JudikaturVwGH

Ro 2023/13/0020 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
Steuerrecht
25. Juni 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident MMag. Maislinger und die Hofrätin Dr. in Lachmayer, den Hofrat Dr. Bodis, die Hofrätin Dr. in Wiesinger sowie den Hofrat Mag. M. Mayr, LL.M., als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Karger, LL.M., über die Revision des Finanzamtes Österreich (Dienststelle Graz Stadt) in 8010 Graz, Conrad von Hötzendorfstraße 14 18, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 24. April 2023, RV/2100215/2023, betreffend Haftung gemäß § 9 BAO (mitbeteiligte Partei: Mag. M W), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1 Der Mitbeteiligte war Prokurist einer in der Fertigteilhaus Branche tätigen GmbH. Über die GmbH wurde im Jahr 2015 zunächst das Sanierungsverfahren ohne Eigenverwaltung und in der Folge das Konkursverfahren eröffnet. Im April 2019 wurde der Konkurs nach Schlussverteilung aufgehoben und die Firma gemäß § 40 FBG infolge Vermögenslosigkeit gelöscht.

2 Mit Haftungsbescheid vom 29. Oktober 2019 nahm das Finanzamt den Mitbeteiligten gemäß § 9 iVm 80 ff BAO für näher bezeichnete, aushaftende Abgabenschuldigkeiten der O GmbH (Primärschuldnerin) der Jahre 2014 und 2015 in Anspruch. Der Mitbeteiligte sei bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens über die O GmbH (im Firmenbuch eingetragener) Prokurist dieser Gesellschaft gewesen und als solcher ein Vertreter iSd §§ 9 und 83 BAO.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Finanzamt mit Beschwerdevorentscheidung vom 15. November 2022 ab, woraufhin der Mitbeteiligte die Vorlage seiner Beschwerde an das Bundesfinanzgericht beantragte.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis hob das Bundesfinanzgericht den angefochtenen Haftungsbescheid auf und sprach aus, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B VG zulässig sei.

5 Das Bundesfinanzgericht führte nach Wiedergabe des Verwaltungsgeschehens im Wesentlichen aus, nach der näher angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes habe der Geschäftsführer einer GmbH, wenn er einen Prokuristen mit den steuerlichen Agenden betraue, ihn zumindest in solchen Abständen zu überwachen, die es ausschließen, dass ihm Steuerrückstände verborgen bleiben. Hingegen komme eine Überprüfung der Tätigkeit des mit der Entrichtung der Steuern der Gesellschaft betrauten (oder hiefür verantwortlichen) Geschäftsführers durch den anderen Geschäftsführer nur dann in Betracht, wenn ein Anlass vorliege, an der Ordnungsmäßigkeit seiner Geschäftsführung zu zweifeln.

6 Wäre ein (mit den steuerlichen Agenden der Gesellschaft betrauter) Prokurist eine zur Vertretung juristischer Personen berufene Person im Sinne des § 80 Abs. 1 BAO, so bestünde diesbezüglich keine laufende Überwachungspflicht durch den Geschäftsführer, sondern - wie im Falle von mehreren Geschäftsführern, von denen ein Geschäftsführer mit den steuerlichen Agenden der Gesellschaft betraut ist - lediglich eine anlassbezogene Überwachungspflicht.

7 Beim Prokuristen handle es sich daher um keine zur Vertretung juristischer Personen berufene Person im Sinne des § 80 Abs. 1 BAO, weshalb dessen Heranziehung zur Haftung nicht auf diese Bestimmung gestützt werden dürfe.

8 Die Abgabenbehörde habe den angefochtenen Bescheid ausdrücklich darauf gestützt, dass der Mitbeteiligte ein Vertreter der Gesellschaft im Sinne des § 83 BAO gewesen sei. Diese Bestimmung normiere das Recht einer Partei, sich vor der Abgabenbehörde wenn nicht ihr persönliches Erscheinen ausdrücklich gefordert werde vertreten zu lassen, begründe aber für den Vertreter anders als nach §§ 80 und 81 BAO keine Verantwortlichkeit für abgabenrechtliche Pflichten des Vertretenen. Der Bevollmächtigte möge auf Grund der Vollmacht berechtigt sein, namens des Vertretenen jede Erklärung gegenüber der Abgabenbehörde abzugeben. Die Übertragung der Erfüllung der dem Vertretenen obliegenden Pflichten komme aber darin nicht zum Ausdruck. Die Heranziehung eines in § 83 Abs. 1 BAO bezeichneten Vertreters zur Haftung gemäß § 9 BAO für Abgaben des Vertretenen sei daher nicht zulässig.

9 Die Zulässigkeit der Revision begründete das Bundesfinanzgericht (sinngemäß) lediglich damit, dass die „Voraussetzung“ des Art. 133 Abs. 4 B VG vorliege.

10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision, in der zur Zulässigkeit vorbracht wird, zur Frage, ob ein Prokurist als ein vom Abgabepflichtigen bevollmächtigter Vertreter iSd § 83 Abs. 1 BAO zur Haftung gemäß § 9 Abs. 1 BAO herangezogen werden könne, liege noch keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor.

