Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar als Richter sowie die Hofrätin Dr. Kronegger als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr.in Zeitfogel, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 5. Februar 2024 mündlich verkündete und am 11. Juli 2024 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W172 2262139 1/16E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: M A, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1Der Mitbeteiligte ist ein der arabischen Volksgruppe zugehöriger Staatsangehöriger Syriens. Er stammt aus Manbij und ist sunnitischen Glaubens. Er stellte am 15. Februar 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den er im Wesentlichen damit begründete, Syrien wegen des Krieges verlassen zu haben. Die Kurden sowie das syrische Regime hätten versucht, ihn anzuwerben. Er interessiere sich nicht für Politik und wolle „neutral bleiben“.
2 Mit Bescheid vom 10. Oktober 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Mitbeteiligten hinsichtlich des Status des Asylberechtigten ab, erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr.
3 Der gegen die Nichtzuerkennung von Asyl erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
4 Begründend führte das BVwG auf das für die Revision Wesentliche zusammengefasst Folgendes aus:
5 Der Mitbeteiligte, der den Wehrdienst beim syrischen Regime noch nicht abgeleistet habe, sei weder mit den nötigen finanziellen Mitteln ausgestattet noch gewillt, sich „freizukaufen“. Er könne nur über Grenzübergänge, die vom syrischen Regime kontrolliert würden, sicher und legal in dem Sinne, dass eine Einreise zugelassen werde nach Syrien zurückkehren. Eine Einreise über den für die Rückkehr in seine Heimatregion relevanten Grenzübergang Semalka Faysh Khabur sei „äußerst zweifelhaft“ und es sei unklar, ob der Grenzübergang derzeit für den Personenverkehr unbeschränkt geöffnet sei. Auch die Informationslage hinsichtlich anderer Grenzübergänge sei vage. Es bestehe für den Mitbeteiligten im Falle der Rückkehr die Gefahr, am Grenzkontrollposten verhaftet und zum Militärdienst bei der syrischen Armee eingezogen zu werden, wo er sich an Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen beteiligen müsse. Im Falle einer Weigerung würde er zumindest mit einer mit Folter verbundenen Gefängnisstrafe in einer syrischen Haftanstalt, wo es an Nahrung, Trinkwasser, Hygiene und Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung mangle, bestraft werden. Das syrische Regime betrachte Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern überdies auch als Ausdruck von politischem Dissens; auch die Ausreise des wehrpflichtigen Mitbeteiligten werde vom syrischen Regime als Ausdruck einer oppositionellen Gesinnung gesehen. Ihm sei daher Asyl zu gewähren.
6 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst Folgendes geltend macht:
7 Das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht abgewichen, weil es ohne nachvollziehbare Begründung davon ausgegangen sei, dass eine sichere und legale Einreise nach Syrien nur über Grenzübergänge möglich sei, die durch das syrische Regime kontrolliert würden. Die vom BVwG in diesem Zusammenhang zitierte ACCORD Anfragebeantwortung vom 6. Mai 2022 enthalte keine aktuellen Informationen und beziehe sich auf die willkürlichen Schließungen des Grenzübergangs Semalka Faysh Khabur im Jahr 2021, zuletzt im Dezember 2021. Seit Jänner 2022 sei der Grenzübergang wieder für den Personenverkehr geöffnet. Mit näher bezeichneten (aktuelleren) Anfragebeantwortungen, denen zufolge SemalkaFaysh Khabur (wahrscheinlich) weiterhin geöffnet sei, habe sich das BVwG nicht auseinandergesetzt. Es verkenne überdies, dass die Frage der Erreichbarkeit der Herkunftsregion darauf abstelle, ob der Asylwerber seine Herkunftsregion sicher erreichen könne, ohne dabei einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt zu sein. Es komme nicht darauf an, dass eine legale Einreisemöglichkeit bestehe (Hinweis auf VwGH 4.7.2023, Ra 2023/18/0108 und VwGH 29.2.2024, Ra 2024/18/0043).
8Das BVwG habe die festgestellte Verfolgung nicht mit einem der Verfolgungsgründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bzw. Art. 10 Statusrichtlinie verknüpfen können. Das BVwG hätte begründen müssen, weshalb konkret dem Mitbeteiligten eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werde. Eine schlüssige Erläuterung dazu sei dem Erkenntnis jedoch nicht zu entnehmen; es mangle an einer überprüfbaren Feststellung zur unterstellten oppositionellen Gesinnung und somit an der Verknüpfung zu einem Verfolgungsgrund im Sinne der GFK bzw. der Statusrichtlinie, die jedoch eine Voraussetzung für die Asylgewährung darstelle (Hinweis auf VwGH 5.3.2020, Ra 2018/19/0576).
Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete, erwogen:
9 Die Revision ist aus den in der Amtsrevision geltend gemachten Gründen zulässig und begründet.
10Vorauszuschicken ist, dass die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG vom Verwaltungsgerichtshof gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sachund Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist (vgl. etwa VwGH 26.6.2025, Ra 2024/18/0421, mwN). Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren.
11Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 3.3.2025, Ra 2024/18/0034, mwN).
