Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des R A, vertreten durch Mag. László Szabó, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Claudiaplatz 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Mai 2022, W103 1305644 2/5E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der Revisionswerber ist ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe. Er stellte im Jahr 2005 (wie auch seine damalige, nunmehr geschiedene Ehefrau) einen Antrag auf internationalen Schutz und brachte vor, er sei Opfer von Inhaftierung, Folter und schwerer Misshandlung durch russische und tschetschenische Sicherheitskräfte wegen vermuteter Unterstützung von Rebellen gewesen; auch im Fall der Rückkehr drohe ihm Verfolgung. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 16. Juni 2009 wurde dem Revisionswerber (wie auch seiner Ehefrau) der Status des Asylberechtigten zuerkannt und festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
2 Der Revisionswerber wurde in Österreich in den Jahren 2006 bis 2021 insgesamt neun Mal strafgerichtlich verurteilt, davon zweimal durch Landesgerichte, nämlich durch das Landesgericht Linz mit Urteil vom 27. Juli 2018 wegen der Verbrechen des schweren gewerbsmäßigen Betruges, der schweren Körperverletzung und der schweren Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten (davon 16 Monate bedingt) sowie vom Landesgericht Innsbruck mit Urteil vom 23. März 2021 wegen des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten.
3 Mit Bescheid des BFA vom 28. Februar 2022 wurde dem Revisionswerber der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) aberkannt und festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme. Dem Revisionswerber wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt und kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Das BFA erließ zudem eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Russische Föderation zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
4 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die dagegen gerichtete Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision erklärte es für nicht zulässig.
5 Begründend führte das BVwG soweit gegenständlich von Relevanz aus, dass die Umstände, aufgrund derer dem Revisionswerber der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden sei, zwischenzeitlich weggefallen seien. Ihm drohe im Falle einer Rückkehr weder eine asylrelevante Verfolgung, noch ein reales Risiko einer Verletzung der durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte.
6 Die Rückkehrentscheidung stelle zwar einen Eingriff in das von Art. 8 EMRK geschützte Familienleben des Revisionswerbers dar und es bestehe ein berechtigtes Interesse an der Fortführung des Familienlebens mit seinem minderjährigen (2014 in Österreich geborenen) Sohn. Das Familienleben sei durch die wiederholten Inhaftierungen des Revisionswerbers aber mehrfach massiv eingeschränkt gewesen. Durch sein kontinuierliches, vorsätzliches strafbares Verhalten habe er die Trennung von seinem Sohn bewusst in Kauf genommen. Da der Revisionswerber in keinem gemeinsamen Haushalt mit seinem Sohn lebe und bereits zuvor meist nur telefonischen Kontakt zu diesem gehabt habe, werde er auch nach einer Rückkehr in die Russische Föderation auf diese Weise den Kontakt in hinreichender Weise aufrechterhalten können. Angesichts der mehrfachen Verurteilungen wegen schwerwiegender Straftaten müssten die bestehenden familiären Interessen gegenüber den öffentlichen Interessen zurücktreten.
7 Die gegenständliche Revision macht zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen geltend, es fehle an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der „Umsetzung“ des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 5. Mai 2022, C 451/19 und C 532/19, „in Asylaberkennungsfragen“. Es widerspreche der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wenn ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werde und von der Entscheidung die Rechte von Unionsbürgern der Sohn des Revisionswerbers sei mittlerweile österreichischer Staatsbürger berührt seien. Außerdem habe das BVwG das angefochtene Erkenntnis auf veraltete Länderberichte aus dem November 2021 gestützt; die Lage in der Russischen Föderation habe sich nicht nachhaltig gebessert.
8 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
9 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
10 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in der gesonderten Zulässigkeitsbegründung konkret darzulegen, in welchen Punkten die angefochtene Entscheidung von welcher Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht bzw. konkret welche Rechtsfrage der Verwaltungsgerichtshof uneinheitlich oder gar nicht beantwortet hat (vgl. VwGH 3.2. 2022, Ra 2021/19/0405, mwN).
12 Diesen Anforderungen wird die Revision mit der bloßen Nennung eines (Fragen der Familienzusammenführung betreffenden) Urteiles des EuGH und der Behauptung, es fehle an Rechtsprechung zur Frage der „Umsetzung“ dieses Urteils „in Asylaberkennungsfragen“, nicht gerecht.
Soweit die Revision auf die Unionsbürgerschaft des Sohnes des Revisionswerbers hinweist, ist lediglich anzumerken, dass nach der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH, der auch der Verwaltungsgerichtshof folgt, Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen einschließlich Entscheidungen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Status verleiht, verwehrt wird. Dazu kann es etwa dann kommen, wenn der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts an einen Familienangehörigen de facto gezwungen wäre, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, was jedoch voraussetzt, dass zwischen ihm und diesem Familienangehörigen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union zur Gänze zu verlassen (vgl. dazu etwa VwGH 3.12.2021, Ra 2021/18/0299, mwN). Dass diese Voraussetzungen gegenständlich vorlägen, legt die Revision nicht dar.
13 Sofern die Revision einen Verstoß des BVwG gegen die Verhandlungspflicht geltend macht, ist zunächst festzuhalten, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum auch hier maßgeblichen § 21 Abs. 7 erster Fall BFA VG ein Absehen von der mündlichen Verhandlung dann gerechtfertigt ist, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. zu diesen Leitlinien grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018, sowie aus der jüngeren Rechtsprechung etwa VwGH 10.2.2021, Ra 2020/18/0205, mwN).
14 Wenn die Revision ohne auf die Voraussetzungen für das Unterbleiben einer Verhandlung Bezug zu nehmen die Verletzung der Verhandlungspflicht rügt, verabsäumt sie es, konkret darzulegen, inwiefern das Bundesverwaltungsgericht von den in der Rechtsprechung zum hier maßgeblichen ersten Tatbestand des ersten Satzes des § 21 Abs. 7 BFA VG aufgestellten Leitlinien abgewichen wäre (vgl. VwGH 21.7.2022, Ra 2022/20/0087, mwN).
15 Soweit die Revision die mangelnde Aktualität der Länderberichte rügt, macht sie einen Verfahrensmangel geltend, dessen Relevanz in konkreter Weise darzulegen ist (vgl. VwGH 21.12.2021, Ra 2021/19/0438, mwN). Dem wird die Revision mit dem pauschalen Verweis auf die Beteiligung des tschetschenischen Machthabers Kadyrow am (erst seit Februar 2022 andauernden und in den vom BVwG herangezogenen Länderberichten noch nicht behandelten) Krieg in der Ukraine nicht gerecht.
16 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 10. November 2022