JudikaturVwGH

Ro 2021/17/0014 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
04. Juni 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Dr. Schwarz, Mag. Berger, Dr. Terlitza und Dr. Horvath als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision der R Y M in P, vertreten durch Mag. Alexander Wippel, Rechtsanwalt in 2620 Neunkirchen, Triester Straße 15, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 31. August 2021, LVwG S 551/001 2021, betreffend Bestrafung nach dem Fremdenpolizeigesetz 2005 FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landespolizeidirektion Niederösterreich), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

1 Die Revisionswerberin, eine äthiopische Staatsangehörige, stellte am 12. April 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Erkenntnis vom 11. Mai 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht diesen Antrag im Beschwerdeweg zur Gänze ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen die Revisionswerberin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Äthiopien zulässig sei und setzte gemäß § 55 Abs. 3 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise „bis zum 30.06.2020“ fest.

2 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 31. August 2021 gab das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich der Beschwerde der Revisionswerberin gegen ein Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 21. Februar 2021, mit dem über die Revisionswerberin eine Geldstrafe (samt Ersatzfreiheitsstrafe) gemäß § 120 Abs. 1b iVm § 52 Abs. 8 FPG verhängt worden war, nur insoweit mit einer für das vorliegende Verfahren nicht maßgeblichen Spruchberichtigung Folge, als es die Geldstrafe herabsetzte und die Kosten des verwaltungsbehördlichen Verfahrens neu festsetzte. Gemäß dem Schuldspruch sei die Revisionswerberin nach Eintritt der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung nicht unverzüglich aus dem Bundesgebiet ausgereist und habe sich demnach zu einer konkret angeführten Zeit an einem näher genannten Ort noch unerlaubt im Bundesgebiet aufgehalten, obwohl die Frist zur Ausreise bereits verstrichen gewesen sei. Zudem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B VG zulässig sei.

3 Das Verwaltungsgericht stellte nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Wesentlichen fest, die gegen die Revisionswerberin erlassene Rückkehrentscheidung sei mit 12. Mai 2020 rechtskräftig geworden. Die Revisionswerberin habe am 24. Juli 2020 ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch genommen, wobei sie die freiwillige Rückkehr nach Äthiopien abgelehnt hätte. Sie sei aus von ihr zu vertretenden Gründen nicht bis zum 30. Juni 2020 (Eintritt der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung) freiwillig aus dem Bundesgebiet ausgereist, sondern im Bundesgebiet verblieben. Am 30. November 2020 habe sie einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz (Folgeantrag) gestellt. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28. April 2021 sei dieser Antrag wegen entschiedener Sache zurückgewiesen und neuerlich eine Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen erlassen worden. Der dagegen erhobenen Beschwerde sei vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 9. Juni 2021 stattgegeben und der Bescheid behoben worden, weil es „konkrete Anhaltspunkte dafür gebe, dass sich die Situation in Bezug auf die Gewährung von subsidiärem Schutz entscheidungsrelevant geändert habe“. In diesem Zusammenhang sei auf eine „psychische Störung in Form einer PTSD/Anpassungsstörung“ der Revisionswerberin hingewiesen worden.

4 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht aus, die Revisionswerberin sei ihrer Ausreiseverpflichtung trotz Inanspruchnahme eines Rückkehrberatungsgespräches bis zum angelasteten Tatzeitpunkt nicht nachgekommen. Die Revisionswerberin sei nicht gewillt, in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Ihrer Pflicht zur Ausreise sei sie aus von ihr zu vertretenden Gründen nicht nachgekommen. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Revisionswerberin eine Ausreise bis zum 30. Juni 2020 nicht zumutbar gewesen sei. Eine derartige Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes bzw. eine psychische Erkrankung seit Erlassung des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11. Mai 2020 sodass sie ihrer Ausreiseverpflichtung innerhalb der vorgesehenen Frist nicht habe nachkommen können habe die Revisionswerberin nicht vorgebracht.

5 Das Verwaltungsgericht führte zum Vorliegen einer grundsätzlichen Rechtsfrage (zusammengefasst) u.a. aus, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob in einer Konstellation wie der vorliegenden, in der ein Asylverfahren (infolge eines Folgeantrages) erst nach der angelasteten Tatzeit anhängig geworden sei, ein Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 120 Abs. 7 FPG ex lege unterbrochen sei.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Revision, die den am 30. November 2020 gestellten Folgeantrag der Revisionswerberin ins Treffen führt und zur vorgebrachten fehlenden Strafbarkeit des vorgeworfenen Verhaltens auf § 120 Abs. 7 FPG verweist.

7 Die Revision zu der von der belangten Behörde eine Revisionsbeantwortung (ohne Antrag auf Kostenersatz) erstattet wurde erweist sich zur Klarstellung der Rechtslage unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig.

