JudikaturVwGH

Ra 2021/19/0473 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
17. September 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des A A, vertreten durch Mag. a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in Wien, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Juni 2021, W213 21860541/12E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 16. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2Mit Bescheid vom 10. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 30. Juni 2021 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 In seiner Begründung legte das BVwG unter anderem die Fluchtgründe des Revisionswerbers den Feststellungen zugrunde, nämlich dass Personen, die mit seinem verstorbenen Vater wegen des Erwerbs eines Grundstücks in Kontakt gestanden hätten, von ihm die Zahlung von $ 200.000, gefordert sowie diese Forderung mit Drohungen gegen ihn und seine Familie untermauert hätten. Rechtlich ging das BVwG davon aus, dass der Revisionswerber damit keinen Fluchtgrund im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention geltend gemacht habe, weil die Eigenschaft eines Fremden als „Geldschuldner“ zur Gewährung von Asyl aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nicht ausreiche.

5 Mit Erkenntnis vom 6. Oktober 2021, E 3037/2021, hob der Verfassungsgerichtshof das angefochtene Erkenntnis insoweit, als damit die Beschwerde des Revisionswerbers gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigen in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurde, wegen Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander, auf.

6 Im Übrigen somit hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab und trat sie mit Beschluss vom 9. November 2021 dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

7 Daraufhin brachte der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision ein, in der geltend gemacht wird, das BVwG habe die Asylrelevanz des als glaubwürdig erachteten Vorbringens des Revisionswerbers aufgrund seiner Angehörigeneigenschaft und damit seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der „Familie“ verkannt.

8 Nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, setzte der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 12. September 2023 das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C217/23 über die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 28. März 2023, EU 2023/0001 (Ra 2022/20/0289), vorgelegten Fragen aus.

9 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

10Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 BVG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.

11Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 BVG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 BVG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

12Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 41 VwGG, soweit nicht Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes oder infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vorliegt, das angefochtene Erkenntnis oder den angefochtenen Beschluss auf Grund des vom Verwaltungsgericht angenommenen Sachverhalts im Rahmen der geltend gemachten Revisionspunkte bzw. der Erklärung über den Umfang der Anfechtung zu überprüfen hat. Somit sind Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben und daher vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt werden konnten, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren entzogen (vgl. etwa VwGH 27.8.2025, Ra 2023/19/0343, mwN).

13Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht.

14 Zur Auslegung des Begriffs der „sozialen Gruppe“ hat sich der Verwaltungsgerichtshof bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung auf Art. 10 Abs. 1 lit. d der StatusRL und die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH bezogen. Damit das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ im Sinn dieser Bestimmung festgestellt werden kann, müssen nach der Rechtsprechung des EuGH zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. erneut VwGH 27.8.2025, Ra 2023/19/0343, mwN).

Der EuGH hat mit Urteil vom 27. März 2025, C217/23, unter anderem die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 28. März 2023, EU 2023/0001 (Ra 2022/20/0289), vorgelegten Fragen, nach welchen Kriterien das Vorliegen einer „deutlich abgegrenzten Identität“ im Sinne des Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU zu prüfen sei und nach welchen Kriterien sich die Beurteilung, ob im Sinne des Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU eine Gruppe als „andersartig“ betrachtet werde, beantwortet.

15 Dazu führte der EuGH aus, dass sich aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 in sämtlichen Sprachfassungen ergibt, dass die Wahrnehmung der Andersartigkeit der betroffenen Gruppe durch die sie umgebende Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist. Die in dieser Bestimmung genannte „deutlich abgegrenzte Identität“ der Gruppe stellt eine Voraussetzung dar, die nicht getrennt und autonom von der Betrachtung der sie umgebenden Gesellschaft, sondern im Zusammenhang mit dieser zu beurteilen ist.

