JudikaturJustiz13Os3/03

13Os3/03 – OGH Entscheidung

Entscheidung
19. Februar 2003

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. Februar 2003 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Brustbauer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Rouschal, Dr. Ratz, Dr. Danek und Dr. Kirchbacher als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Hietler als Schriftführer, in der Strafsache gegen Helmut F***** wegen des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 2 StGB und weiterer Straftaten, AZ 16 Vr 1453/99 des Landesgerichtes Feldkirch, über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Beschwerdegericht vom 22. Oktober 2002, AZ 6 Bs 411/02 (ON 77 des Vr-Aktes), nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Seidl und des Verteidigers Dr. Helmut Graupner, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache gegen Helmut F***** wegen § 209 StGB und anderer Straftaten, AZ 16 Vr 1453/99 des Landesgerichtes Feldkirch, verletzt der Beschluss des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Beschwerdegericht vom 22. Oktober 2002, AZ 6 Bs 411/02 (ON 77 des Vr-Aktes), das Gesetz in der Bestimmung des § 31a Abs 1 StGB.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Schöffengericht vom 7. April 2000, GZ 16 Vr 1453/99-40, wurde Helmut F***** der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von unmündigen nach § 207 Abs 2 StGB (A./), der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs 1 aF StGB (B./) und der gleichgeschlechtlichen Unzucht mit Personen unter 18 Jahren nach § 209 StGB (C./) schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe in die Dauer von vier Jahren verurteilt.

Gemäß § 21 Abs 2 StGB wurde der Angeklagte in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.

Nach dem Inhalt des Schuldspruches hat der Angeklagte jeweils in Bregenz im Juli 1999 drei unmündige Knaben im Alter von 10 bzw 12 Jahren, um sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen, dazu verleitet, eine geschlechtliche Handlung an sich selbst vorzunehmen, indem er ihnen jeweils eine von ihm mit Gleitcreme versehene Gummivagina überließ, nachdem er ihnen deren Gebrauch erklärt hatte (A./), in der Zeit zwischen 1983/84 und dem 1. Oktober 1998 in wiederholten Fällen insgesamt sechs Knaben im Alter zwischen 8 und 14 Jahren auf andere Weise als durch Beischlaf zur Unzucht missbraucht, und, um sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, dazu verleitet, unzüchtige Handlungen an sich selbst vorzunehmen, nämlich zu (teilweise wechselseitigem) Hand- und Mundverkehr, in einem Fall auch zum Analverkehr, in zwei Fällen durch Vornahme des Mund- oder Handverkehrs an schlafenden Knaben, davon in einem Fall dadurch, dass er seinen Penis am After des Kindes rieb und mit einem Vibrator anale Penetrationen vornahm (B./) sowie in der Zeit zwischen 29. Juli 1988 und einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt im Jahre 1999 in wiederholten Fällen mit insgesamt 16 Personen, die das 14., aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatten, gleichgeschlechtliche Unzucht getrieben, indem er mit ihnen wechselseitig Hand-, Mund- und fallweise auch Analverkehr ausübte

(C./).

Das Oberlandesgericht Innsbruck hat mit Urteil vom 28. Juni 2000, AZ 6 Bs 277/00 (ON 54), der Berufung des Angeklagten teilweise Folge gegeben und die über ihn verhängte Freiheitsstrafe auf drei Jahren herabgesetzt.

Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 21. Juni 2002, G 6/02, wurde § 209 StGB unter Fristsetzung bis 28. Februar 2003 als verfassungswidrig aufgehoben.

Mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 2002, BGBl I 2002/134, entfiel die Strafbestimmung des § 209 StGB und wurde jene des § 207b StGB neu eingefügt, die homosexuelle Kontakte mit Jugendlichen nur noch unter speziellen, in den Absätzen 1 bis 3 normierten Voraussetzungen pönalisiert und deutlich reduzierte Strafdrohungen vorsieht. Diese Änderungen traten am 14. August 2002 in Kraft.

