JudikaturVwGH

Ra 2024/08/0041 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
19. Februar 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Sasshofer, über die Revision des H S in W, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Walfischgasse 12/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. März 2024, W198 2284299 1/7E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Wien Austria Campus), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Mit Bescheid der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (AMS) vom 12. September 2023 wurde ausgesprochen, dass der Revisionswerber gemäß § 38 iVm § 10 AlVG für den Zeitraum 24. August bis 4. Oktober 2023 seinen Anspruch auf Notstandshilfe verloren habe, weil er sich auf eine vom AMS zugewiesene zumutbare Beschäftigung bei der Firma D. nicht beworben habe.

2 Der Revisionswerber erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde. Er brachte vor, dass er am 16. August 2023 u.a. zwei Stellenangebote der Firma D. erhalten habe. Auf eines dieser Angebote habe er sich beworben, beim zweiten habe er sich nicht beworben, weil er gedacht habe, dass es dasselbe Inserat wäre und es sich um dieselbe Arbeitsstelle handle. Es sei keine Absicht gewesen, sondern lediglich ein Missverständnis. Er sei derzeit in einer schwierigen Lebenssituation (Trennung von seiner Frau) und in ärztlicher Behandlung beim Augenarzt. Wegen seiner Seheinschränkung falle es ihm schwer zu lesen. Er bitte daher noch einmal um Zusendung von Briefen per E Mail, weil er dann die Ansicht vergrößern könne.

3 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 4. Dezember 2023 wies das AMS die Beschwerde als unbegründet ab. Das Übersehen des Vermittlungsvorschlags liege allein in der Sphäre des Revisionswerbers. Er sei insgesamt nicht sorgfältig genug gewesen und habe durch dieses Verhalten das Nichtzustandekommen des Beschäftigungsverhältnisses in Kauf genommen.

4 Der Revisionswerber stellte einen Vorlageantrag, in dem er einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung stellte.

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab.

6 Es stellte fest, dass dem Revisionswerber am 8. August 2023 vier Vermittlungsvorschläge per Post übermittelt worden seien, darunter der verfahrensgegenständliche Vermittlungsvorschlag als Buffetkraft bei der Firma D. Aus dem Vermittlungsvorschlag gehe hervor, dass mit dem Dienstgeber eine Vorauswahl durch das AMS vereinbart worden sei, die vom Service für Unternehmen abgewickelt werde. Am 16. August 2023 habe der Revisionswerber dem AMS rückgemeldet, dass eine Bewerbung für alle vier Vermittlungsvorschläge erfolgt sei. Am 24. August 2023 habe das AMS vom Service für Unternehmen die Rückmeldung erhalten, dass sich der Revisionswerber nicht beworben habe.

7 Die Beschäftigung als Buffetkraft wäre dem Revisionswerber objektiv zumutbar gewesen. Durch sein Verhalten, sich nicht zu bewerben, habe er das Zustandekommen einer vom AMS angebotenen, kollektivvertraglichen Beschäftigung vereitelt. Gründe für eine Nachsicht der Rechtsfolgen lägen nicht vor.

8 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht wie schon das AMS in der Beschwerdevorentscheidung aus, dass der vom Revisionswerber behauptete Irrtum allein in dessen Sphäre liege. Er habe das verfahrensgegenständliche Stellenangebot übersehen und somit die nötige Sorgfalt außer Acht gelassen. Das Vorbringen, wonach ihm das Lesen wegen seiner Seheinschränkungen schwerfalle, könne zu keiner anderen Beurteilung führen, zumal dieser Umstand in der Beschwerde erstmals vorgebracht worden sei und zudem völlig unsubstanziiert und nicht belegt geblieben sei.

9 Die Erfüllung des Tatbestands des § 10 Abs. 1 AlVG sei sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht zu bejahen gewesen.

10 Von der Durchführung der beantragten Beschwerdeverhandlung sah das Bundesverwaltungsgericht ab, weil der maßgebliche Sachverhalt durch die Aktenlage hinreichend geklärt sei. In der Beschwerde seien keine noch zu klärenden Tatsachenfragen in konkreter und substanziierter Weise aufgeworfen worden, und es sei auch keine komplexe Rechtsfrage zu lösen gewesen.