Der Verwaltungsgerichtshof hat hierüber erwogen:

8 § 120 Abs. 1b, 5, 7 und 11 Fremdenpolizeigesetz 2005 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 27/2020, lauten:

„(1b) Wer als Fremder aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht unverzüglich seiner Pflicht zur Ausreise aus dem Bundesgebiet nachkommt, nachdem eine gegen ihn erlassene Rückkehrentscheidung rechtskräftig und durchsetzbar geworden ist, und ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA VG in Anspruch genommen oder bis zum Eintritt der Rechtskraft und Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht in Anspruch genommen hat, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis 15 000 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen zu bestrafen. Als Tatort gilt der Ort der Betretung oder des letzten bekannten Aufenthaltes, bei Betretung in einem öffentlichen Beförderungsmittel die nächstgelegene Ausstiegsstelle, an der das Verlassen des öffentlichen Beförderungsmittels gemäß dem Fahrplan des Beförderungsunternehmens möglich ist.

...

(5) Eine Verwaltungsübertretung gemäß Abs. 1a, 1b und 1c Z 2 liegt nicht vor,

1. wenn die Ausreise nur in ein Land möglich wäre, in das eine Abschiebung unzulässig (§ 50) ist;

2. solange der Fremde geduldet ist (§ 46a),

3. im Fall des Aufenthalts eines begünstigten Drittstaatsangehörigen ohne Visum,

4. solange dem Fremden die persönliche Freiheit entzogen ist oder

5. während der Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55.

...

(7) Eine Verwaltungsübertretung nach Abs. 1 bis 1c liegt nicht vor, wenn der Fremde einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und ihm der Status des Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde. Während des Asylverfahrens ist das Verwaltungsstrafverfahren unterbrochen.

...

(11) Wird einem Fremden während eines anhängigen Verwaltungsstrafverfahrens gemäß § 120 Abs. 1, 1a, 1b oder 1c der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, ein Aufenthaltstitel gemäß dem AsylG 2005 oder dem NAG rechtskräftig erteilt oder eine Dokumentation gemäß dem NAG ausgestellt, so ist dieses Verwaltungsstrafverfahren einzustellen. § 45 Abs. 2 VStG gilt.“

9 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der mit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2017 FrÄG 2017, BGBl. I Nr. 145/2017, eingeführte Verwaltungsstraftatbestand nach § 120 Abs. 1b FPG (u.a.) zwei Anwendungsvoraussetzungen, die kumulativ erfüllt sein müssen:

Dies sind zunächst der Eintritt der Rechtskraft und die Durchsetzbarkeit der gegen den Fremden bestehenden Rückkehrentscheidung. Die Rückkehrentscheidung wird gemäß § 52 Abs. 8 Satz 1 FPG grundsätzlich mit dem Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar. In den meisten Fällen wird daher der Eintritt der Rechtskraft mit jenem der Durchsetzbarkeit zeitlich zusammenfallen (zu den Ausnahmen vgl. etwa § 16 Abs. 4 BFA Verfahrensgesetz [BFA VG]). Die zweite Voraussetzung stellt auf die Pflicht zur Inanspruchnahme eines Rückkehrberatungsgesprächs gemäß § 52a Abs. 2 BFA VG ab (vgl. VwGH 3.1.2023, Ra 2021/17/0003, mit Hinweis auf die Erläuterungen zum Initiativantrag 2285/A BlgNR 25. GP 74 zum FrÄG 2017).

10 Im Revisionsfall ist unstrittig, dass die gegen die Revisionswerberin erlassene Rückkehrentscheidung im Tatzeitpunkt bereits rechtskräftig und durchsetzbar war, sowie, dass die Revisionswerberin ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch genommen hatte. Die Revisionswerberin bestreitet auch nicht, ihrer Pflicht zur Ausreise aus dem Bundesgebiet bis zum Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise nicht entsprochen zu haben.

11 Die Strafbarkeit nach § 120 Abs. 1b FPG setzt zudem voraus, dass der Ausreisepflicht „aus vom Fremden zu vertretenden Gründen“ nicht nachgekommen wurde.

12 Unter diesem Gesichtspunkt hat sich das Verwaltungsgericht bereits damit auseinandergesetzt, ob der Revisionswerberin die Ausreise innerhalb der Ausreisefrist nicht möglich gewesen wäre und verneinte dies zusammengefasst mit der Begründung, dass eine im Asylverfahren betreffend den Folgeantrag vom 30. November 2020 geltend gemachte Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes bzw. eine psychische Erkrankung im Zeitpunkt ihrer Ausreiseverpflichtung noch nicht vorgelegen sei. Dies wird von der Revisionswerberin auch nicht bestritten, selbst wenn sie wie sie in der Revision ausführt im zweiten Asylverfahren „von einer Schutzgewährung“ ausgegangen sei. Dass sich bis zum Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise (am 30. Juni 2020) hinsichtlich der wirksamen Rückkehrentscheidung die Beurteilungsgrundlagen für die Abwägung nach Art. 8 EMRK maßgeblich zugunsten der Revisionswerberin verschoben hätten, ist nicht ersichtlich (vgl. zu einem solchen Fall etwa VwGH 14.11.2013, 2013/21/0119, mwN). Die unterbliebene Ausreise ist der Revisionswerberin demnach gemäß § 120 Abs. 1b FPG zuzurechnen.

