JudikaturJustiz10Ob39/23t

10Ob39/23t – OGH Entscheidung

Entscheidung
19. Dezember 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Nowotny als Vorsitzenden sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin Dr. Faber und die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H*, vertreten durch MMMag. Dr. Franz Josef Giesinger Rechtsanwalt GmbH in Götzis, gegen die beklagte Partei G*, vertreten durch Rechtsanwaltskanzlei Dr. Lins Dr. Öztürk KG in Bludenz, wegen 6.057,38 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 9. August 2023, GZ 4 R 108/23y 50, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 4. April 2023, GZ 7 Cg 17/22b 43, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Begründung:

[1] Der Beklagte litt an einer Depression und fügte sich aufgrund dieser selbst eine Verletzung am Fuß zu, deretwegen er am 20. 8. 2021 in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Dem Wunsch der Ärzte, die psychiatrische Abteilung eines Landeskrankenhauses aufzusuchen, folgte der Beklagte nicht, sondern er verließ das Krankenhaus. Wegen der Gefahr der Selbstgefährdung verständigten die Ärzte die Polizei, die den Beklagten finden und dem Amtsarzt vorführen sollte, um eine Unterbringung nach dem Unterbringungsgesetz (UbG) zu veranlassen.

[2] Eine Beamtin und ein zweiter Beamter machten sich daraufhin auf die Suche nach dem Beklagten. Sie fanden ihn bald, hielten ihn an und erklärten ihm, dass sie ihn zurück in das Krankenhaus bringen und ihm helfen wollten. Der Beklagte wollte weglaufen, was der zweite Beamte verhinderte, indem er den Beklagten gegen eine Wand drückte. Herbeigerufen als Verstärkung fuhren der Kläger und ein weiterer, vierter Beamter mit dem Polizeiauto vor. In diesem Moment riss sich der Beklagte los und lief davon.

[3] Die Beamtin und der mit dem Kläger herbeigerufene vierte Beamte verfolgten den Beklagten zu Fuß und stellten ihn am Bahnhof. Der Beklagte stellte sich dort mit dem Rücken an die Wand und legte beide Hände auf den Rücken, um so zu verhindern, dass ihm Handfesseln angelegt werden. Der Kläger und der zweite Beamte kamen hinzu. Die Polizeibeamten teilten dem Beklagten mit, er sei festgenommen und müsse mitkommen. Der Beklagte wurde mehrfach aufgefordert, mitzukommen, zeigte aber keine Reaktion, sondern verharrte angelehnt an die Wand und versteckte seine Hände hinter dem Rücken. Auch der Versuch, ihn am Ellbogen zu ergreifen und mitzuziehen, funktionierte nicht, da der Beklagte sich losriss. Er befolgte auch nicht die Aufforderung, die Hände nach vorne zu geben, damit Handfesseln angelegt werden können. Der Beklagte wehrte sich nicht aktiv, sondern nur passiv, indem er die Hände auf dem Rücken hielt und nicht mitgehen wollte.

[4] Der Kläger und der vierte Beamte verständigten sich darauf, beim Beklagten die Armwinkelsperre anzusetzen. Sie stellten sich seitlich rechts und links neben den Beklagten, erfassten jeweils mit einer Hand eine Hand des Beklagten unter der Schulter und drehten diese auf den Rücken. Dies ist derart schmerzhaft, dass der Beklagte sich nach vorne neigte, bis er zu Boden stürzte. Um den Sturz abzufangen und zu verhindern, dass sich der Beklagte verletzte, ergriffen ihn beide Beamte mit ihrer jeweils freien Hand im Bereich der Schulter vorne. Dabei wurde die rechte Hand des Klägers zwischen der Brust des Beklagten und dem Asphalt eingeklemmt. Der Kläger erlitt eine Abschürfung am Ellenbogen und eine Prellung/Zerrung des rechten Handgelenks.

[5] Dem Beklagten wurden Handschellen auf dem Rücken angelegt. Er wurde dem Amtsarzt vorgeführt, der die Unterbringung des Beklagten veranlasste.

[6] Die Festnahme und das Anlegen der Handfesseln erfolgten, um zu verhindern, dass der Beklagte neuerlich flieht, und um die Vorführung zum Amtsarzt durchzusetzen.

[7] Der Kläger begehrt nach Einschränkung die Zahlung von 6.057,38 EUR sA an Schmerzengeld, Verdienstentgang, Kosten einer Haushaltshilfe, Fahrtkosten und pauschalen Unkosten. Er sei am 20. 8. 2021 als Polizeibeamter im Zuge einer Amtshandlung verletzt worden, weil der Beklagte sich rechtswidrig und schuldhaft seiner Festnahme widersetzt habe. Hätte der Beklagte sich rechtmäßig verhalten und die Festnahme zugelassen, wäre der Einsatz von Körperkraft nicht notwendig gewesen.

