JudikaturJustiz11Os50/20t

11Os50/20t – OGH Entscheidung

Entscheidung
15. Juli 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. Juli 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in der Strafsache gegen G***** und D***** wegen des Vergehens des schweren Betrugs nach §§ 15, 146, 147 Abs 2 StGB und eine weitere strafbare Handlung, AZ 711 St 6/19d der Staatsanwaltschaft Wien, über die Anträge der Genannten auf Erneuerung des Verfahrens nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGH Geo 2019) den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Anträge werden zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Im Ermittlungsverfahren AZ 711 St 6/19d ordnete die Staatsanwaltschaft Wien aufgrund gerichtlicher Bewilligung mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 2. August 2019, AZ 352 HR 386/19b (ON 5 S 9), aus Beweisgründen und zur Sicherung der Konfiskation eine Durchsuchung an den Wohn- und Arbeitsadressen des G***** und des D***** zur Sicherstellung schriftlicher Aufzeichnungen und elektronischer Datenträger (Computer, Mobiltelefone, Festplatten, USB Sticks, Speicherkarten, CD/DVDs) hinsichtlich der Herstellung und Verbreitung eines bestimmten Videos sowie elektronischer Gegenstände, mittels derer Wettkonten eröffnet und inkriminierte Wetten platziert wurden, an (ON 5).

Dabei ging sie von folgendem, bei G***** dem Vergehen des schweren Betrugs nach §§ 15, 146, 147 Abs 2 StGB und bei D***** dem Vergehen des Betrugs nach §§ 15, 146 StGB subsumierten Verdacht aus:

Die Genannten hätten in Wien „Verfügungsberechtige der b***** Ltd mit dem Vorsatz, durch das Verhalten der Getäuschten sich oder einen Dritten unrechtmäßig zu bereichern, durch Täuschung über Tatsachen, nämlich unter der Vorgabe, 'redlicher Wettteilnehmer zu sein und Wetten ohne Insiderwissen' [vgl Punkt B/3 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der b***** Ltd: 'keinerlei Insiderwissen oder anderes gleichwertiges Wissen' – ON 4 S 5] auf das scheinbar unbestimmte und ungewisse Ereignis der vorzeitigen, außerplanmäßigen Neuwahl des österreichischen Nationalrats zu platzieren, wobei sie aus bislang unbekannter Quelle wussten, dass am 24. Juli 2017 in I***** ein Video mit politisch fragwürdigen Äußerungen von Mag. J***** und H***** heimlich aufgenommen wurde, dieses Video am 17. Mai 2019 veröffentlicht werden würde und die Veröffentlichung ein Ende der Koalition zwischen der Ö***** und der F***** sowie vorzeitige Neuwahlen zum Österreichischen Nationalrat in den Jahren 2019, 2020 oder 2021 zur Folge haben würde, zu Handlungen, nämlich zur Annahme nachstehender Wetten, verleitet, die diese – hinsichtlich G***** in einem 5.000 Euro übersteigenden Betrag – am Vermögen schädigte bzw schädigen sollte, und zwar

A) G***** am 10. Mai 2019 zur Annahme von drei Wetten, nämlich

1) 300 Euro auf Neuwahlen in Österreich im Jahr 2019 bei einer Quote von 20 (Schaden: 5.700 Euro);

2) 300 Euro auf Neuwahlen in Österreich im Jahr 2020 bei einer Quote von 23 (Schaden: 6.600 Euro);

3) 250 Euro auf Neuwahlen in Österreich im Jahr 2021 bei einer Quote von 15 (Schaden: 3.500 Euro);

B) D***** am 15. Mai 2019 zur Annahme nachstehender Wetten, nämlich

1) 100 Euro auf Neuwahlen in Österreich im Jahr 2019 bei einer Quote von 16 (Schaden: 1.500 Euro);

2) 100 Euro auf Neuwahlen in Österreich im Jahr 2020 bei einer Quote von 10 (Schaden: 900 Euro);

3) 100 Euro auf Neuwahlen in Österreich im Jahr 2021 bei einer Quote von 9 (Schaden: 800 Euro)“.

Den dagegen gerichteten (jeweils gemeinsam ausgeführten) Einsprüchen wegen Rechtsverletzung und Beschwerden des G***** und des D*****, in welchen diese die Annahme eines hinreichenden Tatverdachts kritisierten und lediglich im Schlussantrag eine Verletzung von Art 8 MRK behaupteten (ON 10), gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 11. März 2020, AZ 20 Bs 287/19f, 20 Bs 288/19b (ON 19), nicht Folge.

