JudikaturJustiz13Os86/23f

13Os86/23f – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. Dezember 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 20. Dezember 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz Hummel LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Richteramtsanwärterin Mag. Sekljic in der Strafsache gegen T* und andere Angeklagte wegen Verbrechen der Freiheitsentziehung nach § 99 Abs 1 und 2 zweiter Fall StGB sowie weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Schöffengericht vom 1. Juni 2023, GZ 7 Hv 20/23k 76, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin MMag. Sauter Longitsch LL.M., sowie des Verteidigers Rechtsanwalt Dr. Gratzl zu Recht erkannt:

Spruch

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in der Nichtvornahme der Subsumtion der vom jeweiligen Schuldspruch 1 umfassten Tat (auch) nach § 99 Abs 2 zweiter Fall StGB, demzufolge auch in sämtlichen Strafaussprüchen (einschließlich der Vorhaftanrechnung) aufgehoben und es wird die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Wels verwiesen.

Mit ihrer gegen den Strafausspruch gerichteten Nichtigkeitsbeschwerde und ihrer Berufung wird die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.

Den Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurden T*, A*, Ar* und L* jeweils des Vergehens der Freiheitsentziehung nach § 99 Abs 1 StGB (1), L* auch des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (2) schuldig erkannt.

[2] Danach haben in W*

1) T*, A*, Ar* und L*

vom 1. Februar 2022 bis zum 4. Februar 2022 im bewussten und gewollten Zusammenwirken Arj* widerrechtlich gefangen gehalten oder ihr auf andere Weise die persönliche Freiheit entzogen, indem sie ihr durch ständige Bewachung verwehrten, das Elternhaus zu verlassen, sie beim Versuch, das Haus doch zu verlassen, festhielten, zumindest zweimal zeitweise ihre Hände mit einem Klebeband fesselten und sie zumindest einmal mit einem Kopftuch, mit Klebeband sowie mit einer Socke knebelten und die Freiheitsentziehung aufrecht erhielten, obwohl das Opfer am 1. Februar 2022 durch die vom Schuldspruch 2 umfasste Tat eine Nasenfraktur erlitten hatte, weiters

2) L* alleine

am 1. Februar 2022 Arj* vorsätzlich (US 6) am Körper verletzt, indem sie ihr einen Schlag in das Gesicht versetzte, wodurch das Opfer eine Nasenfraktur erlitt.

[3] Nach den Entscheidungsgründen leidet Arj* an einer psychischen Erkrankung mit Wahnvorstellungen und illusionären Verkennungen, was die Angeklagten dahingehend interpretierten, dass sie „von einem Teufel oder Dämon besessen“ wäre. Um Arj* von ihrer vermeintlichen „Besessenheit“ zu heilen, spielten sie während des widerrechtlichen Gefangenhaltens wiederholt Koran-Lesungen ab (US 5).

[4] Gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen wurden die Angeklagten vom Vorwurf, sie hätten am 4. Februar 2022 Arj* mit Gewalt zu einer Duldung genötigt, „indem sie diese mit Klebeband fesselten, mit einem Kopftuch knebelten und in einen Pkw trugen um den Tatort der unter den Punkten 1. und 2. dargestellten Taten zu verlassen, und hiedurch das Vergehen der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB begangen“.

Rechtliche Beurteilung

[5] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 10 und 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft.

[6] Zutreffend zeigt die Subsumtionsrüge (Z 10) auf, dass die Konstatierungen zum Tatgeschehen die rechtliche Annahme der Qualifikation nach § 99 Abs 2 zweiter Fall StGB in objektiver Hinsicht tragen:

[7] § 99 Abs 2 zweiter Fall StGB knüpft insoweit an die Begehung der Freiheitsentziehung auf solche Weise, dass sie dem Festgehaltenen besondere Qualen bereitet. Besondere Qualen liegen vor, wenn sie zufolge ihrer außergewöhnlichen Intensität das Opfer schwer treffen oder für eine gewisse Zeitspanne einen fortdauernden Zustand einer erheblichen physischen oder psychischen Beeinträchtigung bewirken (RIS Justiz RS0092914). Der Ausdruck „besondere Qualen“ bezeichnet also starke körperliche oder seelische Schmerzen, die das Opfer nach Intensität oder Dauer außergewöhnlich schwer treffen. Auch der psychischen Verfassung und den hervorgerufenen Ängsten des Opfers in der Tatsituation kommt somit wesentliche Bedeutung zu ( Burgstaller/Schütz in WK 2 StGB § 84 Rz 91 mwN). Hieraus folgt insgesamt, dass bei der rechtlichen Beurteilung der allfälligen Verwirklichung der in Rede stehenden Qualifikationsnorm die Faktoren Intensität und Dauer einander wechselseitig beeinflussen. Je stärker der eine ausgeprägt ist, desto geringer sind die Anforderungen an den anderen (vgl auch § 99 Abs 2 erster Fall sowie RIS Justiz RS0092914 [T1]).

[8] Hievon ausgehend stellt das mehrtägige Gefangenhalten einer psychisch kranken Person, der am ersten Tag eine Nasenfraktur zugefügt wird, verbunden mit wiederholter zeitweiliger Fesselung und Knebelung (trotz gebrochener Nase) eine länger anhaltende, erhebliche physische und psychische Beeinträchtigung des Opfers dar, die in objektiver Hinsicht die Qualifikation des § 99 Abs 2 zweiter Fall StGB erfüllt.

[9] Unter Bezugnahme auf das festgestellte äußere Tatgeschehen sowie (mit Fundstelle exakt bezeichnete) Teile der Einlassung der Angeklagten zeigt die Beschwerde zu Recht dadurch indizierte, vom Erstgericht nicht getroffene Feststellungen zur subjektiven Tatseite, die eine Subsumtion unter die Qualifikation nach § 99 Abs 2 zweiter Fall StGB auch in subjektiver Hinsicht tragen würden, auf.

[10] Dieser Feststellungsmangel führte – wie auch die Generalprokuratur zutreffend darstellt – zur Aufhebung des angefochtenen Urteils wie aus dem Spruch ersichtlich (§ 288 Abs 2 StPO).

[11] Soweit die Staatsanwaltschaft hinsichtlich des vom Freispruch erfassten Teilaspekts des Tatgeschehens (idealkonkurrierend) einen Schuldspruch wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB anstrebt, ist sie hingegen nicht im Recht.

[12] Eine Nötigung (§ 105 Abs 1 StGB), mit der der Täter ausschließlich den Zweck verfolgt, des Opfers einer intendierten Freiheitsentziehung (§ 99 StGB) habhaft zu werden oder eine bereits verwirklichte Freiheitsentziehung aufrecht zu erhalten, wird – sofern sie nicht nach § 106 StGB qualifiziert ist – als „typische Begleittat“ in der Regel, und zwar dann von § 99 StGB konsumiert, wenn ihr Unwert unter Berücksichtigung der konkreten Fallgegebenheiten im Verhältnis zur Haupttat deutlich zurück bleibt (RIS Justiz RS0091710 [T1] und RS0090842 [T2]).

[13] Die von den Angeklagten angewandten Nötigungsmittel (neuerliche Fesselung und Knebelung sowie gewaltsame Verbringung der Arj* in einen PKW) dienten nach dem Urteilssachverhalt lediglich dazu, die bereits verwirklichte Freiheitsentziehung aufrecht zu erhalten und fallen unter Berücksichtigung des gesamten festgestellten Tatgeschehens fallbezogen in ihrem Unwert nicht besonders ins Gewicht. Insofern haben die Tatrichter zutreffend diese Handlungen nicht einem gesonderten Vergehen nach § 105 Abs 1 StGB unterstellt. Dass das Erstgericht diesbezüglich einen unzulässigen Subsumtionsfreispruch gefällt hat (RIS Justiz RS0115553), ist prozessual bedeutungslos (RIS Justiz RS0115553 [T5]).

[14] In diesem Umfang war die Nichtigkeitsbeschwerde somit – ebenfalls in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – zu verwerfen (§ 288 Abs 1 StPO).

[15] Mit ihrer gegen den Strafausspruch gerichteten Nichtigkeitsbeschwerde und ihrer Berufung war die Staatsanwaltschaft auf die Aufhebung des Strafausspruchs zu verweisen.

[16] Der Kostenausspruch beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

Rechtssätze
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