Mit Beschluss des Landesgerichtes Feldkirch vom 27. August 2002, GZ 16 Vr 1453/99-73, wurde der auf das angeführte Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 21. Juni 2002 und die durch das Strafrechtsänderungsgesetz 2002 herbeigeführte Änderung der Rechtslage gestützte Antrag des Verurteilten auf nachträgliche Strafmilderung gemäß § 31a StGB ebenso abgewiesen, wie der damit verbundene Antrag auf vorläufige Unterbrechung des Vollzuges nach § 410 Abs 3 StPO.

Der dagegen erhobenen Beschwerde hat das Oberlandesgericht Innsbruck mit Beschluss vom 22. Oktober 2002, AZ 6 Bs 411/02 (ON 77), teilweise Folge gegeben und die über Helmut F***** verhängte Freiheitsstrafe gemäß § 31a Abs 1 StGB nachträglich dadurch gemildert, dass ein Teil von 4 Tagen und 22 Stunden nachgesehen wurde.

In seiner Begründung wies das Beschwerdegericht im Wesentlichen darauf hin, dass die durch das Strafrechtsänderungsgesetz 2002 zum Ausdruck gebrachte geänderte Güterwertung bzw mildere Bewertung der Strafwürdigkeit in diesem Bereich des Sexualstrafrechtes einen nachträglich eingetretenen Milderungsumstand darstelle, der eine Reduzierung der verhängten Freiheitsstrafe erforderlich mache.

Rechtliche Beurteilung

Wie der Generalprokurator in der von ihm gemäß § 33 Abs 2 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, steht der vorbezeichnete Beschluss des Oberlandesgerichtes Innsbruck mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Der durch das StRÄG 1996 neu geschaffene § 31a StGB unterscheidet sich nach dem Willen des Gesetzgebers inhaltlich nicht wesentlich von der Vorgängerbestimmung des § 410 StPO aF (RV 33 BlgNR XX. GP, 33). Lediglich die Anwendungsvoraussetzungen ("Umstände" anstelle von "Milderungsgründen" und Verzicht auf die früher geforderte "offenbare" Aktualität der neu eingetretenen oder bekannt gewordenen Strafbemessungstatsachen) wurden erleichtert, ohne aber den Kern des Vorganges einer Strafneubemessung in Frage zu stellen. Dieser liegt nämlich darin, dass das Gericht erster Instanz an Hand neuer Tatsachen auf der Basis des unberührt bleibenden Schuldspruches (vgl Foregger/Fabrizy StGB7 § 31a Rz 2) zu einer geänderten Sanktionierung kommt.

Werden hingegen neue Umstände vorgebracht, die den Schuldspruch als solchen berühren - und sei es auch in Form einer die Qualifikation ändernden Tatsache - so kommt diesen ausschließlich im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens gemäß § 353 StPO Bedeutung zu (Foregger/Fabrizy aaO § 31a Rz 3).

Ändert hingegen der Gesetzgeber die dem Schuldspruch zu Grunde liegende Norm, so obliegt es ihm, entsprechende Übergangsregelungen zu schaffen und allenfalls auch inhaltliche Auswirkungen der Gesetzesänderungen auf zurückliegende, auf der Basis der alten, nunmehr außer Kraft getretenen Strafbestimmungen ergangene Verurteilungen vorzusehen. Eine Berücksichtigung derartiger Gesetzesänderungen (§ 410 Abs 1 StPO) bei allen nach der alten Rechtslage ergangenen (und noch nicht vollstreckten) Straferkenntnissen widerspricht hingegen dem Sinngehalt der lediglich auf individuelle Sachverhaltselemente abstellenden (vgl dazu insbesondere Abs 2 bis Abs 4 des § 31a StGB), an Hand der Kriterien der §§ 32 bis 45 Abs 1 StGB auszulegenden (vgl Ratz, WK2 § 31a Rz 5) Strafanpassungsbestimmung des § 31a StGB.

