei Stangen Marlboro-Zigaretten und zwei Dosen Pueblo-Tabak im Gesamtwert von 202,60 Euro, wobei er, nachdem der ihn verfolgende M***** Al***** die Einkaufstasche erfasst hatte, an dieser bis zum Eintreffen der Polizei mehrere Minuten lang heftig zerrte;

2./ am 28. September 2019 Gewahrsamsträgern des Geschäfts G***** ein Zelt im Wert von 279,95 Euro;

3./ am 7. Oktober 2019 Gewahrsamsträgern der Trafik „Dr. Gs*****“ eine Stange Parisienne-Zigaretten im Wert von 50 Euro, wobei er sich aus dem Griff der Mag. A***** K*****, die ihn am rechten Arm erfasste und anzuhalten versuchte, losriss und flüchtete;

4./ am 8. Oktober 2019 Gewahrsamsträgern des M***** Markts ***** Waren im Wert von 30,03 Euro, wobei er von H***** U***** bei der Tat beobachtet wurde und, als dieser ihn anzuhalten versuchte, mehrere Faustschläge in dessen Richtung andeutete, weiters indem er an der mittlerweile von S***** Ka***** ergriffenen Einkaufstasche zerrte, wiederholt dessen rechtes Handgelenk erfasste und in Richtung dessen Schienbein trat;

5./ am 8. Oktober 2019 Gewahrsamsträgern des H***** Markts ***** Waren unerhobenen Werts;

VI./ …

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 5, 9 lit b und 10 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der keine Berechtigung zukommt.

Indem die Mängelrüge zu I./1./ kritisiert , es sei undeutlich und widersprüchlich geblieben (Z 5 erster und dritter Fall), ob der Angeklagte Sa***** A***** – über das Versetzen eines Faustschlags ins Gesicht hinaus – auch einen Stoß gegen den Hinterkopf versetzt oder aber mit dem Kopf gegen eine Mauer gestoßen habe, bezieht sie sich nicht auf eine entscheidende Tatsache (vgl RIS Justiz RS0099594), weil der Wegfall oder das Hinzukommen einer einzelnen Tatmodalität – hier einer weiteren dem Opfer im Zuge eines inkriminierten Angriffs zugefügten Tätlichkeit – keinen für die Schuld- und Subsumtionsfrage relevant en Aspekt betrifft (RIS Justiz RS0117264).

Soweit die Beschwerde zu I./2./ und 3./ eine Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) darin erblickt, dass die Aussage des Angeklagten unter Hinweis auf die (für nachvollziehbar eingestuften; US 14) Depositionen der Zeugen S***** und B***** verworfen und „nicht näher ausgeführt“ wurde, „weshalb es sich bei den Ausführungen des Angeklagten um eine reine Schutzbehauptung handeln soll“, bekämpft sie im Ergebnis nur die tatrichterliche Einschätzung von Personalbeweisen, die einer Anfechtung mittels Nichtigkeitsbeschwerde entzogen ist (RIS Justiz RS0106588). Es besteht auch keine Verpflichtung, zu jedem Detail einer – als unglaubwürdig erachteten (US 14) – Einlassung des Angeklagten Stellung zu nehmen (RIS Justiz RS0098717). D ie Aussage der Zeugin B*****, sie habe nicht gesehen, was passiert sei, als M***** S***** bereits am Boden gelegen sei, stand den erstgerichtlichen – auf die Aussage des Zeugen S***** gegründeten (US 14 zweiter Absatz) – Feststellungen nicht erörterungsbedürftig entgegen.

Zum Schuldspruch II./ reklamiert die Beschwerde einen – vermeintlich unerörtert gebliebenen (Z 5 zweiter Fall) – Widerspruch in den Schilderungen der Zeugen A***** und S***** betreffend die Art ihrer Umklammerung, kritisiert damit aber nur die eben darauf bezogene tatrichterliche Erwägung (US 15). Die insofern leugnende Verantwortung des Angeklagten blieb ebenfalls nicht unberücksichtigt, sondern wurde dargestellt, dass der Genannte die Zeugen der Lüge bezichtigte (US 19) und Widersprüche in deren Angaben ortete (US 15).