11 Das Bundesfinanzgericht legte dem Verwaltungsgerichtshof die ordentliche Amtsrevision nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem vom Mitbeteiligten keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, vor.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

13 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.

14 Gemäß § 9 Abs. 1 BAO haften die in den §§ 80 ff (leg.cit.) bezeichneten Vertreter neben den durch sie vertretenen Abgabepflichtigen für die diese treffenden Abgaben insoweit, als die Abgaben infolge schuldhafter Verletzung der den Vertretern auferlegten Pflichten nicht eingebracht werden können. Gemäß § 9 Abs. 2 BAO haften Notare, Rechtsanwälte und Wirtschaftstreuhänder wegen Handlungen, die sie in Ausübung ihres Berufes bei der Beratung in Abgabensachen vorgenommen haben, gemäß Abs. 1 nur dann, wenn diese Handlungen eine Verletzung ihrer Berufspflichten enthalten.

15 Gemäß § 80 Abs. 1 BAO haben die „zur Vertretung juristischer Personen berufenen Personen und die gesetzlichen Vertreter natürlicher Personen“ alle Pflichten zu erfüllen, die den von ihnen Vertretenen obliegen, und sind befugt, die diesen zustehenden Rechte wahrzunehmen. Sie haben insbesondere dafür zu sorgen, dass die Abgaben aus den Mitteln, die sie verwalten, entrichtet werden.

16 Gemäß § 83 Abs. 1 BAO können sich die Parteien und ihre gesetzlichen Vertreter, sofern nicht ihr persönliches Erscheinen ausdrücklich gefordert wird, durch natürliche voll handlungsfähige Personen, juristische Personen oder eingetragene Personengesellschaften vertreten lassen, die sich durch eine schriftliche Vollmacht auszuweisen haben, wobei sich gemäß Abs. 2 leg.cit. Inhalt und Umfang der Vertretungsbefugnis des Bevollmächtigten nach der Vollmacht richten.

17 Nach den Gesetzesmaterialien zur Stammfassung der BAO sollte mit der Bestimmung des § 9 BAO die „bisher im § 109 AO. den gesetzlichen Vertretern und sonstigen Bevollmächtigten auferlegte Haftung wegen schuldhafter Verletzung ihrer Pflichten, [...] zwar übernommen, jedoch auf eine Ausfallshaftung beschränkt werden“ (vgl. ErlRV 228 BlgNR 9. GP 56). Zu den §§ 80 ff BAO wird festgehalten, dass, „während in den §§ 10 bis 12 AVG. die gesetzlichen und gewillkürten Vertretungen gemeinsam behandelt werden, [...] in den §§ 80 bis 82 vorwiegend die gesetzliche, dagegen in den §§ 83 und 84 nur die gewillkürte Vertretung geregelt werden“ soll. Weiters: „Die Vorschriften der §§ 80 bis 82 entsprechen inhaltlich den bisherigen Bestimmungen der §§ 103 bis 105 und 108 AO. und dem § 11 AVG. § 83 entspricht der im § 10 AVG. über die Bevollmächtigung getroffenen Regelung, ebenso auch § 84“ (vgl. ErlRV 228 BlgNR 9. GP 59).

18 § 109 Abs. 1 Reichsabgabenordnung vom 22. Mai 1931, Deutsches RGBl. I Seite 161 (AO 1931), sah eine persönliche Haftung der „Vertreter und [der] übrigen in den §§ 103 bis 108 bezeichneten Personen“ neben dem Steuerpflichtigen u.a. bei Verkürzung von Steueransprüchen durch schuldhafte Verletzung der diesen Personen „in den § 103 bis 108 auferlegten Pflichten“ vor.

19 Die Bestimmung des § 103 AO 1931 regelte im Wesentlichen die Verpflichtungen gesetzlicher Vertreter juristischer und natürlicher Personen. Die Bestimmungen der §§ 104 bis 106 AO 1931 enthielten verschiedene Regelungen für (vom Eigentümer verschiedene) Vermögensverwalter, für Personenvereinigungen ohne Rechtspersönlichkeit und Zweckvermögen, sowie für den Fall des „Wegfalls“ des Steuerpflichtigen (etwa durch Tod). Weiters sah § 107 AO 1931 vor, dass Steuerpflichtige, die durch Abwesenheit oder sonst verhindert waren, ihre abgabenrechtlichen Pflichten zu erfüllen oder Rechte wahrzunehmen, „dies durch Bevollmächtigte“ tun konnten. Ergänzend dazu war in § 108 AO 1931 geregelt, dass „wer als Bevollmächtigter oder als Verfügungsberechtigter“ auftrat, die „Pflichten eines gesetzlichen Vertreters (§ 103)“ hatte.