Die vom Oberlandesgericht Innsbruck vertretene Rechtsansicht, wonach die mit der Aufhebung einer Strafbestimmung zum Ausdruck gebrachte geänderte (Rechts )Güterbewertung des Gesetzgebers einen nachträglich hervorgekommenen Milderungsumstand im Sinne des § 31a Abs 1 StGB bildet, vermag daher nicht zu überzeugen.

Die im StRÄG 2002 zum Wegfall des § 209 StGB getroffene Übergangsbestimmung des Art X BGBl I 2002/134 geht ausdrücklich davon aus, dass die bei Inkrafttreten der Änderung (14. August 2002) gefällten und nicht aufgehobenen Urteile erster Instanz auf der bis dahin bestehenden Rechtslage Geltung beanspruchen, sodass selbst eine allfällige (aus sonstigen Gründen gebotene) Strafmaßänderung in einem zu diesem Zeitpunkt noch anhängigen Berufungsverfahren auf Grundlage des nach der alten Rechtslage vorgegebenen Strafrahmens zu erfolgen hat. Eine Beachtlichkeit der Gesetzesänderung im Sanktionsbereich von bereits rechtskräftig abgeschlossenen Fällen ist somit dem Gesetz nicht einmal ansatzweise zu entnehmen. Es besteht daher kein Anlass, eine im Zeitpunkt der Urteilsfällung zu Recht verhängte Sanktion allein deswegen abzuändern, weil nachträglich die gesetzliche Grundlage für weitere derartige des Schuldsprüche beseitigt wurde. Auch der Umstand, dass der Verfassungsgerichtshof die Strafbestimmung des § 209 StGB als (wegen der Unsachlichkeit des aus ihr folgenden Wechsels von straflosen und strafbaren Phasen im Verlauf einer homosexuellen Beziehung) verfassungswidrig aufhob (Urteil 21. Juni 2002, GZ 6/02; JBl 2002, 579), kann im konkreten Fall keinen Ansatzpunkt für eine Vorgangsweise nach § 31a StGB bilden, räumte doch der Verfassungsgerichtshof in dieser - nicht auf die Änderung grundsätzlicher gesellschaftlicher Wertvorstellung gegründeten - Entscheidung dem Gesetzgeber eine Frist zur Sanierung der Verfassungswidrigkeit bis 28. Februar 2003 ein und akzeptierte damit bei allen - wie hier - nicht Anlassfall bildenden Strafverfahren eine fortgesetzte Anwendung dieser erst mit 1. März 2003 als obsolet erkannten Bestimmung.

Im Übrigen obliegt eine (allgemeine, für alle betroffenen Verurteilten gleich geltende) Berücksichtigung der der Aufhebung einer Norm zu Grunde liegenden geänderten (Rechts )Güterwertung dem Gesetzgeber. Darüber hinaus steht eine einzelfallbezogene Reaktion auf derartige Gesetzesänderungen im Ermessen des Bundespräsidenten, der von der ihm nach Art 65 Abs 2 lit c B-VG eingeräumten Befugnis der Begnadigung Gebrauch machen könnte.

Zusammenfassend und als Antwort auf die gemäß § 35 Abs 2 StPO vom Verteidiger erstattete Äußerung: Den Gerichten gem § 31a StGB steht stets nur nachträgliche Anpassung ihrer Entscheidungen an geänderte tatsächliche Verhältnisse zu, nicht aber die Anpassung rechtskräftiger Entscheidungen an eine geänderte Normsituation (s auch Mayerhofer, StPO4 ENr 9 zu § 410).

Während das Berufungsgericht jene gesetzlichen Ermessensregeln anzuwenden hat, die im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung gelten und solcherart einer Änderung der Normsituation bei der (vom Schuldspruch [ § 260 Abs 1 Z 2 StPO] abhängigen; vgl § 295 Abs 1 erster Satz StPO) Strafbemessung (noch) Rechnung tragen kann, stellt § 31a StGB, der die Korrektur des Sanktionsausspruchs (ohne Änderung des Strafsatzes) nach Rechtskraft ermöglicht, ausschließlich auf den für die Ausübung des Sanktionsermessens relevanten Sachverhalt ab und ermöglicht aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit keine Berücksichtigung einer Änderung der Normsituation.

