JudikaturJustiz15Os137/21t

15Os137/21t – OGH Entscheidung

Entscheidung
26. Januar 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 26. Jänner 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in der Strafsache gegen * W* wegen des Verbrechens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, Abs 3a Z 1, Abs 4 zweiter Fall StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Schöffengericht vom 14. Juni 2021, GZ 35 Hv 146/19y 170, nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGH Geo 2019) den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Der Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * W* des Verbrechens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, Abs 3a Z 1, Abs 4 zweiter Fall StGB schuldig erkannt.

[2] Danach hat sie ab der ersten Jahreshälfte 2015 bis 8. Mai 2018 in P* gegen die am 19. Juni 2011 geborene, sohin unmündige * E*, welche ihrer Obhut als Pflegemutter unterstand, fortgesetzt und länger als ein Jahr durch vorsätzliches Quälen (§ 92 Abs 1 StGB) Gewalt ausgeübt, indem sie ihrem Pflegekind durch entsprechende Verhaltens und Duldungsanweisungen, welche sie auch mit Misshandlungen, wie Schlägen mit dem Schuhlöffel, und freiheitsentziehenden Maßnahmen, wie wiederholten Fesselungen an den Beinen, durchsetzte, Nahrung und Flüssigkeit in ausreichender Menge vorenthielt, sodass * E* qualvolle Hunger und Durstgefühle zu erleiden hatte und durch die mangelhafte Nahrungs und Flüssigkeitszufuhr eine deutliche Dystrophie und eine gravierende Unterernährung davontrug.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf Z 1, 4, 5 und 10 des § 281 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten, die ihr Ziel verfehl t.

[4] Mit der Besetzungsrüge (Z 1) macht die Beschwerdeführerin Ausgeschlossenheit des vorsitzenden Richters geltend. Dieser habe Belastungs und Entlastungszeugen unterschiedlich vernommen, Beweisanträge der Verteidigung „penibel und exzessiv diskutiert“ und Zeugen „ohne jeglichen diesbezüglichen Beweisantrag der Staatsanwaltschaft oder der Verteidigung ergänzend einvernommen“. Schließlich habe er am Ende der Hauptverhandlung vom 4. November 2020 – in der Rüge nicht konkretisierte – „untergriffige Bemerkungen“ gegenüber dem Verteidiger gemacht.

[5] Gemäß § 43 Abs 1 Z 3 StPO ist ein Richter vom gesamten Verfahren ausgeschlossen, wenn Gründe vorliegen, die geeignet sind, seine volle Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit in Zweifel zu ziehen. Eine Befangenheit in diesem Sinn liegt vor, wenn ein Richter an eine Rechtssache nicht mit voller Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit herantritt, somit eine Hemmung zur unparteiischen Entscheidung durch sachfremde Motive gegeben ist. Grundsätzlich reicht hiezu der Anschein der Befangenheit, wofür jedoch zureichende Anhaltspunkte gegeben sein müssen, die geeignet sind, bei einem verständig würdigenden objektiven Beurteiler die volle Unbefangenheit in Zweifel zu ziehen (RIS Justiz RS0097086). Der Umstand, dass sich eine Rechtsansicht des Richters nicht mit jener einer der Prozessparteien deckt, und die – auch durch das Treffen von Ermessensentscheidungen vorgenommene – gesetzeskonforme Erfüllung von Dienstpflichten, wie etwa die Abweisung eines Parteienantrags, sind per se nicht geeignet, die Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit des Richters in Zweifel zu ziehen (RIS Justiz RS0096914).

[6] Mit pauschaler, nicht substantiierter Kritik an der Verhandlungsführung und der (durch § 254 StPO legitimierten) Ausübung der diskretionären Gewalt durch den Vorsitzenden sowie mit der Behauptung – nicht näher konkretisierter – negativer Bemerkungen gegenüber dem Verteidiger werden keine Umstände dargetan, die geeignet wären, die Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit des Vorsitzenden in der Sache in Zweifel zu ziehen.

[7] Der Antrag „auf Durchführung eines Verbesserungsverfahrens nach § 127 Abs 3 StPO“ in Bezug auf das vom Gericht eingeholte psychologische Gutachten zur Aussagefähigkeit und -tüchtigkeit der E* (ON 99) sowie auf „Beiziehung eines zweiten Sachverständigen“ (ON 151 S 7) wurde – der Kritik der Verfahrensrüge (Z 4) zuwider – zu Recht abgewiesen.