12 Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das BVwG seine Begründungspflicht im gegenständlichen Fall verletzt:
13 Das BVwG gewährte dem Mitbeteiligten, dem vom BFA bereits subsidiärer Schutz zuerkannt worden war, den Asylstatus mit der Begründung, eine sichere und legale Einreise nach Syrien bzw. in seine Herkunftsregion sei für ihn nur über vom syrischen Regime kontrollierte Grenzübergänge möglich. Dort bestehe für ihn die Gefahr, festgenommen und zum Militärdienst, im Zuge dessen er an Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen teilnehmen müsste, eingezogen zu werden. Im Falle der Weigerung würde ihm eine Haftstrafe unter unmenschlichen Bedingungen drohen. Wegen der Wehrdienstverweigerung und der Ausreise aus Syrien werde ihm vom syrischen Regime eine oppositionelle Gesinnung unterstellt.
14 Zur Begründung seiner Zweifel an der Einreisemöglichkeit stützte sich das BVwG auf die Berichtslage, der entnommen werden könne, dass nicht klar sei, ob der für den Mitbeteiligten zur Erreichung seiner Heimatregion maßgebliche Grenzübergang Semalka Faysh Khabur derzeit für den Personenverkehr geöffnet und eine Einreise über diesen Grenzübergang legal und sicher möglich sei. Die Berichtslage zu den anderen Grenzübergängen sei vage.
15 Dabei zog das BVwG einen im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr aktuellen ACCORD Bericht aus Mai 2022 heran, dem einerseits zu entnehmen ist, dass der Grenzübergang im Jahr 2021 mehrmals geschlossen worden sei, andererseits aber auch, dass Semalka Faysh Khabur am 27. Jänner 2022 wieder „vollständig geöffnet“ worden sei (Erk. S. 36). Jüngere Berichte, etwa den Themenbericht der Staatendokumentation vom 25. Oktober 2023 („Syrien Grenzübergänge“), dem zu entnehmen ist, dass der fragliche Grenzübergang unbeschränkt für den Personenverkehr geöffnet sei, ließ das BVwG vollkommen außer Acht. Die Schlussfolgerung des BVwG, die Einreise nach Syrien bzw. in seine Herkunftsregion sei dem Mitbeteiligten nicht möglich, ist daher schon aufgrund der auf veralteten Berichten beruhenden Feststellungen nicht nachvollziehbar.
16Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass es aus asylrechtlicher Sicht nicht darauf ankommen kann, ob die Einreise in einen verfolgungssicheren Landesteil aus der Sicht des potentiellen Verfolgers (hier: des syrischen Regimes) legal stattfindet, sondern nur, ob die den Grenzübergang beherrschenden Autoritäten eine Einreise in das sichere Gebiet zulassen (vgl. VwGH 29.2.2024, Ra 2024/18/0043). Ausschlaggebend ist, ob der Asylwerber seine Herkunftsregion sicher erreichen kann, ohne dabei einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt zu sein (vgl. VwGH 4.7.2023, Ra 2023/18/0108).
17 Zur Wehrdienstverweigerung und der damit in Verbindung stehenden Ausreise des Mitbeteiligten aus Syrien entnahm das BVwG der Berichtslage, dass dies vom syrischen Regime als Ausdruck von oppositionellem Dissens gewertet werde. Der Mitbeteiligte gehöre aus Sicht des syrischen Regimes jener Gruppe von Wehrdienstverweigerern an, denen eine negative Einstellung gegenüber dem Regime unterstellt werde. Daher ging das BVwG vom Bestehen eines GFK Konnexes aus.
18 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur auch im Revisionsfall maßgeblichenBerichtslage zu Syrien festgehalten, dass sich aus den Länderberichten ein differenziertes Bild der Haltung des syrischen Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern ergibt und aus dieser Berichtslage nicht mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden kann, dass jedem den Militärdienst verweigernden Syrer eine oppositionelle Haltung unterstellt werde (vgl. VwGH 21.12.2023, Ra 2023/18/0077). Der Verwaltungsgerichtshof hat ferner bereits ausgeführt, nach dieser Berichtslage lasse sich gerade kein Automatismus dahingehend als gegeben annehmen, dass jedem im Ausland lebenden Syrer, der seinen Wehrdienst nicht abgeleistet hat, im Herkunftsstaat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt und deswegen eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde (vgl. VwGH 6.3.2025, Ra 2024/18/0214, mwN).
19 Mit seiner Begründung, dem Mitbeteiligten drohe im Falle der Rückkehr asylrelevante Verfolgung, da ihm vom syrischen Regime aufgrund der Wehrdienstverweigerung und der Ausreise aus Syrien eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werde, hat sich das BVwG auch über diese Vorgaben der hg. Judikatur hinweggesetzt. Anstatt unter Einbeziehung der konkreten Umstände des Einzelfalls etwa der vorgebrachten Rekrutierungsversuche darzulegen, warum dem Mitbeteiligten wegen der Wehrdienstverweigerung aus asylrechtlich relevanten Gesichtspunkten Verfolgung drohe, hat das BVwG aus den Länderberichten generell ableitet, dass die syrische Regierung eine Wehrdienstverweigerung als Ausdruck von politischem Dissens betrachtet, weswegen dem Betroffenen eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werde. Diese entfernte und die Umstände des Einzelfalls außer Acht lassendeMöglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht für die Gewährung von Asyl (vgl. VwGH 28.2.2024, Ra 2023/20/0619, mwN).
20Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen vorrangig aufzugreifender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 29. Juli 2025