JudikaturVwGH

Ra 2021/19/0406 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
21. Juni 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk-Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Seiler, über die Revision der revisionswerbenden Partei D M, alias N M, vertreten durch Dr. Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. September 2021, W215 2207187 1/19E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die revisionswerbende Partei, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, stellte am 8. Juli 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie im Wesentlichen damit begründete, homosexuell und transgender zu sein und ihren Herkunftsstaat verlassen zu haben, weil sie dort keine Rechte habe. Im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation befürchte sie, vergewaltigt und geschlagen zu werden.

2 Mit Bescheid vom 4. September 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der revisionswerbenden Partei ab, erteilte ihr keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Das BFA hielt fest, die Aussagen der revisionswerbenden Partei hinsichtlich ihrer Transsexualität seien ebenso glaubhaft wie das Vorbringen, dass es zu Gewalt gegen die revisionswerbende Partei in der Familie sowie zu Diskriminierungen gekommen sei. Eine asylrelevante Bedrohung für die revisionswerbende Partei in Russland könne jedoch nicht festgestellt werden.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde der revisionswerbenden Partei hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte der revisionswerbenden Partei aber den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu, erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung, behob die übrigen Spruchpunkte des Bescheides des BFA ersatzlos und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

5 Das BVwG stellte fest, die revisionswerbende Partei habe bereits im Herkunftsstaat gewusst, dass sie transgender sei. Sie habe in der Russischen Föderation im Herbst 2016 aktiv bei einer Transgender Organisation mitgearbeitet und bei der Gründung eines Festivals geholfen. Es habe zu keinem Zeitpunkt konkrete Bedrohungen oder körperliche Übergriffe seitens der russischen Behördenvertreter gegen die revisionswerbende Partei gegeben. Es habe zwar Übergriffe von Privatpersonen gegeben und die revisionswerbende Partei sei von ihrem Bruder mehrfach vergewaltigt worden, dies alles habe sich aber Jahre vor ihrer Ausreise ereignet und die revisionswerbende Partei habe auch keinen der Übergriffe von Privatpersonen angezeigt. Das BVwG stellte des Weiteren fest, dass LGBTI Personen in der Russischen Föderation im Alltag Diskriminierungen ausgesetzt wären, angefangen von sogenannten Mikroaggressionen bis hin zu physischen Übergriffen. Am stärksten gefährdet seien Transgender-Personen, die aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes von der Öffentlichkeit als männlich wahrgenommen werden würden, sich aber entsprechend ihrer sexuellen Identität feminin kleiden und zum Beispiel schminken würden, und Personen, die sich öffentlich für Rechte von LGBTI-Personen einsetzten. Im Internet würden Listen von LGBTI-Aktivisten zirkulieren, gegen die homophobe Gruppierungen Drohungen aussprechen würden. Eine Aktivistin, die auf einer solchen Liste stand, sei getötet worden. Der staatliche Schutz vor solchen Übergriffen Dritter sei unzureichend.

6 Das BVwG verneinte den Anspruch der revisionswerbenden Partei auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten mit der Begründung, dass eine konkrete Verfolgung der revisionswerbenden Partei im Verfahren nicht vorgebracht und für den Fall ihrer Rückkehr nicht glaubhaft gemacht worden sei. Das BVwG stellte jedoch fest, dass nicht mit der nötigen Gewissheit ausgeschlossen werden könne, dass die revisionswerbende Partei als Transgender-Person aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes und nach der von ihr angestrebten hormonellen Behandlung bei der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht unerheblichen Diskriminierungen in Alltagssituationen, möglicherweise in Form vereinzelter physischer Übergriffe, ausgesetzt sein könnte.

7 Rechtlich folgerte das BVwG, da die revisionswerbende Partei nicht glaubhaft habe machen können, einer wohlbegründeten Furcht vor asylrelevanter Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat ausgesetzt gewesen oder einer derartigen Gefahr in Zukunft ausgesetzt zu sein, sei die Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigen abzuweisen. Da aufgrund der Länderfeststellungen nicht ausschließen sei, dass die revisionswerbende Partei als Transgender-Person bzw. wegen ihres äußeren Erscheinungsbildes nach der von ihr angestrebten hormonellen Behandlung bei ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Gefahr laufe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein, sei ihr der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe nicht zur Verfügung, weil die Situation für Transgender-Personen in der Russischen Föderation zwar regional sehr unterschiedlich, aber zugleich nicht vorhersehbar sei, gerade weil es sich um unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen im Alltag handle.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, die das BVwG dem Verwaltungsgerichtshof unter Anschluss der Akten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vorlegte.