Dass das Erstgericht den zu III./2./ inkriminierten Angriff des Angeklagten auf A***** L***** „außerhalb der zeitlichen Konnexität zum ersten Entreißen“ (III./1./) einordnete (US 9), bildet – der Beschwerde zuwider – keine Undeutlichkeit der Entscheidungsgründe (Z 5 erster Fall), lassen diese doch klar erkennen, dass der Angeklagte nach seinem ersten (erfolgreichen) Angriff auf A***** L***** (I./1./) eine weitere Tathandlung in derselben Absicht gegen dasselbe Opfer (I./2./) setzte (vgl RIS Justiz RS0099425). Insofern besteht kein Zweifel darüber, dass das Erstgericht von zwei selbständigen Taten ausging. Im Übrigen hätte sich auch bei Zusammenfassung der gegen A***** L***** gesetzten Tathandlungen III./1./ und III./2./ (im Sinn einer tatbestandlichen Handlungseinheit; vgl RIS Justiz RS0122006) keine rechtsfehlerhafte Beurteilung des Urteilssachverhalts durch das Erstgericht aufgezeigt, das die zu III./1./ bis 3./ inkriminierten Sachverhalte (insgesamt) als „die Vergehen der teils versuchten, teils vollendeten Nötigung nach §§ 105 Abs 1, 15 StGB“ beurteilt hat (US 5).

Dem Einwand der Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) zuwider fand die zum Vorfall mit der Familie L***** gebotene Einlassung des Angeklagten Berücksichtigung in den Entscheidungsgründen, indem sie insgesamt als nicht nachvollziehbar eingestuft wurde (US 16).

Soweit die Rechtsrüge (Z 9 lit b) zu III./ Feststellungen „bezüglich eines Irrtums über einen rechtfertigenden Sachverhalt“ vermisst und einwendet, der Angeklagte könnte geglaubt haben, „dass das Kind, welches er wegzunehmen versucht hat, sein Sohn war“ (vgl US 16), wird kein in der Hauptverhandlung vorgekommenes Verfahrensresultat (§ 258 Abs 1 StPO) dafür aufgezeigt, dass der Angeklagte irrtümlich (§ 8 StGB) von einem unmittelbar drohenden Angriff auf ein geschütztes Rechtsgut (allenfalls des Kindes) ausgegangen sein könnte, dem nur durch einen sofortigen Zugriff zu begegnen gewesen wäre.

Die Subsumtionsrüge (Z 10) vermisst zu V./3./ Feststellungen zur Intensität der vom Angeklagten angewendeten Gewalt (vgl dazu: RIS Justiz RS0093597), verabsäumt aber darzulegen, inwieweit sich dies – trotz weiterer Gewaltanwendung (auch) anlässlich der zu V./1./ und V./4./ inkriminierten Diebstähle – auf die rechtliche Beurteilung der gemäß § 29 StGB zu bildenden Subsumtionseinheit auswirken sollte (RIS Justiz RS0120980).

Unter dem Gesichtspunkt des § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO bleibt zu bemerken, dass der vom Nichtigkeitswerber nicht aufgezeigte, in der entgegen § 29 StGB getrennten Erfassung von Diebstählen nach „§ 131 erster Fall StGB“ einerseits (V./1./, 3./ und 4./) und nach § 127 StGB anderseits (V./2./ und 5./) gelegene Subsumtionsfehler (§ 281 Abs 1 Z 10 StPO) – anstatt dem Angeklagten insofern nur ein Verbrechen des räuberisch begangenen Diebstahls nach §§ 127, 131 erster Fall StGB anzulasten (RIS Justiz RS0114927) – für eine amtswegige Maßnahme keinen Anlass bietet, zumal dies per se keinen konkreten Nachteil im Sinn der genannten Bestimmung darstellt ( Ratz , WK StPO § 290 Rz 23 f) und der erschwerenden Wertung eines Zusammentreffens von „drei Verbrechen“ mit mehreren Vergehen (US 20) im Rahmen der Berufungsentscheidung Rechnung getragen werden kann (RIS Justiz RS0090885, RS0118870).

