JudikaturVwGH

Ra 2023/19/0239 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
22. Februar 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Mag. Dr. Pieler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision des M N, vertreten durch Dr. Michael Vallender, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Paulanergasse 10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Juni 2023, I416 2262172 1/20E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

1 Der Revisionswerber, ein tunesischer Staatsangehöriger, stellte am 24. Mai 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, dass er Dialysepatient sei und sich in Österreich behandeln lassen wolle. Bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat befürchte er eine Verschlechterung seiner Erkrankung.

2 Mit Bescheid vom 7. Oktober 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Tunesien zulässig sei (Spruchpunkt V.) und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheides erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das BVwG soweit hier maßgeblich aus, dass dem an terminaler Niereninsuffizienz leidenden Revisionswerber aufgrund der Verfügbarkeit der notwendigen medizinischen Behandlungen und Medikamente bei einer Rückkehr nach Tunesien keine Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte drohe. Der Allgemeinzustand des Revisionswerbers sei gut, er sei arbeitsfähig und verfüge im Herkunftsstaat über ein (familiäres) Netzwerk, das ihn unterstützen könne.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8 Zur Begründung ihrer Zulässigkeit bringt die Revision vor, dass laut den vom BVwG herangezogenen Länderinformationen die Anlage des arteriellen Shunts in Jendouba nicht verfügbar sei und dies zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen könne. Dazu komme, dass auch nicht alle angefragten Medikamente bzw. deren Wirkstoffe (Calciumacetat, Urapidil und Sevelamecarbonat) verfügbar seien. Das BVwG verweise auf alternative Wirkstoffe, jedoch bleibe offen, ob diese verfügbar seien und wenn ja, ob diese auch die geeignete Medikation für den Revisionswerber darstellen würden. Diesbezüglich habe das BVwG kein medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt.

9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 25.8.2022, Ra 2022/20/0048, mwN).

10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. VwGH 23.9.2020, Ra 2020/14/0175, mwN).

11 Zum Erkrankungen betreffenden Aspekt hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Urteil (der Großen Kammer) vom 7. Dezember 2021, Savran/Dänemark , 57467/15 (auszugsweise in deutscher Sprache wiedergegeben in NLMR 6/2021, 508 ff), neuerlich (unter Hinweis auf EGMR [Große Kammer] 13.12.2016, Paposhvili/Belgien , 41738/10) betont, dass es Sache des Fremden ist, Beweise vorzulegen, die zeigen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, er würde im Fall der Durchführung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme einem realen Risiko einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung unterzogen. Erst wenn solche Beweise erbracht werden, ist es Sache der Behörden des ausweisenden Staats, im Zuge der innerstaatlichen Verfahren jeden dadurch aufgeworfenen Zweifel zu zerstreuen und die behauptete Gefahr einer genauen Prüfung zu unterziehen, im Zuge derer die Behörden im ausweisenden Staat die vorhersehbaren Konsequenzen der Ausweisung auf die betroffene Person im Empfangsstaat im Lichte der dort herrschenden allgemeinen Lage und der persönlichen Umstände des Betroffenen erwägen müssen (Rn. 130). Die Verpflichtungen des ausweisenden Staats zur näheren Prüfung werden somit erst dann ausgelöst, wenn die oben genannte (hohe) Schwelle überwunden wurde und infolge dessen der Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK eröffnet ist (Rn. 135; vom EGMR in der Rn. 140 auch als „Schwellentest“ [„threshold test“] bezeichnet, der bestanden werden muss, damit die weiteren Fragen, wie etwa nach der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit einer angemessenen Behandlung, Relevanz erlangen [„As noted in paragraph 135 above, it is only after that test is met that any other questions, such as the availability and accessibility of appropriate treatment, become of relevance.“]; vgl. erneut VwGH Ra 2022/20/0048, mwN).

12 Vorauszuschicken ist, dass das BVwG in dem angefochtenen Erkenntnis davon ausging, dass die Schwelle für die Prüfung der Verfügbarkeit und der Zugänglichkeit einer angemessenen Behandlung im Herkunftsstaat überschritten sei. Das BVwG setzte sich mit den vom Revisionswerber vorgelegten Belegen zu seiner Erkrankung und deren Behandlungsbedürftigkeit beweiswürdigend auseinander und kam zum Ergebnis, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in seinen Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK mit sich bringen würde.

13 Das BVwG hat nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und unter Zugrundelegung aktueller Länderberichte sowie einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des BFA Feststellungen zur Erkrankung des Revisionswerbers, zur finanziellen Unterstützung des Revisionswerbers und dessen Familie in Tunesien, zu den Behandlungsmöglichkeiten sowie zur Verfügbarkeit der vom Revisionswerber benötigten Medikamente und auch solcher Medikamente, die in ihrer Wirksamkeit als dem Grunde nach gleichwertig einzustufen sind, getroffen. Auf Basis dieser Feststellungen hat das BVwG eine auf den konkreten Fall bezogene Beurteilung vorgenommen. Dass es dabei die in der oben angeführten Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien nicht beachtet hätte, wird von der Revision nicht aufgezeigt.

14 Wenn die Revision vorbringt, dass der Wirkstoff Calciumacetat im Herkunftsstaat des Revisionswerbers nicht verfügbar sei, ist ihr zu entgegnen, dass das BVwG nachvollziehbar ausführte, dass der alternative Wirkstoff Calciumcarbonat aus derselben Medikationsgruppe verfügbar sei. Zu den anderen vorgebrachten Wirkstoffen, die nach dem Revisionsvorbringen im Herkunftsstaat nicht verfügbar seien (Urapidil, Sevelamecarbonat), ist festzuhalten, dass der Revisionswerber diese nach den unbestritten gebliebenen Feststellungen des BVwG nicht einnimmt.

Dem Zulässigkeitsvorbringen der Revision ist weiters zu entgegnen, dass das BVwG feststellte, dass das Einsetzen eines arteriellen Shunts als Zugang für die Hämodialyse in Beja oder in einer medizinischen Einrichtung in Bizerte oder Tunis verfügbar sei und es dem Revisionswerber für chirurgische Eingriffe, die nicht im regionalen Krankenhaus in Gafsa durchgeführt werden können, zumutbar sei, dorthin zu fahren. Auch dem hält die Revision nichts Stichhaltiges entgegen.

15 Des Weiteren zeigt die Revision mit ihrem Vorbringen, das BVwG habe hinsichtlich der notwendigen Behandlungen die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens unterlassen, die Relevanz des vorgebrachten Verfahrensmangels nicht auf (zum Erfordernis der Relevanzdarstellung bei der Geltendmachung von Verfahrensmängeln vgl. etwa VwGH 3.11.2022, Ra 2021/19/0365, mwN). Im Übrigen wird in der Revision nicht behauptet, der Revisionswerber habe die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens im Verfahren beantragt (vgl. etwa VwGH 20.6.2023, Ra 2022/19/0049, mwN).

16 Die Frage, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner amtswegigen Ermittlungspflicht weitere Ermittlungsschritte setzen muss, unterliegt einer einzelfallbezogenen Beurteilung. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge insoweit nur dann vor, wenn die Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre (vgl. VwGH 27.1.2023, Ra 2022/19/0253, mwN). Mit dem bloßen Vorbringen, das BVwG verkenne den Umfang seiner Ermittlungspflicht, gelingt es der Revision vor dem Hintergrund des oben Gesagten nicht, eine grob fehlerhafte Beurteilung durch das BVwG aufzuzeigen.

17 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher nach § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG unter Abstandnahme von der beantragten Verhandlung gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 22. Februar 2024

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