9 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit vor, es ergebe sich weder aus der Beweiswürdigung, noch aus der rechtlichen Beurteilung des BVwG schlüssig, warum der revisionswerbenden Partei (bloß) der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei. Das BVwG weiche von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, indem es Akte, die der revisionswerbenden Partei drohen würden, zu Unrecht nicht als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ansehe, seine Begründung hierzu aber nicht nachvollziehbar darlege. Das BVwG verkenne, dass Verfolgungshandlungen, die sich etwa in Bedrohungen oder Körperverletzungen manifestierten, eine ausreichende Intensität aufweisen würden, um von „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK zu sprechen. Hätte das BVwG das Erkenntnis nachvollziehbar begründet, hätte es der revisionswerbenden Partei aufgrund der aus den Länderfeststellungen eindeutig abzuleitenden und ihrer Eigenschaft als Transgender-Person und ihrer offen ausgelebten sexuellen Orientierung den Status der Asylberechtigten aufgrund einer Verfolgung aus Gründen der Zugehörigkeit zur „sozialen Gruppe der Transgender“ zuerkennen müssen. Das BVwG hätte sich auch nicht mit dem Wunsch der revisionswerbenden Partei, ihre Geschlechtsidentität im Herkunftsstaat offen auszuleben, auseinandergesetzt.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Die Revision ist zulässig. Sie ist aus den folgenden Erwägungen auch begründet.

12 Nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung droht (vgl. VwGH 23.1.2019, Ra 2018/01/0442, mwN).

13 Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Asylstatus zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche „Vorverfolgung“ für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person vor dem Hintergrund der zu treffenden aktuellen Länderfeststellungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 25.3.2021, Ra 2021/19/0057, mwN).

14 Unter „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (vgl. VwGH 14.2.2019, Ra 2018/18/0442, mwN). Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, ist im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350, mwN, VwGH 15.12.2015, Ra 2014/18/0118).

15 Einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung kommt Asylrelevanz dann zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten (vgl. VwGH vom 21.4.2011, 2011/01/0100, mwN).

16 Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (vgl. VwGH 26.4.2021, Ra 2020/01/0025, mwN).

17 Im gegenständlichen Fall ging das BVwG davon aus, dass der revisionswerbenden Partei bei einer Rückkehr in die Russische Föderation keine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK drohen würde. Diese Würdigung ist jedoch schon im Hinblick auf die Länderfeststellungen des BVwG, wonach LGBTI Personen in der Russischen Förderung Mikroaggressionen bis zu körperlichen Übergriffen ausgesetzt, wobei Transgender-Personen, die aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes von der Öffentlichkeit als männlich wahrgenommen werden, sich aber entsprechend ihrer sexuellen Identität feminin kleiden und z. B. schminken, und Personen, die sich öffentlich für Rechte von LGBTI Personen einsetzen, am stärksten gefährdet seien und der staatliche Schutz vor solchen Übergriffen unzureichend sei, nicht nachvollziehbar. Das BVwG gestand zudem zu, dass die revisionswerbende Partei als Transgender-Person aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes und nach der von ihr angestrebten hormonellen Behandlung bei ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht unerheblichen Diskriminierungen in Alltagssituationen, möglicherweise sogar in Form vereinzelter physischer Übergriffe, ausgesetzt sein könnte und der revisionswerbenden Partei bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat Übergriffe drohen würden, welche die Intensität einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK erreichen würden. Die Schlussfolgerung des BVwG, dass der revisionswerbenden Partei bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat keine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht, steht im Hinblick auf diese Annahme mit den Vorgaben der Rechtsprechung zum Begriff der Verfolgung nicht in Einklang (vgl. in diesem Sinne etwa auch VwGH 3.1.2023, Ra 2022/18/0086, mwN).

18 Das BVwG wäre ausgehend von den Vorgaben der Rechtsprechung zum Vorliegen einer Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK gehalten gewesen, anhand der Länderfeststellungen zu überprüfen, mit welchen staatlichen und privaten Reaktionen die revisionswerbende Partei bei einer Rückkehr in die Russische Föderation bei Ausleben ihrer Transgender-Identität konkret konfrontiert wäre, ob diese ihrer Eingriffsintensität nach als Verfolgung anzusehen sind und - im Falle von Privatverfolgung -, ob staatlicher Schutz vor diesen in Anspruch genommen werden könnte. Ausgehend von einer der revisionswerbenden Partei drohenden Verfolgung in Form einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte bei ihrer Rückkehr in die Russische Föderation hätte das BVwG prüfen müssen, ob ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen vorliegt. Dies wäre einerseits im Hinblick auf die vom BVwG festgestellten Aktivitäten der revisionswerbenden Partei bei einer Transgender Organisation in der Russischen Föderation geboten gewesen. Andererseits hätte es, um den von der Revision angesprochenen Konventionsgrund der Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur „sozialen Gruppe der Transgender-Personen“ annehmen zu können, sowohl Feststellungen zu den Merkmalen und zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe, als auch zum kausalen Zusammenhang mit einer Verfolgung bedurft (vgl. zu den Voraussetzungen um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, und VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350, jeweils mwN).

19 Das BVwG hat aus den aufgezeigten Gründen die Rechtslage verkannt und infolgedessen die für die Entscheidung wesentlichen Feststellungen nicht getroffen. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen vorrangig wahrzunehmender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

20 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 21. Juni 2023

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