Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofräte Dr. Chvosta und Mag. Schartner, Bakk., als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. April 2024, G305 2284641 1/11E, betreffend Behebung eines befristeten Aufenthaltsverbots (mitbeteiligte Partei: D I F, derzeit unbekannten Aufenthalts), den Beschluss gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der 1979 geborene Mitbeteiligte, ein rumänischer Staatsangehöriger, war seit September 2021 durchgehend mit Hauptwohnsitzen im österreichischen Bundesgebiet, wo seine Lebensgefährtin als Sexdienstleisterin arbeitet, gemeldet. Eine Anmeldebescheinigung hat er nicht beantragt.
2 Nachdem der Mitbeteiligte mit dem in Rechtskraft erwachsenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 9. Februar 2023 ausgewiesen worden war, wurde er am 3. Juli 2023 wegen des Verdachts des Drogenhandels, der Zuhälterei, grenzüberschreitenden Prostitutionshandels, Geldwäscherei und Mitwirkung an einer kriminellen Vereinigung in Österreich festgenommen. Am 6. Juli 2023 wurde über ihn die Untersuchungshaft verhängt.
3Nach Durchführung einer Einvernahme am 27. November 2023, in deren Rahmen der Mitbeteiligte die Begehung der ihm vorgeworfenen Delikte bestritt, erließ das BFA mit Bescheid vom 29. November 2023 gegen ihn gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein für die Dauer von sieben Jahren befristetes Aufenthaltsverbot. Es wurde in Anwendung des letzten Halbsatzes des § 70 Abs. 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub gewährt und einer Beschwerde gegen das Aufenthaltsverbot gemäß § 18 Abs. 3 BFA VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.
4In der Begründung führte das BFA aus, gemäß den umfassenden Berichten des „Kärntner Landeskriminalamts“ stehe der Mitbeteiligte im dringenden Tatverdacht, im Rahmen einer kriminellen Vereinigung Verbrechen nach dem SMG begangen zu haben. So solle er als Mitglied einer kriminellen Vereinigung Suchtmittel, insbesondere Kokain, vor allem in „Rotlichtlokalen“ und Diskotheken, gewinnbringend verkauft bzw. potenzielle Suchtmittelabnehmer an seine Komplizen vermittelt haben. Der Mitbeteiligte sei zwar noch nicht verurteilt, es bestünden allerdings „keinerlei Zweifel an der Verwirklichung der Tat“. Angesichts der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft seit Anfang Juli 2023 trotz regelmäßiger Überprüfung von deren Rechtmäßigkeit könne davon ausgegangen werden, dass der Mitbeteiligte wegen seiner Taten zeitnah rechtskräftig für Verbrechen nach dem SMG strafgerichtlich verurteilt werde. Somit könne das BFA begründet und berechtigt davon ausgehen, dass die Voraussetzungen gemäß § 67 FPG für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes „klar gegeben“ seien.
5 Am 10. Jänner 2024 wurde die Untersuchungshaft unter Anwendung gelinderer Mittel, nämlich der Weisung, unter Befolgung einer regelmäßigen Meldepflicht in der Wohnung seiner Lebensgefährtin Unterkunft zu nehmen und einer geregelten Beschäftigung nachzugehen, aufgehoben. Am Tag darauf wurde der Mitbeteiligte vom BFA auf dem Landweg nach Slowenien abgeschoben.
6Der gegen den Bescheid des BFA vom Mitbeteiligten erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach einer in Abwesenheit des Mitbeteiligten durchgeführten mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 15. April 2024 statt und behob diesen Bescheid ersatzlos. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision des BFA, zu der keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde. Die Revision erweist sich wie die nachstehenden Ausführungen zeigen unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als unzulässig.
8 Gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. la erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 BVG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
9Das BVwG ging davon aus, dass im vorliegenden Fall der Gefährdungsmaßstab des § 67 Abs. 1 erster und zweiter Satz FPG („tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“) maßgeblich sei, das persönliche Verhalten des Mitbeteiligten jedoch eine solche Gefahr derzeit nicht darstelle. Die über den in Österreich unbescholtenen Mitbeteiligten verhängte Untersuchungshaft sei unter Anwendung gelinderer Mittel beendet worden, ein Ermittlungsverfahren werde zwar geführt, doch sei noch keine Anklage erhoben worden. Weder die Verhängung der Untersuchungshaft noch die Anordnung gelinderer Mittel erlaube angesichts des laut Mitteilung der Staatsanwaltschaft Klagenfurt (zuletzt) vom 21. März 2024 noch nicht abgeschlossenen Ermittlungsverfahrens die vom BFA gezogene Schlussfolgerung, dass mit einer rechtskräftigen Verurteilung des Mitbeteiligten zu rechnen sei. Die Erstellung einer ein Aufenthaltsverbot rechtfertigenden Gefährdungsprognose sei daher nicht möglich, zumal hinzukomme, dass der Mitbeteiligte durch seine Abschiebung dem weiteren Verfahren entzogen worden und unbekannten Aufenthalts sei. In Ermangelung einer strafgerichtlichen Verurteilung erfülle der Mitbeteiligte derzeit die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots nicht.
