JudikaturJustiz11Ns65/22f

11Ns65/22f – OGH Entscheidung

Entscheidung
17. August 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 17. August 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Dr. Michel Kwapinski und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in der Strafsache gegen * S* und einen weiteren Angeklagten wegen des Verbrechens nach § 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall, Abs 2 Z 2, Abs 4 Z 3 SMG und anderer strafbarer Handlungen, AZ 26 Hv 42/22f des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über Vorlage gemäß § 215 Abs 4 StPO durch das Oberlandesgericht Graz, AZ 9 Bs 221/22a, nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGH Geo 2019) den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Sache wird dem Oberlandesgericht Wien zur Zuweisung an das zuständige Gericht übermittelt.

Text

Gründe:

[1] Mit im Verfahren AZ 26 Hv 42/22f des Landesgerichts für Strafsachen Graz eingebrachter Anklageschrift vom 6. Mai 2022, AZ 6 St 27/21h (ON 74), legt die Staatsanwaltschaft Eisenstadt

* S* den Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall, Abs 2 Z 2, Abs 4 Z 3 SMG (A./I./1./ und 2./ sowie A./II./) und nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 2, Abs 4 Z 3 SMG (A./III./1./ und 4./ sowie C./) sowie den Vergehen nach § 50 Abs 1 Z 2 und 3 WaffG (D./I./1./ sowie D./II./) und

* H* den Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall, Abs 2 Z 2, Abs 4 Z 3 SMG (A./I./2./ sowie A./II./ und B./) und nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 2, Abs 4 Z 3 SMG (A./III./1./ bis 3./) sowie dem Vergehen nach § 50 Abs 1 Z 3 WaffG (D./I./2./)

subsumierte Taten zur Last.

[2] Im Anklagetenor geht die Staatsanwaltschaft von einer Tatbegehung „in der Nähe von G*“, „in W* oder H*“, im Weiteren etwa auch in O* oder S* aus (ON 74 S 2 ff). Zur Zuständigkeit des angerufenen Landesgerichts führt sie aus, dass „keine Taten im Burgenland gesetzt“ wurden und gemäß § 37 Abs 2 zweiter Satz StPO jenes Gericht im Falle mehrerer Straftaten für das Hauptverfahren zuständig sei, in dessen Zuständigkeit die frühere Straftat [hier das Faktum A./I./1./a./) „im frühen Frühjahr 2021“], welches Faktum isoliert betrachtet die Zuständigkeit des Schöffengerichtes begründet, fällt. Aus diesen Erwägungen wäre die Anklageschrift beim Landesgericht für Strafsachen Graz einzubringen gewesen (ON 74 S 14).

[3] Gegen die Anklageschrift richtet sich ein allein auf § 212 Z 6 StPO gegründeter Einspruch (nur) des Angeklagten S*, welcher die örtliche Zuständigkeit des Landesgerichts Wiener Neustadt (allenfalls des Landesgerichts Linz oder des Landesgerichts Salzburg) reklamiert (ON 77).

[4] Mit Beschluss vom 18. Juli 2022, AZ 9 Bs 21/22a, verneinte das Oberlandesgericht Graz das Vorliegen in § 212 Z 1 bis 5, 7 und 8 StPO angeführter Mängel der Anklageschrift, entschied über die über S* verhängte Untersuchungshaft (vgl RIS Justiz RS0124585 [T4, T7] und legte die Akten – weil es für möglich hielt, dass ein im Sprengel eines anderen Oberlandesgerichts liegendes Gericht zuständig sei – gemäß § 215 Abs 4 zweiter Satz StPO dem Obersten Gerichtshof vor.

