JudikaturVwGH

Ra 2021/21/0018 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
25. Mai 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision des C T, vertreten durch DDr. Rainer Lukits, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf Dietrich Straße 19/5, gegen das am 12. Juni 2020 mündlich verkündete und mit 25. August 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, L519 2231051 1/6E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines unbefristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

1. zu Recht erkannt:

Das angefochtene Erkenntnis wird insoweit, als damit die gegen den zugrunde liegenden Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22. April 2020 erhobene Beschwerde auch hinsichtlich Spruchpunkt II. dieses Bescheides (Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes) abgewiesen wurde, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

2. den Beschluss gefasst:

Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

1 Der 1974 geborene Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, hatte sich bereits in den 1980er Jahren für einen längeren Zeitraum in Österreich aufgehalten. Nach seiner Rückkehr in die Türkei reiste er 1991 wieder in Österreich ein und hielt sich seither mit einer etwa einjährigen Unterbrechung 2018/2019 durchgehend in Österreich auf. Er verfügte über Aufenthaltstitel, zuletzt seit 2014 über den unbefristeten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“. Der Revisionswerber ist mit einer türkischen Staatsangehörigen verheiratet, mit der er fünf Kinder hat, wobei eines der Kinder im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses noch minderjährig war.

2 Mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 8. Mai 2018 wurde der Revisionswerber wegen des Verbrechens der Vergewaltigung gemäß § 201 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Den dagegen vom Revisionswerber und von der Staatsanwaltschaft Innsbruck erhobenen Berufungen wurde mit Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 23. Oktober 2018 nicht Folge gegeben. Ein vom Revisionswerber gestellter Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens wurde mit Beschluss des Landesgerichtes Innsbruck vom 15. Jänner 2020 abgewiesen.

3 Der Verurteilung lag der Tatvorwurf zugrunde, der Revisionswerber habe am 10. September 2017 gemeinsam mit einem Mittäter sein Opfer an mehreren Orten und über einen Zeitraum von mehreren Stunden mit Gewalt und durch Entziehung der persönlichen Freiheit sowie durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben zur Duldung des Beischlafs, zur Vornahme und Duldung von näher genannten dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlungen sowie zur Duldung von näher genannten weiteren geschlechtlichen Handlungen genötigt. Das Opfer habe neben körperlichen Verletzungen aufgrund der erfahrenen Gewalt auch psychische Beeinträchtigungen erlitten.

4 Nach der Verkündung des Urteils vom 8. Mai 2018 reiste der Revisionswerber aus dem Bundesgebiet aus. Er wurde am 2. April 2019 in Bulgarien festgenommen und am 26. April 2019 nach Österreich überstellt, wo er bis zu seiner Entlassung am 2. Dezember 2021 die verhängte Haftstrafe verbüßte.

5 Mit Bescheid vom 22. April 2020 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bezug auf die genannte Straftat und die deshalb erfolgte strafgerichtliche Verurteilung sowie auf mehrere rechtskräftige Verwaltungsstrafen gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt I.) und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG ein unbefristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt II.). Weiters stellte es gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt III.), erkannte einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA VG die aufschiebende Wirkung ab und gewährte somit nach § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkte IV. und V.).

6 Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde erkannte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Beschluss vom 22. Mai 2020 die aufschiebende Wirkung zu.

7 Mit dem angefochtenen, nach mündlicher Verhandlung am 12. Juni 2020 verkündeten und mit 25. August 2020 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