[8] Der Beklagte wandte ein, dass es unverhältnismäßig gewesen sei, ihn zu Boden zu werfen und ihm Handfesseln anzulegen. Er habe keinen Widerstand geleistet, weder rechtswidrig noch schuldhaft gehandelt und sei für die Verletzung des Klägers nicht verantwortlich.

[9] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit 5.524,94 EUR statt und wies das Mehrbegehren von 532,44 EUR sA ab. Im Umfang der Abweisung des Mehrbegehrens erwuchs seine Entscheidung unangefochten in Rechtskraft. Der Kläger sei gemäß § 9 UbG zur Festnahme des Beklagten berechtigt gewesen. Im Hinblick auf das selbstverletzende Verhalten des Beklagten und seinen Fluchtversuch sei die Vorgangsweise des Klägers verhältnismäßig im Sinn des § 9 Abs 3 UbG gewesen. M öge auch der passive Widerstand des Beklagten nicht strafbar im Sinn des § 269 StGB gewesen sein, so sei er dennoch nicht gerechtfertigt und rechtswidrig gewesen. Der Beklagte wäre verpflichtet gewesen, den Beamten zum Amtsarzt zu folgen. Aufgrund seiner Weigerung habe der Beklagte mit körperlichen Maßnahmen des Klägers und dessen Verletzung rechnen müssen.

[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten gegen den stattgebenden Teil des Ersturteils Folge und wies das Klagebegehren zur Gänze ab. Der vom Beklagten geleistete passive Widerstand sei nach dem UbG nicht rechtswidrig, für den Kläger gelte der Haftungsmaßstab des § 1299 ABGB. Der Beklagte sei kein Tatverdächtiger gewesen, ihm sei nicht zumutbar gewesen, sich freiwillig verhaften zu lassen. Das passive Verhalten des Beklagten sei – anders als etwa die Flucht eines Straftäters – kein gefahrenerhöhendes Moment für den als Polizisten einschreitenden Kläger gewesen. Die hier vorzunehmende Interessenabwägung falle zugunsten des Beklagten aus. Die Revision sei zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zu sogenannten „Verfolgungsschäden“ im Zusammenhang mit einer Vorführung nach § 9 UbG fehle.

[11] Gegen dies Entscheidung richtet sich die vom Beklagten beantwortete Revision des Klägers, mit der er die Wiederherstellung des Ersturteils anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Revision ist unzulässig.

[13] 1.1 Die Gefährdung absolut geschützter Rechte – zu denen auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit gehört – ist grundsätzlich verboten (RS0022946). Daraus ergeben sich Sorgfaltspflichten (RS0022946 [T10]), die denjenigen treffen, der die Gefahr erkennen und die erforderlichen Schutzmaßnahmen ergreifen kann, also jenen, der die Gefahr beherrscht (1 Ob 97/15v [ErwGr 4.2 mwN = EvBl 2015/147 [ L. Nordmeyer ]). Wer demnach eine Gefahrenquelle schafft oder in seiner Sphäre bestehen lässt, muss die notwendigen und ihm zumutbaren Vorkehrungen treffen, um eine Schädigung anderer nach Tunlichkeit abzuwenden (RS0022778; RS0023719).

[14] 1.2 Die Rechtswidrigkeit eines schädigenden Verhaltens wird bei der Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter im Wege einer umfassenden Interessenabwägung geprüft (vgl RS0022917; RS0022939 [T6, T7 zu „Verfolgungsschäden“]; 1 Ob 158/21y [Rz 11] = ecolex 2022/20 [ N. Brandstätter ]), bei der insbesondere zu berücksichtigen ist, welche Verhaltenspflichten die Beteiligten (insbesondere der Schädiger) erfüllen können bzw ihnen zumutbar sind, ob das in Frage stehende Verhalten ex ante geeignet war, den schädigenden Erfolg (wahrscheinlich) herbeizuführen, sowie welcher Wert den bedrohten Rechtsgütern und Interessen zukommt (vgl RS0022899).

[15] 1.3 Stets entscheiden die Umstände des Einzelfalls, in welche Richtung die Interessenabwägung ausfällt (RS0022917 [T10]). Eine die Revision dennoch rechtfertigende Unvertretbarkeit der vom Berufungsgericht vorgenommenen Interessenabwägung zeigt der Revisionswerber im konkreten Fall nicht auf.

[16] 2.1 Gemäß § 9 Abs 1 UbG in der hier anzuwendenden Fassung BGBl I 2010/18 (aF) sind die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes berechtigt und verpflichtet, eine Person, bei der sie aus besonderen Gründen die Voraussetzungen der Unterbringung für gegeben erachten, zur Untersuchung zum Arzt (§ 8 UbG) zu bringen oder diesen beizuziehen. Bescheinigt der Arzt das Vorliegen der Voraussetzungen der Unterbringung, so haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes die betroffene Person in eine psychiatrische Abteilung zu bringen oder dies zu veranlassen (vgl nunmehr § 9 Abs 1 und 2 UbG idgF BGBl I 2022/147). Der Arzt und die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes haben gemäß § 9 Abs 3 UbG aF unter möglichster Schonung der betroffenen Person vorzugehen und die notwendigen Vorkehrungen zur Abwehr von Gefahren zu treffen (vgl § 9 Abs 4 Satz 1 UbG idgF).

