JudikaturVwGH

Ra 2023/19/0343 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
12. Juni 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk-Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 2023, W121 2266259-7E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: S H), den Beschluss gefasst:

Spruch

Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union in der Rechtssache C 217/23 über die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 28. März 2023, EU 2023/0001 (Ra 2022/20/0289), vorgelegten Fragen ausgesetzt.

1 Die Mitbeteiligte, eine syrische Staatsangehörige, stellte am 25. April 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz, welchen sie im Wesentlichen auf die allgemeine Bürgerkriegssituation in Syrien stützte.

2 Mit Bescheid vom 7. Dezember 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der Revisionswerberin auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihr den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung der gegen die Nichtzuerkennung von Asyl gerichteten Beschwerde der Mitbeteiligten Folge, erkannte der Mitbeteiligten den Status der Asylberechtigten zu und stellte gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 fest, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das BVwG aus, dass im Falle einer Rückkehr nach Syrien für die Mitbeteiligte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr bestehe, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen verfolgt zu werden. Hinzu trete eine Gefährdung wegen ihrer persönlichen Situation als alleinstehende, bisher unverheiratete Frau und es sei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Mitbeteiligte einer darauf beruhenden Verfolgung sowie Gewalt ausgesetzt wäre.

5 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die zur Zulässigkeit und in der Sache im Wesentlichen geltend macht, dass sich das BVwG in dem angefochtenen Erkenntnis nicht mit den Voraussetzungen für das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ und insbesondere nicht mit dem Kriterium der „Andersartigkeit“ von Frauen als sozialer Gruppe in Bezug auf Syrien auseinandergesetzt habe.

6 Aus Anlass eines Revisionsverfahrens, in dem ein afghanischer Staatsangehöriger seinen Antrag auf internationalen Schutz mit seiner Verfolgung durch den Cousin seines Vaters wegen Blutrache begründete, hat der Verwaltungsgerichtshof mit dem im Spruch genannten Beschluss vom 28. März 2023 dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„1. Ist die in Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) enthaltene Wendung ‚die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird‘ so auszulegen, dass in dem betreffenden Land eine Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität nur dann hat, wenn sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, oder ist es erforderlich, das Vorliegen einer ‚deutlich abgegrenzten Identität‘ eigenständig und losgelöst von der Frage, ob die Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, zu prüfen?

Falls nach der Antwort auf Frage 1. das Vorliegen einer ‚deutlich abgegrenzten Identität‘ eigenständig zu prüfen ist:

2. Nach welchen Kriterien ist das Vorliegen einer ‚deutlich abgegrenzten Identität‘ im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU zu prüfen?

Unabhängig von der Antwort auf die Fragen 1. und 2.:

3. Ist bei der Beurteilung, ob eine Gruppe im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU ‚von der sie umgebenden Gesellschaft‘ als andersartig betrachtet wird, auf die Sicht des Verfolgers oder der Gesellschaft als Ganzes oder eines wesentlichen Teiles der Gesellschaft eines Landes oder eines Teiles des Landes abzustellen?

4. Nach welchen Kriterien richtet sich die Beurteilung, ob im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU eine Gruppe als ‚andersartig‘ betrachtet wird?“

9 Der Beantwortung dieser Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union kommt für die Behandlung der vorliegenden Revision ebenfalls Bedeutung zu. Es liegen daher die Voraussetzungen des gemäß § 62 Abs. 1 VwGG auch vom Verwaltungsgerichtshof anzuwendenden § 38 AVG vor, weshalb das Revisionsverfahren auszusetzen war.

Wien, am 12. Juni 2024

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