8 Das BVwG traf ausführliche Feststellungen zur dem Urteil vom 8. Mai 2018 zugrunde liegenden Straftat des Verbrechens der Vergewaltigung gemäß § 201 Abs. 1 StGB und zu den vom Revisionswerber begangenen Verwaltungsübertretungen, unter anderem Übertretungen des § 366 GewO (unbefugte Gewerbeausübung), des § 5 Abs. 1 StVO (Lenken eines Fahrzeuges in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand), des § 81 Abs. 1 SPG (Störung der öffentlichen Ordnung) und des § 82 Abs. 1 SPG (aggressives Verhalten gegenüber Organen der öffentlichen Aufsicht). Weiters hielt es fest, der Revisionswerber habe versucht, sich durch seine spätestens am 9. Mai 2018 erfolgte Ausreise dem Vollzug der verhängten Haftstrafe zu entziehen. Überdies traf das BVwG Feststellungen zur familiären und beruflichen Situation des Revisionswerbers. Er sei seit 1990 immer wieder als Arbeiter erwerbstätig gewesen, zuletzt durchgehend von 4. Mai 2009 bis 7. Mai 2018, und verfüge über eine Einstellungszusage. Bis zu seiner Ausreise im Jahr 2018 habe er mit seiner Ehefrau und seinen Kindern im gemeinsamen Haushalt gelebt. Die Ehefrau und die anderen Kinder des Revisionswerbers würden durch einen der Söhne, der einen Gastronomiebetrieb betreibe, finanziell unterstützt. Der Revisionswerber habe auch Verwandte (Eltern, Geschwister) in der Türkei und spreche fließend türkisch, jedoch nur mangelhaft deutsch.

9 Rechtlich ging das BVwG davon aus, dass der Revisionswerber aufgrund der von ihm begangenen Straftat (und aufgrund seiner teilweise schwerwiegenden Verwaltungsübertretungen) eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinne des § 52 Abs. 5 FPG darstelle. Im Rahmen der durchgeführten Interessenabwägung kam das BVwG dann zu dem Ergebnis, dass das daraus ableitbare öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes des Revisionswerbers seine persönlichen Interessen am Verbleib in Österreich überwiege. Schon vor seiner Inhaftierung habe der Revisionswerber etwa ein Jahr lang keinen gemeinsamen Wohnsitz mehr mit seiner Ehefrau und seinen Kindern gehabt. Der Kontakt zu seinen in Österreich lebenden Familienmitgliedern könne durch telefonische Kommunikation, über das Internet oder durch Besuche der Familienmitglieder in der Türkei aufrechterhalten werden. Der Revisionswerber könne auch von der Türkei aus Unterhaltszahlungen für seinen minderjährigen Sohn leisten. Weiters verfüge er noch über hinreichende Anknüpfungspunkte in der Türkei.

10 In Bezug auf das verhängte Einreiseverbot ging das BVwG davon aus, dass in Anbetracht des Verhaltens des Revisionswerbers dessen Aufenthalt eine gegenwärtige, derart schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstelle, dass ein Einreiseverbot zu erlassen sei. Auch eine künftige Gefährdung von öffentlichen Interessen könne als „eindeutig gegeben angenommen werden“, was das BVwG auch darauf stützte, dass der Revisionswerber im Hinblick auf die Vergewaltigung keinerlei Schuld und Tateinsicht gezeigt habe. Überdies sei ein allfälliger Gesinnungswandel eines Straftäters (erst) anhand dessen Verhaltens in Freiheit nach dem Vollzug der Freiheitsstrafe zu beurteilen. Angesichts der auch aufgrund seines Fluchtversuches nach seiner Verurteilung ersichtlichen Bereitschaft des Revisionswerbers, die österreichische Rechtsordnung weiterhin zu missachten, sei die Erlassung eines unbefristeten Einreiseverbotes erforderlich, angemessen und verhältnismäßig.

11 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit dem Beschluss VfGH 24.11.2020, E 3367/2020, ablehnte und unter einem die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

12 Über die in der Folge rechtzeitig ausgeführte außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen:

13 Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG aus nachstehenden Gründen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG teilweise als zulässig und insoweit auch als berechtigt.

14 In Bezug auf die Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Nebenaussprüche, einschließlich der Nichtgewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise, enthält die vorliegende Revision kein, schon gar nicht eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG darlegendes Vorbringen. Sie ist daher insoweit schon deshalb unzulässig.