16 In diesem Zusammenhang wies der EuGH darauf hin, dass es nicht nur auf die Wahrnehmung einiger Individuen ankommt, die Teil der umgebenden Gesellschaft sind. Um als Gruppe anerkannt werden zu können, die im Herkunftsland eine abgegrenzte Identität hat, muss die Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als Ganzes als andersartig betrachtet werden, was notwendigerweise erfordert, dass es sich um die Wahrnehmung eines wesentlichen Teils der Individuen dieser Gesellschaft handelt und nicht nur einzelner Akteure, deren Handlungen als Verfolgungshandlungen im Sinne der Richtlinie 2011/95 qualifiziert werden können. Andernfalls würden solche Handlungen ausreichen, um die davon betroffenen Personen als eine „bestimmte soziale Gruppe“ anzusehen, was diese Voraussetzung ihrer Wirksamkeit berauben würde.

17 Der Umstand, dass sich Opfer solcher Handlungen selbst als andersartig betrachten, kann für sich allein in diesem Zusammenhang ebenso wenig ausschlaggebend sein. Ist eine Familie in eine Blutfehde verwickelt, bedeutet der Umstand, dass sich die davon betroffenen Mitglieder der Familie subjektiv als andersartig wahrnehmen, für sich genommen nicht, dass die von ihnen gebildete Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, wie es Art. 10 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 erfordert.

18 Es kommt also darauf an, dass eine Gruppe insbesondere aufgrund sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen im Herkunftsland von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Dass die umgebende Gesellschaft eine Gruppe so wahrnimmt, kann insbesondere durch konkrete Anhaltspunkte, wie Diskriminierungen, Ausschließungen oder Stigmatisierungen belegt werden, die die Mitglieder der fraglichen Gruppe allgemein betreffen und sie an den Rand der sie umgebenden Gesellschaft drängen.

19 Folglich begründet der Umstand, dass einer Person, die internationalen Schutz beantragt, in ihrem Herkunftsland wegen einer auf einem Streit vermögensrechtlicher Natur beruhenden Blutfehde gegen alle oder manche Mitglieder ihrer Familie physische Gewalt bis hin zur Tötung droht, nicht die Feststellung, dass dieser Antragsteller einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 angehört. Einer solchen Person kann folglich auf dieser Grundlage nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden (vgl. zum Ganzen EuGH 27.3.2025, C 217/23, Rn 29, 35 bis 37 und 39).

20Der Verwaltungsgerichtshof hat sich nach Erlassung des genannten Urteils mit Erkenntnis vom 12. Mai 2025, Ra 2022/20/0289, mit den Ausführungen des EuGH zur Frage, wann eine Gruppe als eine „bestimmte soziale Gruppe“ gilt, auseinandergesetzt. Auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen.

21 Im vorliegenden Fall stellte das BVwG disloziert im Rahmen der rechtlichen Beurteilung fest, dass der Revisionswerber sein Herkunftsland verlassen habe, weil Personen, die mit seinem verstorbenen Vater wegen des Erwerbs eines Grundstücks in Kontakt gestanden hätten, vom Revisionswerber die Zahlung von $ 200.000, gefordert und diese Forderung mit Drohungen gegen ihn und seine Familie untermauert hätten.

22 Die auf Basis dieses Sachverhaltes vom BVwG vertretene Ansicht, wonach die Eigenschaft eines Fremden als „Geldschuldner“ zur Gewährung von Asyl aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nicht ausreiche, erweist sich aufgrund des zuvor wiedergegebenen Urteils des EuGH als mit dem Gesetz vereinbar. Wenn die Revision in diesem Zusammenhang geltend macht, dass das BVwG die Asylrelevanz des als glaubwürdig erachteten Vorbringens des Revisionswerbers aufgrund seiner Angehörigeneigenschaft und damit seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der „Familie“ verkannt habe, wird damit keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung aufgezeigt, weil nach der dargestellten Judikatur die Zugehörigkeit zu einer Familie, die in einen Streit vermögensrechtlicher Natur verwickelt ist, nicht allein ausreicht, um als zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Statusrichtlinie zugehörig betrachtet zu werden (vgl. VwGH 12.5.2025, Ra 2022/20/028, Rn 31).

23 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 17. September 2025