JudikaturJustiz13Os54/22y

13Os54/22y – OGH Entscheidung

Entscheidung
07. September 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 7. September 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz Hummel LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Richteramtsanwärter Mag. Kornauth in der Strafsache gegen * R* und einen anderen Angeklagten wegen Vergehen der vorsätzlichen Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten nach § 178 StGB, AZ 17 Hv 38/21m des Landesgerichts St. Pölten, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom 26. April 2021 (ON 23) und das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 20. Oktober 2021, AZ 31 Bs 228/21p, (ON 46) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Schneider LL.M., und der Verteidigerin Rechtsanwältin Mag. Abpurg zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache AZ 17 Hv 38/21m des Landesgerichts St. Pölten verletzen

1) das Urteil dieses Gerichts vom 26. April 2021 (ON 23) in seinem * Re* betreffenden Schuldspruch wegen Vergehen der vorsätzlichen Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten nach § 178 StGB (II) und

2) das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 20. Oktober 2021, AZ 31 Bs 228/21p, (ON 46) in der Nichtwahrnehmung des dem genannten Schuldspruch anhaftenden Rechtsfehlers

jeweils § 178 StGB.

Es werden

1) das Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 26. April 2021 (ON 23) das im Übrigen unberührt bleibt, im * Re* betreffenden Schuldspruch wegen Vergehen der vorsätzlichen Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten nach § 178 StGB (II), demzufolge auch im Strafausspruch und im Kostenausspruch dieses Verurteilten, sowie

2) das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 20. Oktober 2021 (ON 46) zur Gänze

aufgehoben und es wird in diesem Umfang in der Sache selbst erkannt:

* Re* wird gemäß § 259 Z 3 StPO vom Vorwurf freigesprochen, er habe in W* Handlungen begangen, die geeignet waren, die Gefahr der Verbreitung einer übertragbaren anzeigepflichtigen Krankheit, nämlich der (durch den Erreger SARS CoV 2 ausgelösten) Erkrankung COVID 19 (Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz betreffend anzeigepflichtige übertragbare Krankheiten 2020 BGBl II 2020/15), unter Menschen herbeizuführen, indem er

1/ am 15. Dezember 2020 trotz telefonischer Information der * F*, wonach ihr haushaltsangehöriger Lebensgefährte * R* positiv auf COVID 19 getestet und bescheidmäßig an ihrer Adresse abgesondert worden sei, zu einem persönlichen Beratungsgespräch an der Wohnadresse der zu diesem Zeitpunkt als Hochrisikokontaktperson eingestuften F* erschien und in deren Wohnung unter Außerachtlassung der Abstandsregeln sowie ohne Mund-Nasen-Schutz oder FFP 2 Maske ein Beratungsgespräch mit F* und dem an COVID-19 erkrankten R* führte, wobei insbesondere der leichte Krankheitssymptome zeigende R* durchgehend anwesend war, und

2/ am 21. Dezember 2020 die mittlerweile als Hochrisikokontaktperson des R* bescheidmäßig abgesonderte F* zum Besuch zweier Bankfilialen veranlasste und diese gemeinsam mit ihr aufsuchte.

Text

Gründe:

[1] Mit – auch einen Schuldspruch des Mitangeklagten * R* enthaltendem – Urteil des Einzelrichters des Landesgerichts St. Pölten vom 26. April 2021 (ON 23) wurde * Re* mehrerer Vergehen der vorsätzlichen Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten nach § 178 StGB schuldig erkannt (II).

[2] Danach hat er

(II) in W* „und andernorts“ Handlungen begangen, die geeignet waren, die Gefahr der Verbreitung einer übertragbaren anzeigepflichtigen Krankheit, nämlich der „nach § 1 Abs 1 Z 1 Epidemiegesetz 1950 anzeigepflichtigen Lungenkrankheit COVID 19“, unter Menschen herbeizuführen, indem er

1) vom 15. Dezember 2020 „bis zwei Wochen nach Ablauf der allfälligen Inkubationszeit“ * F* zu einem zuvor mit * R* vereinbarten Beratungsgespräch drängte, „trotz Hinweises von * F*, wonach * R* positiv auf COVID 19 getestet und daher vermutlich auch an COVID 19 erkrankt ist, die Wohnung von R* und F* aufsuchte, mit den beiden im selben Raum befindlich ein längeres Beratungsgespräch ohne Einhaltung von Abstandsregeln und ohne Verwendung eines Mund-Nasen-Schutzes führte und die darauffolgenden zwei Wochen in gewohnter Weise andere Menschen traf und seinen Erledigungen und Verrichtungen uneingeschränkt nachging, sodass eine Weiterverbreitung über dessen Kontaktpersonen an eine Vielzahl von Menschen möglich gewesen wäre“, und