Danach stütze sich der Anfangsverdacht auf die aus der Sachverhaltsdarstellung der b***** Ltd ersichtliche zeitliche Nähe der Wettabschlüsse zur Veröffentlichung des „I***** Videos“, weiters darauf, dass die Kundenkonten offensichtlich ausschließlich zum Zweck der Platzierung dieser Wetten und vom selben Endgerät eröffnet wurden, auf die Höhe der platzierten Wetten sowie auf eine E-Mail des Beschuldigten D***** vom 11. Mai 2019, in welchem er um neuerliche Platzierung der (zu diesem Zeitpunkt nicht mehr verfügbaren) Wetten oder um Rückzahlung der auf sein – extra zur Platzierung der Politwette eröffnetes (vgl ON 2 S 31) – Kundenkonto einbezahlten Beträge ersuchte, wobei er in weiterer Folge, nachdem die Wetten wieder in das Angebot aufgenommen worden waren, die inkriminierten Wetten abschloss. Weiters seien einem Bericht des Unternehmens „S*****“ Kontakte der Beschuldigten über soziale Medien zu Journalisten jener Medien, welche das „I***** Video“ veröffentlichten, zu entnehmen. Weitere Verdachtsmomente in Richtung eines Insiderwissens ergäben sich aus dem Anlassbericht des Bundesministeriums für Inneres, wonach der Video-Inhalt vor Veröffentlichung einem größeren Personenkreis zugänglich gewesen sei. Bei vernetzter Betrachtung der Beweismittel erschließe sich ein – wenn auch nicht stark ausgeprägter – Anfangsverdacht in objektiver und daraus abgeleitet in subjektiver Hinsicht. Die gesuchten Gegenstände seien in der Anordnung der Art nach ausreichend konkretisiert und die zu erwartende Rechtsgutbeeinträchtigung in einem angemessenen Verhältnis zum Gewicht der zur Last liegenden Straftaten. Weniger eingriffsintensive Ermittlungsmaßnahmen stünden nicht zur Verfügung.

G egen die bezeichneten Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien und des Oberlandesgerichts Wien richten sich die von G***** und D***** gemeinsam ausgeführten Anträge auf Erneuerung des Strafverfahrens „analog § 363a StPO“, in welchen Verletzungen von Art 8, 9 und 14 MRK, Art 1 Abs 1 des 1. ZPMRK und von Art 5 St GG behauptet werden. Der Eingriff diene zwar einem legitimen Ziel, sei aber nicht verhältnismäßig und verstoße die Anordnung gegen das „Klarheitsgebot“. Vor der Anordnung wären weitere Ermittlungen erforderlich gewesen. Vor allem kritisieren die Beschwerdeführer die der Annahme eines Anfangsverdachts zugrunde liegende Beweiswürdigung.

Rechtliche Beurteilung

Den Anträgen kommt keine Berechtigung zu:

Da – wie hier – nicht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützte Erneuerungsanträge gegen Entscheidungen, die Erneuerungswerber mit Beschwerde anfechten können , unzulässig sind (für viele: 13 Os 47/11b [13 Os 54/11g]; Reindl-Krauskopf , WK-StPO § 363a Rz 32), waren die gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien gerichteten Anträge schon deshalb zurückzuweisen.

Ein Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens steht auch im erweiterten Anwendungsbereich des § 363a StPO – dessen Wortlaut folgend – nur wegen einer Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle zu (RIS Justiz RS0132365). Somit scheidet die reklamierte Verletzung von Art 5 StGG als Antragsgegenstand aus.

Zur Anrufung des Obersten Gerichtshofs bedarf es der Ausschöpfung des Rechtswegs. Diesem Erfordernis wird entsprochen, wenn von allen effektiven Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und die geltend gemachte Konventionsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (horizontale Erschöpfung – vgl RIS Justiz RS0122737 [T13], RS0124739; Grabenwarter/Pabel , EMRK 6 § 13 Rz 36).

Eine Verletzung von Art 9 und 14 MRK sowie Art 1 Abs 1 des 1. ZPMRK wurde im Instanzenzug nicht behauptet.

Ebenso wenig Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs oder ein Verstoß gegen das Klarheitsgebot (zum Bestimmtheits- und Klarheitsgebot des Art 7 MRK vgl im Übrigen Grabenwarter/Pabel , EMRK 6 § 24 Rz 155) durch die erstinstanzliche Entscheidung. In diesem Zusammenhang bleibt zudem im Dunkeln , inwiefern die besonderen Umstände des gegenständlichen Sachverhalts mit den konkreten Konstellationen der in den Anträgen zitierten Entscheidungen des EGMR 28. 4. 2005 Buck gg Deutschland , Nr 41604/98 (Hausdurchsuchungen bei einem am Strafverfahren nicht Beteiligten auch in dessen privaten Räumen wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit, die nicht das einzige Mittel zur Erlangung der erforderlichen Informationen waren) und EGMR 3. 7. 2012 Robathin gg Österreich Nr 30457/06 (Kritik des Gerichtshofs an der Art und Weise der Aufsicht der [damaligen] Ratskammer angesichts der Durchsuchung aller Daten einer Anwaltskanzlei) vergleichbar sein sollten.