15 Zum Einreiseverbot macht die Revision zur Begründung ihrer Zulässigkeit geltend, dass die Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes auf Basis einer einzigen strafgerichtlichen Verurteilung vor dem Hintergrund der familiären Bindungen in Österreich unangemessen sei. Überdies verstoße die Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes gegen das Günstigkeitsprinzip nach Art. 7 EMRK, zumal im Zeitpunkt der Begehung der dem strafgerichtlichen Urteil zugrundeliegenden Straftat § 53 FPG in der Fassung des FrÄG 2017 in Kraft gestanden sei und nach dessen Abs. 3 Z 5 in der damaligen Fassung nur eine Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren die Verhängung eines Einreiseverbotes von unbefristeter Dauer gerechtfertigt habe. Erst seit Inkrafttreten des FrÄG 2018 am 1. September 2018 sei dafür eine Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren ausreichend.

16 Soweit die Revision damit die unbefristete Dauer des verhängten Einreiseverbotes bekämpft, erweist sie sich wie die nachstehenden Ausführungen zeigen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt.

17 Zwar geht der Einwand des Revisionswerbers, die Verhängung des gegenständlichen, auf § 53 Abs. 3 Z 5 FPG in der Fassung des FrÄG 2018 gestützten Einreiseverbotes sei aufgrund des Günstigkeitsprinzips unzulässig, schon deswegen ins Leere, weil es sich bei einem Einreiseverbot um keine Strafe, sondern um eine administrativrechtliche Maßnahme handelt (vgl. VwGH 24.1.2019, Ra 2018/21/0222, Rn. 9/10; siehe bei einer nachteiligen Rechtslagenänderung ebenfalls auf den Zeitpunkt der Entscheidung abstellend VwGH 25.9.2018, Ra 2018/21/0152, Rn. 20).

18 Allerdings zeigt die Revision im Ergebnis zu Recht auf, dass das BVwG bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist:

19 Bei der Festsetzung der Dauer eines Einreiseverbotes ist immer eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, bei der nicht nur auf das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen und das deshalb prognostizierte Vorliegen der von ihm ausgehenden Gefährdung, sondern auch auf seine privaten und familiären Interessen Bedacht zu nehmen ist.

20 Angesichts der dem Revisionswerber zur Last gelegten besonders verwerflichen Straftat der Vergewaltigung und der daraus vom BVwG vertretbar abgeleiteten sehr schwerwiegenden Gefährdung öffentlicher Interessen kann es auch unter dem Gesichtspunkt der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum aufgehobenen § 9 Abs. 4 Z 1 BFA VG zwar nicht zweifelhaft sein, dass gegen ihn die Erlassung eines Einreiseverbotes grundsätzlich zulässig ist (vgl. zu einem ähnlichen Fall VwGH 16.8.2022, Ra 2022/21/0084, Rn. 13). Dies stellt die Revision auch nicht in Frage.

21 Das BVwG hat aber aus den privaten und familiären Interessen des Revisionswerbers keine ersichtlichen Schlussfolgerungen in Bezug auf die Dauer des über ihn verhängten Einreiseverbotes gezogen. Vielmehr ließ das BVwG, erkennbar in Verkennung der Rechtslage, offen, warum ungeachtet der langen Aufenthaltsdauer und der familiären Beziehungen des Revisionswerbers in Österreich sowie seiner vor der gegenständlichen Verurteilung erfolgten beruflichen Integration ein grundsätzlich auf Lebenszeit angelegtes Fernbleiben vom Bundesgebiet selbst etwa nach einem allfälligen langjährigen Wohlverhalten nach seiner Entlassung aus der Haft und einer daraus zu erschließenden Abnahme des von ihm ausgehenden Gefährdungspotentials gerechtfertigt ist (vgl. dazu etwa VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0009, Rn. 36/37; VwGH 6.4.2021, Ra 2020/21/0453, Rn. 18/19; VwGH 22.2.2022, Ra 2021/21/0302, Rn. 16/17, oder zuletzt VwGH 30.3.2023, Ra 2021/21/0028, Rn. 22, jeweils mwN).

22 In Bezug auf die Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes ist das angefochtene Erkenntnis daher mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes behaftet, weshalb es insoweit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

23 Im Übrigen war die Revision mangels Vorliegens einer grundsätzlichen Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG in einem gemäß § 12 Abs. 3 VwGG gebildeten Fünfersenat mit Beschluss zurückzuweisen.

24 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere auf § 50 VwGG, iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 25. Mai 2023

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