10Dagegen wendet die Revision in ihrer gemäß § 28 Abs. 3 VwGG vorgetragenen Zulässigkeitsbegründung ein, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der für die Verhängung aufenthaltsbeendender Maßnahmen durchzuführenden Gefährdungsprognose auch ein noch nicht gerichtlich oder verwaltungsbehördlich bestraftes Verhalten des Fremden herangezogen werden könne, wobei ein solches Vorgehen jedoch in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren getroffene Feststellungen zum Fehlverhalten erfordere. Von dieser Rechtsprechung sei das BVwG abgewichen, weil im vorliegenden Fall nichts dagegenspreche, das Fehlverhalten des Mitbeteiligten selbständig zu prüfen und entsprechende Feststellungen als Grundlage für ein Aufenthaltsverbot zu treffen.
11Der Revision ist einzuräumen, dass es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zulässig ist, das Vorliegen eines Verhaltens, das (noch) nicht zu einer gerichtlichen oder verwaltungsbehördlichen Bestrafung geführt hat, selbständig zu prüfen und auf Basis entsprechender Feststellungen ein Aufenthaltsverbot zu erlassen. Demnach lässt sich nicht generell annehmen, die strafgerichtliche Unbescholtenheit eines Fremden müsse in jedem Fall zu einer positiven Gefährdungsprognose führen (vgl. etwa VwGH 24.4.2020, Ra 2020/21/0008, Rn. 9, mwN, und daran anschließend VwGH 9.6.2022, Ra 2021/21/0157, Rn. 12). Eine negative Gefährdungsprognose setzt jedoch wie auch in der Amtsrevision erkannt wirdentsprechende, in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren getroffene Feststellungen zum Fehlverhalten selbst und nicht bloß zu einer allenfalls bestehenden, nicht weiter verifizierten Verdachtslage voraus (vgl. etwa VwGH 14.11.2023, Ra 2023/18/0308, Rn. 13, mwN; idS auch VwGH 25.1.2018, Ra 2017/21/0237, Rn. 8).
12 Diesen Anforderungen genügte die Begründung des BFA schon deshalb nicht, weil es sich auf die Annahme eines aus der Anhaltung in Untersuchungshaft ableitbaren (dringenden) Tatverdachts beschränkte und überdies die leugnende Verantwortung des Mitbeteiligten in keiner Weise inhaltlich in Beziehung zu den als maßgeblich angesehenen Berichten des „Kärntner Landeskriminalamts“ setzte. Außerdem verwies das BVwG zutreffend darauf, dass bei Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses die vom BFA für seinen Standpunkt als wesentlich angesehene Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nicht mehr aktuell war. Der an einer Stelle in der Zulässigkeitsbegründung der Amtsrevision auch noch erhobene Vorwurf, das BVwG habe sich nicht mit den vom BFA herangezogenen Argumenten auseinandergesetzt, geht daher von vornherein ins Leere. Vielmehr ging das BVwG insoweit im Ergebnis zu Recht von einer unschlüssigen Beweiswürdigung aus, die schon die Feststellungen zum gegen den Mitbeteiligten bestehenden (bloßen) Verdacht des Suchtgifthandels im Rahmen einer kriminellen Vereinigung so nicht zu tragen vermochten.
13 In der vorliegenden Konstellation war es aber entgegen der Meinung in der Amtsrevisionauch nicht unvertretbar, dass das BVwG zu der gegen den Mitbeteiligten bestehenden Verdachtslage keine eigenen Ermittlungen durchführte und keine Feststellungen zur (allfälligen) Begehung von Straftaten durch den Mitbeteiligten traf (zur Maßgeblichkeit des Vertretbarkeitskalküls in Bezug auf amtswegige Ermittlungen vgl. etwa VwGH 24.1.2023, Ra 2022/20/0328, Rn. 10, mwN). Einerseits müssen nämlich schon die Erfolgsaussichten derartiger Ermittlungen durch das BVwG ernsthaft bezweifelt werden, wenn es der zuständigen Staatsanwaltschaft mit Unterstützung der Sicherheitsbehörden mehr als acht Monate lang nicht möglich war, die Erhebungen gegen den Mitbeteiligten anklagereif zum Abschluss zu bringen. Andererseits verwies das BVwG zu Recht darauf, dass der Mitbeteiligte aufgrund seiner Abschiebung nach Slowenien unbekannten Aufenthalts und daher für zielführende Ermittlungen nicht zur Verfügung stand.
14Fallbezogen begründete es somit keinen zur Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses führenden Verfahrensmangel, dass das BVwG mangels „derzeit“ feststellbarer Gefährdung iSd § 67 Abs. 1 erster und zweiter Satz FPG durch den Aufenthalt des Mitbeteiligten in Österreich das gegen ihn vom BFA erlassene Aufenthaltsverbot ersatzlos behob. Es bleibt dem BFA im Übrigen ohnehin unbenommen, aufgrund neuer Sachverhaltselemente, wie im Falle einer strafgerichtlichen Verurteilung des Mitbeteiligten, neuerlich ein Aufenthaltsverbot gegen ihn zu erlassen.
15 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG fallbezogen grundsätzliche Bedeutung zukäme. Sie war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG mit Beschluss zurückzuweisen.
Wien, am 24. Oktober 2024
Rückverweise