[8] Denn zum einem wird mit der nicht näher begründeten Behauptung, das Gutachten sei „widersprüchlich oder sonst mangelhaft“, kein Mangel des Gutachtens iSd § 127 Abs 3 StPO, der Anlass für ein Verbesserungsverfahren geben könnte, aufgezeigt (vgl zu Gutachtenserstattung und erörterung ON 106 S 26 ff), zum anderen wird mit dem bloßen Einwand, der Sachverständige habe „keine Lehrbefugnis an einer in oder ausländischen Universität“, k ein Grund für die Bestellung eines weiteren Sachverständigen genannt (vgl dazu neuerlich § 127 Abs 3 StPO).

[9] Auch durch die Abweisung des Antrags auf Vernehmung der Lehrerinnen * F* und * L* „zum Widerspruch zwischen den vorgelegten schriftlichen Bestätigungen, wo auch steht, dass die * es mit der Wahrheit nicht so genau hat, und wie es dazu gekommen ist“ (ON 169 S 9), wurden Verteidigungsrechte nicht verletzt.

[10] Denn der ersichtlich auf die (Un )Glaubwürdigkeit des Opfers abzielende Antrag machte nicht klar, welche Tatsachenwahrnehmungen der Lehrerinnen einen unmittelbaren Rückschluss auf die – vom Schöffensenat zu beurteilende (RIS Justiz RS0097733) – Beweiskraft der in diesem Verfahren getroffenen Aussagen der E* zulassen würden.

[11] Entgegen der Kritik der Mängelrüge (Z 5 erster Fall) sind die Konstatierungen des Erstgerichts, wonach die Angeklagte ab 2015 ihrem Pflegekind bewusst Nahrung und Flüssigkeit vorenthielt, wobei sie diese für das Kind qualvollen und massiv gesundheitsschädigenden Nahrungs- und Flüssigkeitsbeschränkungen durch Verhaltens und Duldungsanweisungen durchsetzte, denen sie erforderlichenfalls auch durch Zufügen von körperlichen Misshandlungen und Freiheitsentziehungen Nachdruck verlieh, keineswegs undeutlich. Mit Erwägungen zu den Zeitpunkten, zur Häufigkeit und dem genauen Inhalt dieser Anweisungen kritisiert die Rüge lediglich die Beweiswürdigung des Erstgerichts nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen Berufung wegen Schuld, ohne ein Begründungsdefizit aufzeigen zu können.

[12] Die Subsumtionsrüge (Z 10) strebt zunächst eine Verurteilung nach „§ 2 in Verbindung mit § 92 Abs 1 StGB“ an. Weshalb es sich bei dem (vorsätzlichen) Vorenthalten von Nahrung und Flüssigkeit unter Anwendung von körperlichen Misshandlungen und Freiheitsentziehungen nicht um ein aktives Tun, sondern um ein Unterlassen im Sinn des § 2 StGB handeln sollte (zum „Primat des Tuns“ vgl RIS Justiz RS0089526; Hilf in WK 2 StGB § 2 Rz 24 ff), vermag die Beschwerde, die sich bei ihrer Argumentation nicht an der Gesamtheit der erstgerichtlichen Feststellungen orientiert (vgl aber RIS Justiz RS0099810), nicht aufzuzeigen.

[13] Die Kritik, selbständige Einzelhandlungen seien nicht in einem „ausreichenden Ausmaß“ festgestellt worden, erklärt nicht argumentativ aus dem Gesetz abgeleitet ( RIS Justiz RS0116565) , weshalb zur rechtsrichtigen Subsumtion (zusätzliche) Konstatierungen, „welche Handlungen die Angeklagte wann, wie lange und mit welcher Absicht gesetzt hat“, notwendig sein sollten.

[14] Gleiches gilt für den gegen die Annahme der Qualifikation des Abs 4 zweiter Fall des § 107b StGB („länger als ein Jahr“) gerichteten Einwand, es würden „nähere Feststellungen zur zeitlichen Einordnung“ fehlen. Mit Blick auf den Tatzeitraum von rund drei Jahren ist auch die allfällige Subsumtionsrelevanz des Vorbringens nicht erkennbar (vgl im Übrigen RIS Justiz RS0127378; Winkler , SbgK § 107b Rz 141; aA Schwaighofer in WK 2 StGB § 107b Rz 51).

[15] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus sich die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung ergibt (§ 285i StPO).

[16] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

Rechtssätze
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