2) vom 21. Dezember 2020 „bis Ablauf von zwei Wochen allfälliger Inkubationszeit“ gemeinsam mit F*, „welche, als Kontaktperson des Erstangeklagten * R*, mit dem sie als Lebensgefährtin im gleichen Haushalt lebte, eingestuft, Heimquarantäne einzuhalten hatte, deren Inkubationszeit bei noch aufrechter Erkrankung des Erstangeklagten am 21. 12. 2020 noch nicht verstrichen war und deren Wahrscheinlichkeit, sich mit COVID 19 infiziert zu haben, außerordentlich hoch war, gemeinsam ohne Verwendung eines Mund-Nasen-Schutzes und die Abstandsregeln ignorierend im PKW zur Erledigung von Bankgeschäften zu zwei Bankfilialen von ihrer Wohnung gefahren ist und trotz dieses engen Kontakts mit * F* während der nächsten zwei Wochen uneingeschränkt und ohne eine allfällige Erkrankung während der Inkubationszeit abzuwarten, seinen täglichen Erledigungen und Verrichtungen nachging und uneingeschränkt mit anderen Menschen Kontakt hielt, sodass eine Weiterverbreitung über dessen Kontaktpersonen an eine Vielzahl von Menschen möglich gewesen wäre“.

[3] Der dagegen vom Angeklagten Re* erhobenen Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe (ON 32) gab das Oberlandesgericht Wien mit Urteil vom 20. Oktober 2021 (ON 46) nicht Folge.

[4] Nach den – vom Berufungsgericht unbeanstandet gebliebenen (ON 46 S 7 ff) – relevanten Urteilskonstatierungen des Erstgerichts (ON 23 S 9 ff) hatte Re* am 15. Dezember 2020 anlässlich eines Beratungsgesprächs in der Wohnung der F* längeren Kontakt mit dem zu diesem Zeitpunkt an COVID 19 erkrankten und sich aufgrund eines Absonderungsbescheids in Heimquarantäne befindenden R* sowie mit der als Hochrisikokontakt des R* eingestuften F*, wobei alle Anwesenden keinen Mund-Nasen-Schutz trugen, die Abstandsregeln nicht einhielten und der Raum nicht gelüftet wurde. Am 21. Dezember 2020 fuhr Re* mit F*, die sich mittlerweile aufgrund eines Absonderungsbescheids als Kontaktperson in Heimquarantäne befand, aber nicht an COVID 19 erkrankt war, in zwei je mehrminütigen Fahrten in einem Pkw, wobei sie engsten Kontakt hatten und auf die Abstandsregeln, das Lüften des Fahrzeugs und das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes nicht achteten. Nach beiden Kontakten wartete Re* nicht die zweiwöchige Inkubationszeit ab, sondern traf sich uneingeschränkt und ohne Erstellung eines COVID 19 Befundes mit mehreren anderen Personen, ohne zu wissen, „ob er selbst etwa direkt von R* oder indirekt über F* mit der Lungenkrankheit COVID-19 SARS-CoV-2 infiziert“ worden war. Diese Treffen des Re* mit anderen Menschen, „ohne seine eigene Erkrankung abgeklärt zu haben“, erhöhten infolge des „unklaren Infektionsstatus betreffend COVID-19“, des nicht getragenen Mund-Nasen-Schutzes und der Nichteinhaltung von Abstandsregeln die Möglichkeit der Ansteckung einer anderen Person durch ihn „massiv“ und hätten die Weiterverbreitung an „unzählige unwissende Menschen“ verursachen können. Re* erkrankte nicht an COVID 19.

[5] In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, dass das uneingeschränkte Treffen anderer Menschen durch den Angeklagten Re* ohne Abklärung seiner eigenen Erkrankung nach dessen intensivem Kontakt mit einer infizierten Person und mit einer möglicherweise infizierten Person geeignet gewesen wäre, die „abstrakt potenzielle“ Gefahr der Verbreitung der Krankheit COVID-19 herbeizuführen (ON 23 S 24 f). Solcherart vertrat es die Rechtsansicht, dass der Tatbestand des § 178 StGB das Vorhandensein eines Krankheitserregers beim Angeklagten nicht erfordere.

[6] Das Berufungsgericht schloss sich dieser (vom Angeklagten nicht als mit Nichtigkeit behaftet relevierten) Rechtsauffassung (implizit) an (vgl ON 46 S 7 ff [15]) und beurteilte den Schuldspruch des Angeklagten Re* (II) als nicht rechtsfehlerhaft.