Wurde eine im Nachhinein vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig erkannte Norm angewendet, ergibt sich die Rechtslage aus Art 140 Abs 7 B-VG. Soweit nach dieser Bestimmung ein Gesetz im Entscheidungszeitpunkt mangels Einleitung eines Normprüfungsverfahrens anzuwenden war, ist die Entscheidung als Ausfluss materieller Rechtskraft wirksam (rechtsstaatliches Prinzip). Anders, wenn - welcher Fall hier jedoch nicht vorliegt - in einem Urteil des EGMR eine Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch die konkrete Entscheidung oder Verfügung des Strafgerichtes festgestellt wird. Dann hat der Oberste Gerichtshof nach Maßgabe der §§ 363a ff StPO dieses Strafverfahren zu erneuern. Eine über den Fall des § 363a Abs 1 StPO hinausgehende Erneuerungsmöglichkeit sieht das Gesetz allerdings nicht vor (Art 18 Abs 1 B-VG), womit der Oberste Gerichtshof in nicht von einer derartigen Entscheidung des EGMR betroffenen Fällen eine Erneuerung gemäß § 363a Abs 1 StPO mangels planwidriger Lücke des Strafverfahrensrechtes nicht vornehmen darf. Im Übrigen ist ein etwaiger Verstoß des auf § 209 StGB gegründeten Schuldspruchs gegen die EMRK in der vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerde überhaupt nicht aufgegriffen daher auch nicht Gegenstand ihrer Erledigung. Mit dem der Wahrungsbeschwerde stattgebenden Aufzeigen der Gesetzesverletzung hat es jedoch sein Bewenden, weil sich diese zugunsten des Verurteilten ausgewirkt hat.

Rechtssätze
4
  • RS0117469OGH Rechtssatz

    11. November 2003·2 Entscheidungen

    Die im StRÄG 2002 zum Wegfall des § 209 StGB getroffene Übergangsbestimmung des Art X BGBl I 2002/134 geht ausdrücklich davon aus, dass die bei Inkrafttreten der Änderung (14. August 2002) gefällten und nicht aufgehobenen Urteile erster Instanz auf der bis dahin bestehenden Rechtslage Geltung beanspruchen, sodass selbst eine allfällige (aus sonstigen Gründen gebotene) Strafmaßänderung in einem zu diesem Zeitpunkt noch anhängigen Berufungsverfahren auf Grundlage des nach der alten Rechtslage vorgegebenen Strafrahmens zu erfolgen hat. Eine Beachtlichkeit der Gesetzesänderung im Sanktionsbereich von bereits rechtskräftig abgeschlossenen Fällen ist somit dem Gesetz nicht einmal ansatzweise zu entnehmen. Es besteht daher kein Anlass, eine im Zeitpunkt der Urteilsfällung zu Recht verhängte Sanktion allein deswegen abzuändern, weil nachträglich die gesetzliche Grundlage für weitere derartige Schuldsprüche beseitigt wurde. Auch der Umstand, dass der Verfassungsgerichtshof die Strafbestimmung des § 209 StGB als (wegen der Unsachlichkeit des aus ihr folgenden Wechsels von straflosen und strafbaren Phasen im Verlauf einer homosexuellen Beziehung) verfassungswidrig aufhob, kann keinen Ansatzpunkt für eine Vorgangsweise nach § 31a StGB bilden, räumte doch der Verfassungsgerichtshof in dieser - nicht auf die Änderung grundsätzlicher gesellschaftlicher Wertvorstellung gegründeten - Entscheidung dem Gesetzgeber eine Frist zur Sanierung der Verfassungswidrigkeit bis 28. Februar 2003 ein und akzeptierte damit bei allen nicht Anlassfall bildenden Strafverfahren eine fortgesetzte Anwendung dieser erst mit 1. März 2003 als obsolet erkannten Bestimmung.