JudikaturJustiz13Os85/21f

13Os85/21f – OGH Entscheidung

Entscheidung
09. August 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 9. August 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel und Dr. Setz-Hummel LL.M. in der Strafsache gegen Edith E***** und andere Beschuldigte wegen Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 2, Abs 4 Z 3 SMG und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 352 HR 461/18f des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten Ing. Martin M***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 17. Juni 2021, AZ 20 Bs 155/21x (ON 502 der HR Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGH Geo 2019) zu Recht erkannt:

Spruch

Ing. Martin M***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.

Dem Bund wird der Ersatz der Beschwerdekosten von 960 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.

Text

Gründe:

[1] Das Landesgericht für Strafsachen Wien setzte mit Beschluss vom 4. Juni 2021 (ON 470) die am 23. April 2021 über Ing. Martin M***** verhängte (ON 364) und am 7. Mai 2021 fortgesetzte (ON 392) Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO erneut fort.

[2] Mit der angefochtenen Entscheidung gab das Oberlandesgericht Wien der Beschwerde des Beschuldigten Ing. M***** gegen den Beschluss vom 4. Juni 2021 nicht Folge und ordnete die Haftfortsetzung aus dem Grund des § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO an (ON 502).

[3] Dabei erachtete das Beschwerdegericht Ing. M***** dringend verdächtig, er habe in W***** und andernorts

(I) zur strafbaren Handlung des Jeton A*****, alias „Mr. Blow“, der dringend verdächtig sei, vom Jänner 2018 bis zum 23. September 2020 im Rahmen einer kriminellen Vereinigung im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit vier im angefochtenen Beschluss genannten Beschuldigten und unbekannten Personen (§ 12 erster Fall StGB) vorschriftswidrig Suchtgift in einer das 25 Fache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge, und zwar „überwiegend Kokain enthaltend den Wirkstoff Cocain, Cannabiskraut enthaltend die Wirkstoffe Delta 9 THC und THCA, und Cannabisharz enthaltend die Wirkstoffe Delta 9 THC und THCA sowie Ecstasy enthaltend den Wirkstoff MDMA“, in zumindest 5.885 Angriffen über seinen Darknet Shop und Darknet Marktplätze zahlreichen Abnehmern gewinnbringend im Postweg überlassen zu haben, in einem noch festzustellenden Zeitpunkt beigetragen (§ 12 dritter Fall StGB), indem er das Verpackungsmaterial kaufte und finanzierte sowie die Infrastruktur in Form von Fahrzeugen, Lieferadressen und Lagerräumen, die er für die Tatmittel anmietete, zur Verfügung stellte, wobei sein Vorsatz, der auf das Agieren „im Rahmen“ einer kriminellen Vereinigung und auf eine Tatbildverwirklichung in Teilmengen gerichtet war, auch die kontinuierliche Tatbegehung über einen längeren Zeitraum und den daran geknüpften Additionseffekt sowie die Überschreitung des zumindest 25 Fachen der Grenzmenge umfasste, sowie

(II) vom Herbst 2020 bis zum 20. April 2021, wenn auch nur fahrlässig, eine „Pumpgun“, somit eine verbotene Waffe (§ 17 Abs 1 Z 4 WaffG), unbefugt besessen.

[4] In rechtlicher Hinsicht subsumierte das Beschwerdegericht diese Taten dem Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 12 dritter Fall StGB, § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 2, (zweifelsfrei gemeint [vgl RIS Justiz RS0116669]) Abs 4 Z 3 SMG (I) sowie dem Vergehen nach § 50 Abs 1 Z 2 WaffG (II).

Rechtliche Beurteilung

[5] Gegen diesen Beschluss richtet sich die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten Ing. M*****.

[6] Sie wendet zu I zu Recht das Fehlen einer Sachverhaltsbasis zur Tatbegehung in Bezug auf Suchtgift in einer die Grenzmenge des § 28b SMG übersteigenden Menge ein.

[7] Setzt das Oberlandesgericht im Rahmen einer Beschwerdeentscheidung (§ 87 Abs 1 StPO) die Untersuchungshaft fort, muss es nämlich selbst Sachverhaltsannahmen zum dringenden Tatverdacht treffen, welche die rechtliche Beurteilung ermöglichen, ob durch die solcherart als sehr wahrscheinlich angenommenen Tatsachen – in objektiver wie in subjektiver Hinsicht – eine hafttragende strafbare Handlung begründet wird (RIS Justiz RS0120817 [T7]).