[17] 2.2 Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes dürfen die Vorführung nötigenfalls mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchsetzen (§ 9 Abs 4 Satz 2 UbG). Dies war auch nach der am 20. 8. 2021 anwendbaren Rechtslage der Fall ( § 50 Abs 1 SPG, damals noch idF BGBl I 2016/61). Die Rechtslage hat sich nur insofern verändert, als der Gesetzgeber die Mitwirkung der Polizei an Unterbringungen mit der UbG IPRG Nov 2022, BGBl I 2022/147, abschließend im UbG regeln wollte. In den Gesetzesmaterialien wies der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, „dass bei der Ausübung unmittelbarer Zwangsgewalt auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders Bedacht zu nehmen ist. Die konkrete Maßnahme muss geeignet und unbedingt notwendig sein und es darf nur das gelindeste zum Ziel führende Mittel angewendet werden.“ (ErläutRV 1527 BlgNR XXVII. GP, 21 f; ebenso für die hier anzuwendende Rechtslage Ganner in Gitschthaler/Höllwerth , AußStrG II § 9 UbG Rz 21).

[18] 3.1 D er Revisionswerber macht geltend, dass auch der passive Widerstand einer unterzubringenden Person gegen ihre Festnahme durch eine dazu einsatzbefugte Person wie den Kläger als von der Allgemeinheit missbilligt angesehen werde. B ei der Durchführung von Maßnahmen unter Einsatz von Körperkraft bestehe offenkundig immer eine mit Verletzungsgefahr verbundene erhöhte Gefahrenlage.

[19] 3.2 Selbst wenn man aber hier davon ausginge, dass das Verhalten des Beklagten von der Rechtsordnung verpönt wäre und dass die vom Kläger und seinem Kollegen gewählte Vorgangsweise der Festnahme durch Anlegen von Handfesseln auf dem Rücken des Beklagten nach den Umständen des Falls das gelindeste zum Ziel führende Mittel im Sinn des § 9 Abs 3 UbG aF war, so fehlt es im konkreten Fall an der Schaffung einer gesteigerten Gefahrensituation durch den Beklagten, die deutlich über das allgemeine Berufsrisiko (1 Ob 158/21y Rz 15; vgl bereits L. Nordmeyer in EvBl 2015/147, 1040) eines Polizisten hinausginge (die ältere Rechtsprechung spricht von „allgemeinem Lebensrisiko“, vgl 1 Ob 97/15v [ErwGr 7.2]; 7 Ob 78/18y [ErwGr 3]; RS0023175 [T2]). N ach der Rechtsprechung begründet nicht einmal jede Flucht eines einer Straftat Verdächtigen per se eine Haftung für Schäden der ihn berechtigt – im Fall eines Polizisten: verpflichtend – verfolgenden Person, sondern nur eine solche, die für den Flüchtenden erkennbar mit einer gesteigerten Gefährdung der absolut geschützten Rechtsgüter des Verfolgers verbunden ist (zB überraschendes Weglaufen in die Dunkelheit auf rasch wechselndem und teilweise unebenem Untergrund, 1 Ob 158/21y Rz 11, 13; unerwartete plötzliche Flucht nach zunächst vorgegebener Kooperationsbereitschaft und Vortäuschung gesundheitlicher Beschwerden, 7 Ob 78/18y [ErwGr 3.1.]; schnelles Nachrennen entlang einer Baustellenabgrenzung, 1 Ob 97/15v [ErwGr 7.4]; Verfolgungsjagd mit Pkw im Ortsgebiet mit „mindestens“ 120 km/h, 8 Ob 3/87; Verfolgung auf dem Gelände eines Gärtnereibetriebs in der Dunkelheit und Sturz über eine ungesicherte Stützmauer, 10 Ob 55/11b).

[20] 3.3 Hier hatte der Beklagte hingegen seine Flucht beendet und gegenüber den Beamten weder Gewalt ausgeübt, noch solche angedroht (§ 269 StGB). Der Kläger verletzte sich nicht, weil der Beklagte eine gesteigerte Gefahrensituation geschaffen hat, die über das gewöhnliche Berufsrisiko eines Polizisten in einer solchen Situation hinausgeht, sondern weil der Beklagte infolge der vom Kläger (und seinem Kollegen) vorgenommenen Armwinkelsperre stürzte und der Kläger versuchte, ihn vor dem Aufprall auf dem Boden aufzufangen.

[21] 3.4 Die einzelfallbezogene Verneinung der Haftung des Beklagten durch das Berufungsgericht ist somit jedenfalls im Ergebnis nicht korrekturbedürftig.

[22] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 40, 50 ZPO, der Beklagte hat nicht auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen (RS0035979) .

Rechtssätze
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