13 Fraglich ist, ob sich an dieser Beurteilung durch die Stellung eines neuerlichen Antrages auf internationalen Schutz am 30. November 2020 etwas ändert.

14 Nach § 120 Abs. 7 erster Satz FPG liegt eine Verwaltungsübertretung u.a. nach Abs. 1b nicht vor, wenn der Fremde einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und ihm der Status des Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde. Während des Asylverfahrens ist gemäß § 120 Abs. 7 zweiter Satz FPG das Verwaltungsstrafverfahren unterbrochen.

15 Die Erläuterungen zu dieser Bestimmung in der Stammfassung des Fremdenrechtspakets 2005 (RV 952 BlgNR 22. GP 137, zu Abs. 5, der seit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2009, BGBl. I Nr. 122/2009, wortident dem nunmehrigen Abs. 7 entspricht) halten dazu fest, dass um der Genfer Flüchtlingskonvention Genüge zu tun ein Fremder, der „nach Stellung eines Asylantrags“ aber vor Zuerkennung eines Status nach dem Asylgesetz 2005 (§§ 3, 8 AsylG 2005) betreten werde, nicht strafbar sei, wenn ihm schlussendlich ein Status zuerkannt wird. Bereits damit ist klargestellt, dass nach dem Willen des Gesetzgebers die Anwendbarkeit des § 120 Abs. 7 FPG die Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz (zeitlich) vor der vorgeworfenen Tatzeit voraussetzt.

16 Dieses Verständnis des § 120 Abs. 7 FPG steht auch im Einklang mit § 120 Abs. 11 FPG.

17 Wenn einem Fremden während eines anhängigen Verwaltungsstrafverfahrens (u.a.) gemäß § 120 Abs. 1b FPG der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, ein Aufenthaltstitel gemäß dem AsylG 2005 oder dem NAG rechtskräftig erteilt oder eine Dokumentation gemäß dem NAG ausgestellt wird, sieht § 120 Abs. 11 erster Satz FPG nämlich vor, dass dieses Verwaltungsstrafverfahren einzustellen ist.

18 Die Erläuterungen zum Initiativantrag 2285/A BlgNR 25. GP 74 (zum FrÄG 2017) führen zu § 120 Abs. 11 FPG (auszugsweise) aus, dass jene Verwaltungsstrafverfahren u.a. gemäß § 120 Abs. 1b FPG nicht umfasst seien, die vor der Statuszuerkennung oder Erteilung eines Aufenthaltstitels oder einer Dokumentation nach dem NAG oder AsylG 2005 bereits abgeschlossen sind; zudem erwachse dem Fremden aus dieser Bestimmung jedenfalls kein Regressanspruch hinsichtlich bereits geleisteter Strafzahlungen.

19 Die Asylzuerkennung oder Zuerkennung subsidiären Schutzes bzw. die Erteilung der angeführten Aufenthaltstitel oder die Ausstellung einer Dokumentation nach dem NAG stellt demnach gemäß § 120 Abs. 11 FPG jeweils einen Strafaufhebungsgrund dar, weil ein Fremder zwar das strafbare Verhalten (u.a.) nach § 120 Abs. 1b FPG bereits verwirklicht hat, jedoch die Strafbarkeit bei Statuszuerkennung bzw. Erteilung eines Aufenthaltstitels oder einer Dokumentation nach dem NAG oder AsylG 2005 (nachträglich) wieder wegfällt; dies erfolgt (grundsätzlich) unabhängig davon, ob bzw. wann ein Antrag nach dem AsylG 2005 oder dem NAG gestellt wurde, oder ob ein diesbezügliches Verfahren anhängig ist.

20 Für den vorliegenden Fall bedeutet dies vor dem Hintergrund, dass gegenüber der Rückkehrentscheidung vom 11. Mai 2020 bis zum Ablauf der der Revisionswerberin eingeräumten Frist für eine freiwillige Ausreise (am 30. Juni 2020) keine maßgebliche Änderung der Beurteilungskriterien eingetreten ist und die Revisionswerberin erst am 30. November 2020 einen Folgeantrag stellte , dass sie sich nicht erfolgreich auf § 120 Abs. 7 FPG berufen kann.

21 Das Verwaltungsgericht ist demnach fallbezogen zu Recht davon ausgegangen, dass die Revisionswerberin ihrer Ausreisepflicht aus von ihr zu vertretenden Gründen nicht nachgekommen ist und die Voraussetzungen des § 120 Abs. 7 FPG nicht gegeben sind.

22 Da somit die in der Revision behauptete Rechtsverletzung nicht vorliegt, war die Revision gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.

Wien, am 4. Juni 2024

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