JudikaturJustiz10ObS11/12h

10ObS11/12h – OGH Entscheidung

Entscheidung
14. Februar 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz und Prof. Mag. Dr. Thomas Keppert (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei I*****, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter Straße 65, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 6. Dezember 2011, GZ 25 Rs 91/11k 24, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 18. 5. 2010 wurde der Unfall des Klägers vom 21. 12. 2009 nicht als Arbeitsunfall anerkannt und ein Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung verneint.

Das Erstgericht gab der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage Folge und erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 21. 12. 2009 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 50 % der Vollrente in der gesetzlichen Höhe ab dem gesetzlichen Zeitpunkt zu gewähren.

Es traf folgende Feststellungen:

„Der Kläger verfügte jedenfalls zum Unfallzeitpunkt nicht über eine Gewerbeberechtigung für das reglementierte Gewerbe des Bodenlegers nach § 94 Z 7 GewO und war nicht Mitglied einer Wirtschaftskammer. Er hatte am 9. 5. 2001 gegenüber der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft eine Versicherungserklärung für die Pflichtversicherung gemäß § 2 Abs 1 Z 4 GSVG abgegeben und erklärt, dass er die selbstständige Erwerbstätigkeit eines Estrichverlegers seit 17. 2. 2001 ausübe und die Einkünfte aus dieser Tätigkeit den Betrag von 88.800 ATS jährlich überschreiten. Ab dem Zeitpunkt dieser Erklärung bezahlte er Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung und veranlagte seine Einkünfte aus der Tätigkeit als Estrichverleger zur Einkommensteuer. Als er am 21. 12. 2009 auf einer Baustelle Estrich verlegte, geriet er mit dem rechten Arm in die Förderschnecke eines Standsilos und wurde an der rechten Hand schwer verletzt.“

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, der Kläger sei infolge seiner am 9. 5. 2001 gemäß § 2 Abs 1 Z 4 GSVG abgegebenen Erklärung der Sozialversicherungspflicht unterlegen. Ungeachtet des Umstands, dass er zum Unfallzeitpunkt über keine Gewerbeberechtigung nach § 94 Z 7 GewO verfügt habe und nicht Kammermitglied gewesen sei, sei er als „neuer Selbständiger“ nach § 2 Abs 1 Z 4 GSVG in der Unfallversicherung pflichtversichert und habe Anspruch auf Versehrtenrente.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil mit der Maßgabe, dass das Klagebegehren ab dem 21. 3. 2010 dem Grund nach zu Recht bestehe und trug der beklagten Partei eine vorläufige Leistung in Höhe von 490 EUR monatlich auf. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts zum Vorliegen einer Pflichtversicherung zum Unfallzeitpunkt und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision der beklagten Partei ist mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.

Die Revisionswerberin macht geltend, aus Sicht der Unfallversicherung sei die Rechtsprechung, nach der nur die durch die Gewerbeberechtigung gedeckten selbständigen Tätigkeiten als geschützt anzusehen seien, vor allem darin begründet, dass die in der Gewerbeordnung geforderte Zuverlässigkeits und Befähigungserfordernisse wesentlich auch der Unfallverhütung dienen. Dagegen würden „im Pfusch“ ausgeübte Tätigkeiten zum nicht versicherten Bereich gehören, für deren Folgen die gesetzliche Unfallversicherung nicht einzustehen habe. Die zitierte Rechtsprechung habe demnach auch für die nach § 8 Abs 1 Z 3 lit a 2. Fall ASVG unfallversicherten Personen („die neuen Selbständigen“) zu gelten. Auch von dieser Gruppe der Versicherten sei zu fordern, dass sie die erforderliche Gewerbeberechtigung erlangen; nur dann sollen sie dem gesetzlichen Unfallversicherungsschutz für die betreffenden Tätigkeiten unterliegen.

Die von der Revisionswerberin aufgeworfene Rechtsfrage ist bereits aus dem Gesetzeswortlaut zu lösen:

1.1. Gewerbliche Tätigkeit ohne Gewerbeberechtigung (unbefugte Gewerbeausübung) führte nach der Rechtslage vor dem ASRÄG 1997 (BGBl I 1997/139) zur Ausklammerung aus der Beitragspflicht und aus dem Schutzbereich der Sozialversicherung ( Pöltner , Die Einbeziehung aller Erwerbseinkommen in die Sozialversicherung, DRdA 1998, 316 [322]; Tomandl , Rechtsprobleme einer umfassenden Sozialversicherung, ZAS 1998, 9 [11]).