Rechtliche Beurteilung

Dieser hat erwogen:

[5] Im Fall gleichzeitiger Anklage mehrerer beteiligter Personen (§ 12 StGB) oder einer Person wegen mehrerer Straftaten ist das Hauptverfahren vom selben Gericht gemeinsam zu führen (§ 37 Abs 1 erster Satz StPO). Dabei ist unter Gerichten verschiedener Ordnung das höhere, unter Gerichten gleicher Ordnung jenes mit Sonderzuständigkeit für alle Verfahren zuständig, wobei das Gericht, das für einen unmittelbaren Täter zuständig ist, das Verfahren gegen (andere) Beteiligte an sich zieht (§ 37 Abs 2 erster Satz StPO). Im Übrigen kommt das Verfahren im Fall mehrerer Straftaten dem Gericht zu, in dessen Zuständigkeit die frühere Straftat fällt (§ 37 Abs 2 zweiter Satz StPO). Wenn jedoch für das Ermittlungsverfahren eine Staatsanwaltschaft bei einem Gericht zuständig war, in dessen Sprengel auch nur eine der angeklagten strafbaren Handlungen begangen worden sein soll, so ist dieses Gericht zuständig (§ 37 Abs 2 dritter Satz StPO).

[6] Anlassbezogen sind für die Frage der örtlichen Zuständigkeit (bloß) jene strafbaren Handlungen (§ 211 Abs 1 Z 2 StPO) maßgeblich, die sachlich in die Zuständigkeit des Schöffengerichts fallen (RIS Justiz RS0133394), und damit der den Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall, Abs 2 Z 2, Abs 4 Z 3 SMG (A./I./1./ und 2./; A./II./ [S*]; A./I./2./; A./II./; B./ [H*]) und nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 2, Abs 4 Z 3 SMG (A./III./1./ und 4./; C./ [S*]; A./III./1./ bis 3./ [H*]) subsumierte Anklagevorwurf (§ 31 Abs 3 Z 1 StPO).

[7] Die Staatsanwaltschaft geht – gestützt auf die bisherigen Beweisergebnisse – ersichtlich in Bezug auf jede dieser strafbaren Handlungen (auch in Ansehung des Faktums A./III./2./; siehe die zu A./III./1./ bis 3./ erfolgte Zusammenfassung zu einer Subsumtionseinheit [ ON 74 S 5] und die Annahme eines auf kontinuierliche Tatbegehung gerichteten Additionsvorsatzes sowie der Absicht, „soviel als möglich an Suchtgift […] zu verkaufen“ [ ON 74 S 9]) von tatbestandlichen Handlungseinheiten aus (vgl RIS-Justiz RS0088096 [T11, T12, T14, T16 und T17], RS0122006, RS0127374, RS0131856 [T4], RS0133289; Hinterhofer/Oshidari , Strafverfahren Rz 9.204).

[8] Da die Angeklagten nach dem Anklageinhalt sowohl in Bezug auf die Ein- und Ausfuhr (§ 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall SMG) als auch in Ansehung des Überlassens (§ 28a Abs 1 fünfter Fall SMG) von Suchtgift jeweils (auch) als unmittelbare Täter (§ 12 erster Fall StGB) handelten (A./II./ und III./) und Anhaltspunkte für eine Tatausführung im Sprengel des Landesgerichts Eisenstadt nicht vorliegen, richtet sich die örtliche Zuständigkeit für die Verfahrensführung nach der früheren Straftat. Welche von den angeklagten tatbestandlichen Handlungseinheiten die frühere Straftat im Sinn des § 37 Abs 2 zweiter Satz StPO ist, beurteilt sich nach ihrem Beginn, weil in dieser Bestimmung der Grundsatz der Anknüpfung an das frühere kriminelle Handeln zum Ausdruck kommt (vgl RIS-Justiz RS0126604 [T1, T2]). Die örtliche Zuständigkeit für die nach diesen Kriterien ermittelte frühere Straftat richtet sich primär nach § 36 Abs 3 erster Satz StPO (RIS Justiz RS0130107 [T4]). Erstreckt sich bei dieser – wie hier in Form einer tatbestandlichen Handlungseinheit im weiteren Sinn – die den gesetzlichen Tatbestand erfüllende Verhaltensweise über mehrere Orte, gibt grundsätzlich jener den Ausschlag, an dem die letzte Ausführungshandlung gesetzt wurde (abermals RIS Justiz RS0130107 [T4]; vgl Nordmeyer , WK StPO § 25 Rz 1).