[8] Diesem Erfordernis wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht, indem sie sich zu I bei der Annahme der Überlassung von Suchtgift „in einer das 25 fache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge“ (durch den unmittelbaren Täter in zumindest 5.885 Angriffen) bloß auf die Bezeichnung der tatverfangenen Suchtgifte (Kokain, Cannabiskraut, Cannabisharz und Ecstasy) und deren Wirkstoffe (Cocain, Delta 9 THC, THCA, MDMA) beschränkt (BS 3) ohne deren Quantitäten (Nettogewichte) samt jeweiligem Reinheitsgehalt oder die Mengen der Reinsubstanzen der Wirkstoffe zu nennen. Damit kann schon in Bezug auf die objektive Tatseite nicht beurteilt werden, ob sich der dringende Verdacht auf eine – auch unter dem Aspekt einer Subsumtion (bloß) nach § 28a Abs 1 fünfter Fall SMG bereits hafttragende (dazu Kier in WK 2 GRBG § 2 Rz 38 mwN) – Überschreitung der Grenzmenge (§ 28b SMG iVm der Suchtgift Grenzmengenverordnung [SGV]) bezieht (RIS Justiz RS0111350, Schwaighofer in WK 2 SMG § 28b Rz 9 ff).

[9] Der bloße Hinweis auf Erhebungsergebnisse der Kriminalpolizei über teilweise sichergestellte Suchtgift-Bruttomengen und darauf basierende „Hochrechnung[en]“ zum Reinheitsgehalt und zur Reinsubstanzmenge (BS 5) vermag die erforderlichen Verdachtsannahmen nicht zu ersetzen.

[10] Dies umso mehr, als die Sachverhaltsannahmen zu den – vom Oberlandesgericht in (zusammengefasst) der Beschaffung von Verpackungsmaterial und in Logistiktätigkeiten (BS 3 ff) ersehenen – Beitragshandlungen des Ing. M*****, die betreffend die Tatzeit unbestimmt blieben („in einem […] Zeitpunkt“ [BS 3], „über einen längeren Zeitraum“ [BS 9]), nicht erkennen lassen, auf welche Suchtgiftmengen sich der Tatbeitrag bezogen haben soll.

[11] Das von der Grundrechtsbeschwerde zutreffend aufgezeigte Defizit der Sachverhaltsannahmen erfordert – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – die unverzügliche Klärung der Haftvoraussetzungen im Rahmen einer Haftverhandlung, nicht aber die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses (§ 7 Abs 1 und 2 GRBG, RIS Justiz RS0119858).

[12] Hinzugefügt sei:

[13] Die Subsumtion (hier) nach § 28a Abs 1 SMG setzt – vorliegend nicht getroffene – Sachverhaltsannahmen zu einem auf das Tatbildmerkmal der Vorschriftswidrigkeit gerichteten Vorsatz des Ing. M***** voraus (vgl RIS Justiz RS0087860 [T2] und Schwaighofer in WK 2 SMG § 27 Rz 95).

[14] Überdies fehlt es dem angefochtenen Beschluss – in objektiver und in subjektiver Hinsicht – an einer ausreichenden Sachverhaltsgrundlage für die Annahme der Qualifikation der Tatbegehung des Ing. M***** als Mitglied einer kriminellen Vereinigung nach § 28a Abs 2 Z 2 SMG. Diese setzt nämlich nach der Legaldefinition des § 278 Abs 2 StGB voraus, dass ein Zusammenschluss von mehr als zwei Personen – mit der im Tatbestand bezeichneten Ausrichtung – besteht, der auf längere Zeit ausgerichtet ist (hierzu eingehend Plöchl in WK 2 StGB § 278 Rz 4/1 ff [insb Rz 15, 18 und 35] sowie Schwaighofer in WK 2 SMG § 27 Rz 79 ff und § 28a Rz 33). Der Vorsatz des Täters muss sich auf das Bestehen einer solchen Vereinigung und auf das Handeln als deren Mitglied – mit der Intention, die Vereinigung durch sein Handeln zu unterstützen – beziehen ( Schwaighofer in WK 2 SMG § 27 Rz 82 und § 28a Rz 33). Die bloße diesbezügliche Annahme einer „personellen Verflechtung zwischen Ing. Martin M***** und weiteren Beschuldigten“ (BS 7) reicht hierzu nicht aus, jene, wonach der Vorsatz des Ing. M***** „auf das Agieren im Rahmen einer kriminellen Vereinigung“ gerichtet war (BS 3), blieb ohne Sachverhaltsbezug (siehe aber RIS Justiz RS0119090).

[15] Letzteres gilt auch für die Annahme der subjektiven Tatseite in Bezug auf die Qualifikation nach § 28a Abs 4 Z 3 SMG (BS 4).

[16] Die Kostenentscheidung beruht auf § 8 GRBG. Die Höhe der Beschwerdekosten gründet auf § 1 der GRBKV 2020 BGBl II 2019/416.

Rechtssätze
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