Die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen und die Beschwerde folgt (§§ 285i, 498 Abs 3 StPO).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

Bleibt der Vollständigkeit halber klarzustellen, dass hinsichtlich des im Referat der entscheidenden Tatsachen (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) und in den Entscheidungsgründen (§ 270 Abs 2 Z 5 StPO) als erwiesen angenommenen Widerstands des Angeklagten gegen Polizeibeamte, um diese an seiner Festnahme zu hindern (US 4 [VI./] und 12 f), eine Subsumtion im Erkenntnis (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) unterblieben ist (US 5; siehe auch ON 89 S 39), sodass in Ansehung dieser Tat kein Schuldspruch ergangen, die Anklage vielmehr unerledigt geblieben und im Ergebnis ein in Rechtskraft erwachsener Freispruch erfolgt ist (RIS Justiz RS0116266 [insbes T1, T3, T4]; vgl auch Lendl , WK StPO § 259 Rz 14, § 260 Rz 7, 27).

Rechtssätze
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  • RS0122006OGH Rechtssatz

    17. April 2024·3 Entscheidungen

    Soweit in früherer Rechtsprechung unter dem Begriff des „fortgesetzten Delikts" (nach Maßgabe zuweilen geforderter, indes uneinheitlich gehandhabter weiterer Erfordernisse) mehrere den gleichen Tatbestand (ob versucht oder vollendet) erfüllende, mit einem „Gesamtvorsatz" begangene Handlungen zu einer dem Gesetz nicht bekannten rechtlichen Handlungseinheit mit der Konsequenz zusammengefasst wurden, dass durch die je für sich selbständigen gleichartigen Straftaten doch nur eine einzige strafbare Handlung begründet würde, hat der Oberste Gerichtshof diese Rechtsfigur der Sache nach bereits mit der Bejahung ihrer prozessualen Teilbarkeit durch die Grundsatzentscheidung SSt 56/88 = EvBl 1986/123 aufgegeben. Seither reduziert er deren Bedeutung auf den unverzichtbaren Kernbereich der der Rechtsfigur zugrunde liegenden Vorstellung, den er als tatbestandliche Handlungseinheit bezeichnet. In der Anerkennung des Fortsetzungszusammenhangs bloß nach Maßgabe tatbestandlicher Handlungseinheiten liegt gezielte Ablehnung einer absoluten Sicht des fortgesetzten Delikts und ein Bekenntnis zur deliktsspezifischen Konzeption. Denn der Unterschied zwischen der Rechtsfigur des fortgesetzten Delikts und der tatbestandlichen Handlungseinheit besteht darin, dass die Rechtsfigur des fortgesetzten Delikts aus dem allgemeinen Teil des materiellen Strafrechts abgeleitet wird, die der tatbestandlichen Handlungseinheit aber gleichartige Handlungen nach Maßgabe einzelner Tatbestände zusammenfasst. Die Kriterien einer Zusammenfassung können demnach durchaus deliktsspezifisch verschieden sein, ohne dass daraus das ganze Strafrechtssystem erfassende Widersprüche auftreten. Von einer tatbestandlichen Handlungseinheit spricht man im Anschluss an Jescheck/Weigend5 (711ff) bei einfacher Tatbestandsverwirklichung, also der Erfüllung der Mindestvoraussetzungen des gesetzlichen Tatbestands, insbesondere bei mehraktigen Delikten und Dauerdelikten (tatbestandliche Handlungseinheit im engeren Sinn) und dort, wo es nur um die Intensität der einheitlichen Tatausführung geht (SSt 56/88), demnach bei wiederholter Verwirklichung des gleichen Tatbestands in kurzer zeitlicher Abfolge, also bei nur quantitativer Steigerung (einheitliches Unrecht) und einheitlicher Motivationslage (einheitliche Schuld), auch wenn höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Träger verletzt werden, sowie bei fortlaufender Tatbestandsverwirklichung, also der Annäherung an den tatbestandsmäßigen Erfolg durch mehrere Einzelakte im Fall einheitlicher Tatsituation und gleicher Motivationslage, etwa beim Übergang vom Versuch zur Vollendung oder bei einem Einbruchsdiebstahl in zwei Etappen (tatbestandliche Handlungseinheit im weiteren Sinn).