20 Die angeführten Bestimmungen der AO 1931 entsprachen inhaltlich jenen der §§ 84 bis 90 der Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919, Deutsches RGBl. Seite 1993 (AO 1919), und wurden mit Bekanntmachung der neu gefassten AO 1931 mit einer davon abweichenden Paragraphennummerierung übernommen.

21 Nach den Gesetzesmaterialien zur Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919 wird zu den Bestimmungen der §§ 83 ff (über die Geschäftsfähigkeit, Vertretung, Vollmacht und Haftung) u.a. ausgeführt, nach dem bürgerlichen Recht würden die Handlungen des Vertreters nur für und wider den Vertretenen wirken, der Vertreter selber könne nicht in Anspruch genommen werden (ausgenommen im Fall des falsus procurator). Für das Steuerrecht würden diese Vorschriften nicht ausreichen. Der Entwurf zur AO 1919 verpflichte deshalb die gesetzlichen Vertreter juristischer und (ganz oder teilweise) geschäftsunfähiger Personen, „die Pflichten zu erfüllen, die den von ihnen vertretenen Personen obliegen, insbesondere auch die Steuern aus etwa von ihnen verwalteten Mitteln zu bezahlen“. Soweit der Steuerfiskus durch ihr Verschulden geschädigt werde, „sollen sie persönlich haften“. Weiters wird ausgeführt, dass die gleichen Grundsätze für „Bevollmächtigte und für die, die als solche auftreten“ gelten würden (vgl. Begründung zum Entwurf der Reichsabgabenordnung vom 6. August 1919, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 338, Drucksache [Aktenstück] 759, Seite 585 f).

22 Nach dem Gesagten zeigt sich, dass nach der AO 1919 bzw. AO 1931 nicht nur gesetzliche Vertreter, sondern jegliche bevollmächtigte (bzw. verfügungsberechtigte) Person damit auch ein Prokurist dem Grunde nach zur Haftung herangezogen werden konnten (vgl. dazu etwa BFH 19.7.1984, V R 70/79; vgl. dazu auch Becker/Riewald/Koch , Reichsabgabenordnung 9 Bd. I § 108 Anm. 2 und § 109 Anm. 1, sowie Loose in Tipke/Kruse , AO, § 35 Rz 7 (Lfg. 174) und § 69 Rz 11 (Lfg. 182), jeweils mit Hinweisen auf weitere Rechtsprechung des BFH; vgl. dazu im Übrigen auch VwGH 20.10.1966, 0132/65).

23 Nach dem Wortlaut der Bestimmung des § 9 Abs. 1 BAO haften die in den §§ 80 ff bezeichneten Vertreter. Nach der vom Bundesfinanzgericht vertretenen Rechtsansicht seien damit bei juristischen Personen im Ergebnis nur gesetzliche Vertreter gemeint. Diese Auslegung die im Gesetzeswortlaut keine Stütze findet entspricht allerdings nicht der Absicht des historischen Gesetzgebers, der (wie aufgezeigt) mit der Einführung der BAO die Möglichkeit der Heranziehung eines Bevollmächtigten zur Haftung wie nach der bis dahin geltenden AO offenkundig (wenn auch nur als Ausfallshaftung) beibehalten wollte (vgl. dazu Reeger/Stoll , Kommentar zur Bundesabgabenordnung, Wien 1966, § 9 Anm. 1; vgl. schon Reeger/Stoll , Die Bundesabgabenordnung, Wien 1961, § 9, Seite 11: „Vgl. bisher § 109 RAO. Im Gegensatz zum bisherigen Recht jetzt nur mehr Ausfallshaftung.“).

24 Dass die in § 9 Abs. 1 BAO normierte Haftung sämtliche in den §§ 80 bis 83 BAO genannten Vertreter potentiell treffen kann, wird auch im Schrifttum vertreten (vgl. Predota/Rzeszut in Rzeszut/Tanzer/Unger , Stoll-BAO², § 9 Tz 11 und 16; Fischerlehner in Fischerlehner/Brennsteiner , Abgabenverfahren I BAO 3 , § 9 Rz 1; Unger in Althuber/Tanzer/Unger , BAO HB, § 9, 46 f; Ellinger/Sutter/Urtz , BAO 3 , § 83 Anm. 16; ebenso schon Stoll , BAO Kommentar 116; widersprüchlich hingegen Ritz/Koran , BAO 8 , § 9 Rz 1 und 3). In diesem Sinne hat auch der Verwaltungsgerichtshof bereits zu erkennen gegeben, dass auch eine durch den Steuerpflichtigen bevollmächtigte Person (die nicht ein berufsmäßiger Parteienvertreter ist) zum Kreis der in § 9 Abs. 1 BAO genannten „in den §§ 80 ff. bezeichneten Vertreter“ gehören kann (vgl. VwGH 9.2.1982, 81/14/0072).

25 Indem das Bundesfinanzgericht die Möglichkeit der Haftungsinanspruchnahme von Prokuristen gemäß § 9 Abs. 1 BAO schon dem Grunde nach verneint hat, hat es somit die Rechtslage verkannt.

26 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 25. Juni 2025

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