1.2. Ab 1. 1. 1998 wurde durch das Arbeits und Sozialrechtsänderungsgesetz 1997 ASRÄG 1997 (BGBl I 1997/139) in § 2 Abs 1 Z 4 ASVG eine weitere Gruppe von Pflichtversicherten eingeführt, bei denen es nicht mehr auf die Mitgliedschaft zu einer Kammer der gewerblichen Wirtschaft ankommt (§ 8 Abs 1 Z 3 lit a ASVG zweiter Gedankenstrich; 10 ObS 160/98x, SSV NF 12/111). Es sollten im GSVG nicht nur wie bisher die Mitglieder einer Kammer der gewerblichen Wirtschaft bzw bestimmter Gesellschaften, die Mitglieder einer Kammer der gewerblichen Wirtschaft sind, pflichtversichert sein, sondern alle selbstständig erwerbstätigen Personen, die aufgrund einer betrieblichen Tätigkeit Einkünfte iSd § 22 Z 1 bis 3 und 5 und (oder) des § 23 des Einkommensteuergesetzes 1988 erzielen ( Teschner/ Widlar , GSVG, 88 Erg. Lfg § 2 Anm 13; B. Karl , Die Unterschiede zwischen gewerblichen und „neuen“ Selbstständigen und die daraus resultierenden verfassungsrechtlichen Probleme, ASoK 2000, 85, 86). Mit der Schaffung der neuen Sozialversicherungstatbestände sollte nicht nur die Einbeziehung der nicht durch das Freiberuflich Selbstständigen Sozialversicherungsgesetz (FSVG) erfassten freien Berufstätigkeiten, sondern vor allem auch die Einbeziehung unbefugter Gewerbeausübung in die Sozialversicherung erreicht werden ( Tomandl aaO) . Seit dem ASRÄG 1997 sind also die „alten Selbständigen“ eine allein durch das formale Element der Kammermitgliedschaft fassbare Gruppe, während Grundlage der Sozialversicherungspflicht der „neuen Selbständigen“ die steuerliche Erfassung des Einkommens ist, ohne dass es auf berufsrechtliche Aspekte ankommt ( B. Karl , aaO)

1.3. Seit dem ASRÄG 1997 wird der Unfallversicherungsschutz der in der Unfallversicherung teilversicherten selbstständig Erwerbstätigen demnach einerseits wie schon zuvor durch die Mitgliedschaft zu einer Kammer der gewerblichen Wirtschaft erworben (§ 8 Abs 1 Z 3 lit a erster Gedankenstrich ASVG), die wiederum an den Besitz einer Gewerbeberechtigung anknüpft (§ 2 Abs 1 Wirtschaftskammergesetz 1998 BGBl I 1998/103). Die zweite Gruppe („neue Selbstständige“) umfasst alle selbstständig Erwerbstätigen, die ohne Mitglied einer Wirtschaftskammer zu sein, in der Kranken oder Pensionsversicherung gemäß § 2 Abs 1 Z 4 GSVG pflichtversichert sind (§ 8 Abs 1 Z 3 lit a zweiter Gedankenstrich ASVG).

1.4. Dass der Kläger aufgrund seiner gemäß § 2 Abs 1 Z 4 GSVG abgegebenen Erklärung zur Pflichtversicherung zu dieser (zweiten) Gruppe zu zählen ist, wird von der Revisionswerberin nicht in Frage gestellt. Die Ansicht, dem Kläger solle dennoch kein Versicherungsschutz zukommen, weil er über keine Gewerbeberechtigung und keine Kammermitgliedschaft verfügt, steht mit der oben wiedergegebenen seit dem ASRÄG 1997 geltenden Rechtslage (§ 2 Abs 1 Z 4 GSVG bzw § 8 Abs 1 Z 3 lit a zweiter Gedankenstrich ASVG) nicht in Einklang.

Den von den „neuen Selbständigen“ zu leistenden Sozialversicherungsbeiträgen steht natürlich auch ein entsprechender Versicherungsschutz gegenüber. Soweit daher eine unbefugte Gewerbeausübung eine Pflichtversicherung als „neuer Selbständiger“ begründet, besteht auch für sie der Schutz der Unfallversicherung (vgl Tomandl in Tomandl , SV System 13. Erg. Lfg 281).

2. Schon aus diesem Grund ist auch der Verweis auf die von der Revisionswerberin zitierte Rechtsprechung (RIS Justiz RS0083633) nicht zielführend. Diese Rechtsprechung erging zur Frage, was zur Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit gehört und betrifft die Abgrenzung von Tätigkeiten, die in einem örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Erwerbstätigkeit stehen, von eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten, die nicht vom Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung erfasst sind. Als Abgrenzungskriterium wurden in erster Linie berufsrechtliche Bestimmungen herangezogen und ausgesprochen, dass sich der an die Kammermitgliedschaft geknüpfte Versicherungsschutz auf Tätigkeiten erstreckt, die im Zusammenhang mit dem Gewerbebetrieb stehen, der die Grundlage der Kammermitgliedschaft bildet. Entscheidend für den Versicherungsschutz sei aber auch bei Selbstständigen allein, ob sich das Verhalten als Ausübung der Erwerbstätigkeit darstellt. So wurde etwa eine Schiabfahrt eines OHG Gesellschafters, auf der sich der Unfall ereignete, im Hinblick auf die vorherigen Gespräche mit dem Geschäftspartner als in einem wesentlichen Umfang von betrieblichen Interessen mitbestimmt angesehen (10 ObS 108/08t, SSV NF 22/59).

Im vorliegenden Fall bezweifelt die Revisionswerberin gar nicht, dass die Tätigkeit des Klägers, bei der der Unfall passierte, unmittelbar der Aufrechterhaltung, Förderung und Abwicklung dessen selbstständiger Existenz als Estrichverleger diente. Ihre Forderung, dem nach § 8 Abs 1 Z 3 lit a zweiter Gedankenstrich ASVG bzw § 2 Abs 1 Z 4 GSVG pflichtversicherten Kläger sollte dennoch mangels Mitgliedschaft bei einer Wirtschaftskammer kein Unfallversicherungsschutz zukommen, findet daher in der zitierten Rechtsprechung keine Grundlage.

Ist die vom Rechtsmittelwerber als erheblich bezeichnete Rechtsfrage bereits aus dem Gesetzestext zu lösen, ist trotz Fehlens einer ausdrücklichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs keine erhebliche Rechtsfrage gegeben (RIS Justiz RS0042656).

Die außerordentliche Revision ist somit zurückzuweisen.