Überdies hat das Oberlandesgericht mit seinen umfangreichen Ausführungen zur Verdachtslage (ON 19 S 2 f, 8 ff) der bei G***** mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bedrohten Straftaten sowie zum angestrebten Erfolg (ON 19 S 12 f) einer innerstaatlichen (§ 5 Abs 1, Abs 2 StPO; Tipold/Zerbes , WK StPO Vor §§ 119–122 Rz 9 f) sowie konventionskonformen (Art 8 Abs 2 MRK) Verhältnismäßigkeitsprüfung mit eingehender Begründung entsprochen.

Weshalb vor Anordnung der Hausdurchsuchungen über die von der Kriminalpolizei durchgeführten (vgl ON 2) hinaus weitere Ermittlungen grundrechtsrelevant oder erforderlich für die Zulässigkeit der Eingriffe gewesen wären, wird nicht dargelegt (vgl RIS-Justiz RS0124359).

Erneut über die Grundrechtskonformität hinaus wenden sich die Erneuerungswerber gegen die der Annahme eines Anfangsverdachts zugrunde liegende Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts, der sie bloß eigenständige Erwägungen gegenüberstellen und daraus abgeleitet einen Tatverdacht bestreiten. Denn d ie Behandlung von Erneuerungsanträgen bedeutet gerade nicht eine Auseinandersetzung nach Art einer zusätzlichen Beschwerde- oder Berufungsinstanz. Sie beschränkt sich vielmehr auf die Prüfung der reklamierten Verletzung eines Rechts nach der MRK oder einem ihrer Zusatzprotokolle (vgl RIS Justiz RS0126458, RS0129606).

Im Übrigen würde eine aus Art 6 Abs 1 MRK beachtliche Verletzung der Begründungspflicht nur bei willkürlichen oder grob unvernünftigen (im Sinne der Rechtsprechung des EGMR: „arbitrary or manifestly unreasonable“) Urteils- oder Beschlussannahmen vorliegen. Dies ist dann der Fall, wenn die Begründung eindeutig unzureichend oder offensichtlich widersprüchlich ist oder eindeutig einen Irrtum erkennen lässt (RIS Justiz RS0129981; EvBl-LS 2019/171), was auf die gegenständliche Begründung des Oberlandesgerichts zu einem Anfangsverdacht (§ 1 Abs 3 StPO, Markel , WK StPO § 1 Rz 26) nicht zutrifft.

Die Erneuerungsanträge waren daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – nach nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

Rechtssätze
7
  • RS0122737OGH Rechtssatz

    18. März 2024·3 Entscheidungen

    Bei einem nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag handelt es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf. Demgemäß gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß auch für derartige Anträge. So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung angerufen werden. Hieraus folgt für die Fälle, in denen die verfassungskonforme Auslegung von Tatbeständen des materiellen Strafrechts in Rede steht, dass diese Problematik vor einem Erneuerungsantrag mit Rechts- oder Subsumtionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 9 oder Z 10, § 468 Abs 1 Z 4, § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO) geltend gemacht worden sein muss. Steht die Verfassungskonformität einer Norm als solche in Frage, hat der Angeklagte unter dem Aspekt der Rechtswegausschöpfung anlässlich der Urteilsanfechtung auf die Verfassungswidrigkeit des angewendeten Strafgesetzes hinzuweisen, um so das Rechtsmittelgericht zu einem Vorgehen nach Art 89 Abs 2 B-VG zu veranlassen. Wird der Rechtsweg im Sinn der dargelegten Kriterien ausgeschöpft, hat dies zur Folge, dass in Strafsachen, in denen der Oberste Gerichtshof in zweiter Instanz entschieden hat, dessen unmittelbarer (nicht auf eine Entscheidung des EGMR gegründeter) Anrufung mittels Erneuerungsantrags die Zulässigkeitsbeschränkung des Art 35 Abs 2 lit b erster Fall MRK entgegensteht, weil der Antrag solcherart „im wesentlichen" mit einer schon vorher vom Obersten Gerichtshof geprüften „Beschwerde" übereinstimmt.