11 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

12 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem das AMS eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13 Der Revisionswerber rügt unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG, dass das Bundesverwaltungsgericht die Verhandlungspflicht verletzt habe. Der Revisionswerber habe in der Beschwerde vorgebracht, dass er sich für die Stelle nur deswegen nicht beworben hätte, weil er gedacht hätte, dass es sich zwei Mal um dasselbe Angebot gehandelt hätte. In seiner Ergänzung zum Vorlageantrag vom 22. Jänner 2024 habe er vorgebracht, dass er unter schweren gesundheitlichen Schwierigkeiten an den Augen, namentlich unter dem grauen Star und verschiedenen Allergien litt, wodurch seine Sehkraft nachweislich stark eingeschränkt wäre, worüber er das AMS auch ordnungsgemäß informiert hätte. Er hätte bereits einen Operationstermin für den grauen Star am 14. Februar 2024. Im Rahmen eines persönlichen Termins beim AMS zu Beginn der Arbeitslosigkeit hätte er auch bereits darum gebeten, ihm Stellenzuweisungen nicht mit der Post, sondern via eAMS oder per E Mail zukommen zu lassen, damit er sie auf dem PC vergrößern und so lesbar machen könnte. Im konkreten Fall wären ihm jedoch vier Stellenangebote per Post zugegangen. Er hätte sich um drei der vier Stellen beworben, jedoch irrtümlich nicht erkannt, dass es sich bei den beiden Zuweisungen der Firma D. um zwei unterschiedliche Stellenangebote gehandelt hätte. Die Stellenprofile hätten nahezu ident ausgesehen, der Unterschied hätte lediglich darin bestanden, wohin die Bewerbungen zu adressieren wären. Er hätte die doppelte Zusendung durch das AMS für einen Irrtum gehalten und sich aus diesem Grund nur für eine der Stellen beworben, wobei er davon überzeugt gewesen wäre, sich auf alle zugewiesenen Stellen beworben zu haben. Da er durch die Bewerbung für eine der Stellen sein Interesse an der Tätigkeit deutlich zum Ausdruck gebracht hätte und sich die beiden Stellen lediglich in der Zuweisung zu verschiedenen Filialen unterschieden, wäre sein Wille zur Aufnahme einer Beschäftigung bei der Firma D. erkennbar gewesen. Dass er bereit gewesen wäre, in einer Filiale zu arbeiten, während er die Arbeit in einer anderen Filiale hätte vereiteln wollen, wäre schlicht abwegig. Da eine seiner Bewerbungen ordnungsgemäß vorgelegen wäre, hätte ihn das Unternehmen mühelos an verschiedenen Orten zum Einsatz bringen können. Trotz dieses Vorbringens in der Beschwerde und in der Ergänzung zum Vorlageantrag habe das Bundesverwaltungsgericht keine mündliche Verhandlung anberaumt und die Aufnahme von Beweisen (Einvernahme des Revisionswerbers sowie allenfalls auch eines Vertreters der Firma D. sowie Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens) unterlassen.

14 Die Revision ist aus den dargelegten Gründen zulässig und auch berechtigt.

15 Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

16 Bei Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um „civil rights“ im Sinn des Art. 6 EMRK. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gehört es im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer bei der Geltendmachung von „civil rights“ in der Regel auch von Amts wegen durchzuführenden mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. zuletzt etwa VwGH 22.6.2023, Ra 2023/08/0060, mwN).

17 Im vorliegenden Fall wurden schon in der Beschwerde prozessrelevante Behauptungen vorgebracht, die in der im Vorlageantrag ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung zu klären gewesen wären. Sollte es zutreffen, dass dem Revisionswerber zeitgleich zwei Stellenangebote übermittelt wurden, die sich nur in der Filiale und in der Einbringungsstelle für die Bewerbung unterschieden, dann könnte dem Revisionswerber jedenfalls nicht ohne weiteres der für die Vereitelung erforderliche zumindest bedingte Vorsatz unterstellt werden (vgl. zu dieser Voraussetzung etwa VwGH 27.8.2019, Ra 2019/08/0065, mwN). Bei der Prüfung des Verschuldens wäre insbesondere auch auf die Sehschwäche des Revisionswerbers Bedacht zu nehmen gewesen. Diese Beeinträchtigung wurde schon in der Beschwerde so konkret geltend gemacht, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht mit dem Hinweis auf ein bloß unsubstanziiertes Vorbringen darüber hinweggehen hätte dürfen, sondern gehalten gewesen wäre, die vermissten Belege einzufordern bzw. sich in der mündlichen Verhandlung selbst ein Bild vom Revisionswerber zu machen und ihn zu seinem Sehvermögen zu befragen. Dazu kommt, dass der Revisionswerber in der Revision auf eine Ergänzung zum Vorlageantrag verweist, in der u.a. die Augenerkrankung näher erläutert worden sei. Auf diesen Schriftsatz wird im angefochtenen Erkenntnis nicht Bezug genommen, und er findet sich auch nicht in den vorgelegten Verfahrensakten. Sollte er beim Bundesverwaltungsgericht vorhanden gewesen sein, so könnte umso weniger von bloß unsubstanziierten Behauptungen ausgegangen werden.

18 Von einem schon aus der Aktenlage ausreichend geklärten Sachverhalt, der das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG zum Absehen von der Verhandlung berechtigt hätte, konnte aber wie dargelegt schon auf Basis des Beschwerdevorbringens keine Rede sein.

19 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

20 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 19. Februar 2025

Rückverweise