Rechtliche Beurteilung

[7] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, verletzen der den Angeklagten Re* betreffende Schuldspruch II des Urteils des Landesgerichts St. Pölten und das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Bezug auf die Nichtwahrnehmung des diesem Schuldspruch anhaftenden Rechtsfehlers das Gesetz:

[8] Nach § 178 StGB ist strafbar, wer eine Handlung begeht, die geeignet ist, die Gefahr der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit unter Menschen herbeizuführen, wenn die Krankheit ihrer Art nach zu den wenn auch nur beschränkt anzeige- oder meldepflichtigen Krankheiten gehört.

[9] § 178 StGB umschreibt ein potenzielles Gefährdungsdelikt. Das bedeutet, die im Tatbestand beschriebene (Verbreitungs )Gefahr muss zwar nicht tatsächlich eintreten, die Tathandlung muss aber typischerweise geeignet sein, sie herbeizuführen. Der Rechtsfrage nach der Gefährdungseignung logisch vorgelagert ist jedoch die – auf der Feststellungsebene angesiedelte – Frage nach dem Vorliegen einer übertragbaren Krankheit, also einer solchen, bei der ein Krankheitserreger unmittelbar oder mittelbar von einem Individuum auf ein anderes übergehen kann. Um überhaupt in die Eignungsprüfung der Tathandlung eintreten zu können, muss das Gericht daher jeweils fallbezogen das Vorhandensein eines entsprechenden Krankheitserregers feststellen (zu alldem 13 Os 130/21y, 131/21w, RZ 2022/8, 112 mwN; RIS-Justiz RS0133918 und RS0133917).

[10] Nach den Konstatierungen des Erstgerichts war der Angeklagte Re* im Tatzeitraum weder an COVID-19 erkrankt (ON 23 S 13) noch mit dem Erreger SARS-CoV-2 infiziert (ON 23 S 11 und 23 f). Ebensowenig liegen Anhaltspunkte für die Annahme allenfalls mittelbar eingesetzter Infektionsquellen vor.

[11] Die Urteilsfeststellungen verneinen somit in ihrer Gesamtheit fallbezogen das Vorhandensein des in Rede stehenden Krankheitserregers und solcherart die Verwirklichung des Tatbestandselements der „übertragbaren Krankheit“ (vgl dazu Fabrizy/Michel Kwapinski/Oshidari , StGB 14 § 178 Rz 3). Das Urteil des Landesgerichts St. Pölten verletzt daher im Umfang des den Angeklagten Re* betreffenden Schuldspruchs wegen Vergehen der vorsätzlichen Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten nach § 178 StGB (II) das Gesetz in dieser Bestimmung.

[12] Hinzugefügt sei, dass – worauf die Generalprokuratur ebenfalls mit Recht hinweist – der Tatbestand des § 178 StGB hier auch nicht in der Entwicklungsstufe des Versuchs (§ 15 StGB) erfüllt sein kann, weil – ausgehend davon, dass die Frage nach dem Vorliegen einer übertragbaren Krankheit der Eignungsprüfung der Tathandlung logisch vorgelagert ist (erneut RIS-Justiz RS0133918), – auch die Prüfung einer (Ausführungs )Handlung auf ihre Tauglichkeit im Sinn des § 15 Abs 3 StGB voraussetzt, dass überhaupt ein entsprechender Krankheitserreger vorhanden war (vgl Fabrizy/Michel-Kwapinski/Oshidari , StGB 14 § 178 Rz 2/2 und 3 unter Verweis auf Hinterhofer SbgK § 15 Rz 55 [der insoweit ausdrücklich darauf abstellt, dass der Handelnde „infiziert“ ist] und Hajszan , Keine Gefährdung ohne Gefährlichkeit: Zur Frage der Strafbarkeit nach §§ 178 f StGB ohne Infektion, ÖJZ 2022, 216 ff [221 f]; demzuwider nach Vortatverhalten differenzierend Danek , RZ 2022, 114 [Entscheidungsanmerkung zu 13 Os 130/21y, 131/21w]).

[13] Das Oberlandesgericht als Berufungsgericht wäre verpflichtet gewesen, den mit Berufung nicht geltend gemachten Rechtsirrtum des Erstgerichts (§ 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO iVm § 489 Abs 1 StPO) gemäß § 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO iVm § 488 Abs 1 StPO) von Amts wegen wahrzunehmen. Solcherart legte es seinerseits § 178 StGB unrichtig aus.

[14] Da sich der aufgezeigte Rechtsfehler zum Nachteil des Verurteilten Re* auswirkt, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, das Urteil des Landesgerichts St. Pölten im angeführten Umfang und jenes des Oberlandesgerichts Wien zur Gänze aufzuheben und in der Sache selbst mit Freispruch vorzugehen (§ 292 letzter Satz StPO).

[15] Vom aufgehobenen Urteil und den kassierten Urteilsteilen rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen gelten gleichermaßen als beseitigt (RIS Justiz RS0100444).