[9] Nach (der Anklageschrift und) dem Akteninhalt (zum Bezugspunkt der Zuständigkeitsprüfung vgl RIS-Justiz RS0131309 [T3]) ist die mit dem Überlassen von Kokain an * K* am Anfang des Jahres 2020 (ON 72.25 S 4; ON 74 S 9) begonnene tatbestandliche Handlungseinheit des * H* die früheste Straftat iSd § 37 Abs 2 zweiter Satz StPO. Die letzte Ausführungshandlung dieser tatbestandlichen Handlungseinheit erfolgte Ende 2021 in Wien (ON 72.18 S 10; ON 72.25 S 4 f; ON 74 S 9).

[10] Die Strafsache war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – gemäß §§ 213 Abs 6 letzter Satz, 215 Abs 4 erster Satz StPO dem Oberlandesgericht Wien zur Zuweisung an das zuständige Gericht zu übermitteln.

Rechtssätze
9
  • RS0122006OGH Rechtssatz

    17. April 2024·3 Entscheidungen

    Soweit in früherer Rechtsprechung unter dem Begriff des „fortgesetzten Delikts" (nach Maßgabe zuweilen geforderter, indes uneinheitlich gehandhabter weiterer Erfordernisse) mehrere den gleichen Tatbestand (ob versucht oder vollendet) erfüllende, mit einem „Gesamtvorsatz" begangene Handlungen zu einer dem Gesetz nicht bekannten rechtlichen Handlungseinheit mit der Konsequenz zusammengefasst wurden, dass durch die je für sich selbständigen gleichartigen Straftaten doch nur eine einzige strafbare Handlung begründet würde, hat der Oberste Gerichtshof diese Rechtsfigur der Sache nach bereits mit der Bejahung ihrer prozessualen Teilbarkeit durch die Grundsatzentscheidung SSt 56/88 = EvBl 1986/123 aufgegeben. Seither reduziert er deren Bedeutung auf den unverzichtbaren Kernbereich der der Rechtsfigur zugrunde liegenden Vorstellung, den er als tatbestandliche Handlungseinheit bezeichnet. In der Anerkennung des Fortsetzungszusammenhangs bloß nach Maßgabe tatbestandlicher Handlungseinheiten liegt gezielte Ablehnung einer absoluten Sicht des fortgesetzten Delikts und ein Bekenntnis zur deliktsspezifischen Konzeption. Denn der Unterschied zwischen der Rechtsfigur des fortgesetzten Delikts und der tatbestandlichen Handlungseinheit besteht darin, dass die Rechtsfigur des fortgesetzten Delikts aus dem allgemeinen Teil des materiellen Strafrechts abgeleitet wird, die der tatbestandlichen Handlungseinheit aber gleichartige Handlungen nach Maßgabe einzelner Tatbestände zusammenfasst. Die Kriterien einer Zusammenfassung können demnach durchaus deliktsspezifisch verschieden sein, ohne dass daraus das ganze Strafrechtssystem erfassende Widersprüche auftreten. Von einer tatbestandlichen Handlungseinheit spricht man im Anschluss an Jescheck/Weigend5 (711ff) bei einfacher Tatbestandsverwirklichung, also der Erfüllung der Mindestvoraussetzungen des gesetzlichen Tatbestands, insbesondere bei mehraktigen Delikten und Dauerdelikten (tatbestandliche Handlungseinheit im engeren Sinn) und dort, wo es nur um die Intensität der einheitlichen Tatausführung geht (SSt 56/88), demnach bei wiederholter Verwirklichung des gleichen Tatbestands in kurzer zeitlicher Abfolge, also bei nur quantitativer Steigerung (einheitliches Unrecht) und einheitlicher Motivationslage (einheitliche Schuld), auch wenn höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Träger verletzt werden, sowie bei fortlaufender Tatbestandsverwirklichung, also der Annäherung an den tatbestandsmäßigen Erfolg durch mehrere Einzelakte im Fall einheitlicher Tatsituation und gleicher Motivationslage, etwa beim Übergang vom Versuch zur Vollendung oder bei einem Einbruchsdiebstahl in zwei Etappen (tatbestandliche Handlungseinheit im weiteren Sinn).