Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie die Hofräte Mag. Stickler, Mag. Cede und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Sasshofer, über die Revision des H M in W, vertreten durch die Haider/Obereder/Pilz Rechtsanwält:innen GmbH in 1080 Wien, Alserstraße 21, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Februar 2021, W228 2236489 1/7E, betreffend Einstellung des Bezugs von Arbeitslosengeld (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Wien Schönbrunner Straße), zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben und das angefochtene Erkenntnis dahingehend abgeändert, dass die Beschwerde des Revisionswerbers gegen die als Bescheid bezeichnete und mit 22. September 2020 datierte Erledigung des Arbeitsmarktservice Wien Schönbrunner Straße zurückgewiesen wird.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber bezog Arbeitslosengeld aufgrund eines Antrags vom 5. Mai 2020. Mit E Mail vom 21. Mai 2020 teilte er der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (AMS) die Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses als Pizzakoch ab 1. Juni 2020 mit. Mit Schreiben vom 27. Mai 2020 teilte er dem AMS mit, er habe „ab 17.05.2020 gekündigt“, sei zur Zeit arbeitslos und fange „hoffentlich“ einen „neuen Job“ als Koch ab 1. Juni 2020 an. Nach Erhalt einer Mitteilung des AMS über die Unterbrechung des Leistungsbezugs im Zeitraum vom 1. Juni 2020 bis 15. Juli 2020 machte der Revisionswerber mit Schreiben vom 15. September 2020 geltend, es sei kein Unterbrechungsgrund eingetreten, und beantragte die Erlassung eines Feststellungsbescheides.
2Das AMS erließ daraufhin eine als Bescheid bezeichnete und mit 22. September 2020 datierte Erledigung, in deren Spruch festgestellt wurde, dass dem Revisionswerber das Arbeitslosengeld ab dem 16. Juli 2020 gebühre. In der Begründung wurde unter Hinweis auf § 46 Abs. 6 AlVG festgehalten, dass der Bezug von Arbeitslosengeld ab dem Tag unterbrochen werde, für den die arbeitslose Person den Eintritt eines Unterbrechungs oder Ruhenstatbestandes wie zum Beispiel die bevorstehende Aufnahme eines Dienstverhältnisses ab einem bestimmten Tag mitgeteilt habe. Der Revisionswerber habe schriftlich ein Dienstverhältnis ab 1. Juni 2020 gemeldet; die Wiedermeldung sei am 16. Juli 2020 erfolgt.
3 Diese Erledigung wurde ihrem äußeren Erscheinungsbild nach elektronisch erstellt. Sie weist sowohl auf der im Verwaltungsakt enthaltenen Version als auch auf der an den Revisionswerber ergangenen Ausfertigung die folgende Fertigung auf:
„Für den Leiter/die Leiterin
[Vor und Nachname der Genehmigenden]“
4 Eine Amtssignatur ist auf der Erledigung nicht vorhanden, und zwar weder auf der nach außen ergangenen Ausfertigung noch auf dem im Akt liegenden Exemplar. Eine Unterschrift der Genehmigenden oder eine Beglaubigung der Kanzlei sind nicht vorhanden.
5 Der Revisionswerber erhob gegen diese Erledigung das Rechtsmittel der Beschwerde. Mit Beschwerdevorentscheidung vom 14. Oktober 2020 wies das AMS diese Beschwerde ab, woraufhin der Revisionswerber die Vorlage an das Bundesverwaltungsgericht beantragte.
6 Mit dem nunmehr beim Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers ab. Dem Vorbringen des Revisionswerbers, dass ein Unterbrechungsgrund nicht eingetreten sei und ihm auch noch nach dem 1. Juni 2020 Arbeitslosengeld gebührt habe, trat das Bundesverwaltungsgericht mit dem Argument entgegen, dass der Revisionswerber ein am 1. Juni 2020 beginnendes Dienstverhältnis gemeldet habe. Dem im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Argument, dass es sich bei der gemeldeten Beschäftigung nur um ein geringfügiges Dienstverhältnis gehandelt habe und der Arbeitgeber ein „vollversichertes Dienstverhältnis“ lediglich in Aussicht gestellt habe, habe das Bundesverwaltungsgericht angesichts des Erklärungswerts der Mitteilung nicht folgen können. Eine Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Revision das Vorverfahren geführt und mit Beschluss vom 25. Oktober 2022 an den Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 140 Abs. 1 lit. a in Verbindung mit Art. 135 Abs. 4 sowie Art. 89 Abs. 2 B VG den Antrag gestellt, den fünften Satz des § 47 Abs. 1 Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977AlVG, BGBl. Nr. 609/1977 in der Fassung BGBl. I Nr. 38/2017 („Ausfertigungen, die im Wege der automationsunterstützten Datenverarbeitung erstellt wurden, bedürfen weder einer Unterschrift noch einer Beglaubigung.“), als verfassungswidrig aufzuheben.
8 Mit Erkenntnis vom 9. März 2023, G 295/2022 10 u.a., hat der Verfassungsgerichtshof Folgendes ausgesprochen:
„I. § 47 Abs. 1 fünfter Satz des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977, BGBl. Nr. 609/1977, idF BGBl. I Nr. 38/2017 wird als verfassungswidrig aufgehoben.
II. Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. März 2024 in Kraft.
III. Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.
IV. Die aufgehobene Bestimmung ist in den am 9. März 2023 beim Verwaltungsgerichtshof und beim Bundesverwaltungsgericht anhängigen Verfahren nicht mehr anzuwenden.
V. Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.“
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:
10 Die Revision ist mit Blick auf die in der Zulässigkeitsbegründung aufgezeigte Rechtsfrage der Vertretbarkeit der vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommenen Wertung (der Eindeutigkeit) des Inhalts der Erklärung des Revisionswerbers vom 27. Mai 2020 im Lichte der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 7.9.2011, 2008/08/0229) zulässig.
11 Sie ist bereits aus dem nachstehenden vorgelagert wahrzunehmenden Grund berechtigt:
12 Die Zulässigkeit der gegen die Erledigung des AMS vom 22. September 2020 erhobenen Beschwerde des Revisionswerbers (und damit: die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts zur meritorischen Entscheidung über diese Beschwerde) setzt voraus, dass es sich bei dieser Erledigung um einen (wirksam erlassenen) Bescheid handelt.
13 Entgegen einer vom Bundesverwaltungsgericht im verfassungsgerichtlichen Verfahren vorgebrachten Rechtsauffassung fällt die mit der mangelnden Bescheidqualität einhergehende Unzulässigkeit der Beschwerde nicht dadurch weg, dass die belangte Behörde über die aus diesem Grund unzulässige Beschwerde eine wenn auch wirksam erlassenemeritorische (insoweit sohin rechtswidrige) Beschwerdevorentscheidung getroffen hat, anstatt mit Beschwerdezurückweisung vorzugehen oder die (unzulässige) Beschwerde unmittelbar dem Verwaltungsgericht vorzulegen. Das Rechtsmittel, über welches das Verwaltungsgericht zu entscheiden hat, bleibt nämlich auch im Fall eines zulässigen Vorlageantrags nach § 15 VwGVG die Beschwerde; der Vorlageantrag richtet sich (nur) darauf, dass die Beschwerde dem Verwaltungsgericht vorgelegt wird. Das Bundesverwaltungsgericht hätte seine Unzuständigkeit zur Entscheidung über eine gegen einen Nichtbescheid erhobene Beschwerde von Amts wegen wahrzunehmen und eine solche Beschwerde zurückzuweisen, wobei der Beschluss des Verwaltungsgerichtes in diesem Fall an die Stelle der Beschwerdevorentscheidung tritt, selbst wenn die Behörde die Unzulässigkeit der Beschwerde nicht wahrgenommen und eine meritorische Beschwerdevorentscheidung erlassen haben sollte (vgl. dazu VwSlg. 19.271 A/2015).
14 § 18 Abs. 3 und 4 AVG, BGBl. Nr. 51/1991, idF BGBl. I 5/2008, lautet:
„Erledigungen
§ 18.
(1) (2) [...]
(3) Schriftliche Erledigungen sind vom Genehmigungsberechtigten mit seiner Unterschrift zu genehmigen; wurde die Erledigung elektronisch erstellt, kann an die Stelle dieser Unterschrift ein Verfahren zum Nachweis der Identität (§ 2 Z 1 E GovG) des Genehmigenden und der Authentizität (§ 2 Z 5 E GovG) der Erledigung treten.
(4) Jede schriftliche Ausfertigung hat die Bezeichnung der Behörde, das Datum der Genehmigung und den Namen des Genehmigenden zu enthalten. Ausfertigungen in Form von elektronischen Dokumenten müssen mit einer Amtssignatur (§ 19 E GovG) versehen sein; Ausfertigungen in Form von Ausdrucken von mit einer Amtssignatur versehenen elektronischen Dokumenten oder von Kopien solcher Ausdrucke brauchen keine weiteren Voraussetzungen zu erfüllen. Sonstige Ausfertigungen haben die Unterschrift des Genehmigenden zu enthalten; an die Stelle dieser Unterschrift kann die Beglaubigung der Kanzlei treten, dass die Ausfertigung mit der Erledigung übereinstimmt und die Erledigung gemäß Abs. 3 genehmigt worden ist. Das Nähere über die Beglaubigung wird durch Verordnung geregelt.
[...]“
15Die von diesen Regelungen des AVG abweichende Bestimmung des § 47 Abs. 1 fünfter Satz Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977AlVG, BGBl. Nr. 609/1977, in der Fassung BGBl. I Nr. 38/2017, hat der Verfassungsgerichtshof in Stattgebung des aus Anlass des vorliegenden Revisionsverfahrens gestellten Antrags des Verwaltungsgerichtshofes als verfassungswidrig aufgehoben.
16 Der vorliegende Revisionsfall stellt folglich einen Anlassfall (Art. 140 Abs. 7 BVG) für die mit dem zitierten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes ausgesprochene Aufhebung des § 47 Abs. 1 fünfter Satz AlVG in der zitierten Fassung dar. Der Revisionsfall ist daher nach der durch das aufhebende Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes „bereinigten Rechtslage“ zu beurteilen. Folglich ist die Frage der Bescheidqualität der Erledigung des AMS vom 22. September 2020 unter Anwendung von § 18 AVG und unter Außerachtlassung der (aufgehobenen) abweichenden Regelung des § 47 Abs. 1 AlVG zu beurteilen.
17Im Revisionsfall ist erwiesen, dass die an den Revisionswerber ergangene Ausfertigung der genannten Erledigung des AMS weder eine Amtssignatur noch eine Unterschrift der/des Genehmigenden oder eine Beglaubigung der Kanzlei aufweist. Da somit keine dem § 18 Abs. 4 AVG entsprechende Ausfertigung der angefochtenen Erledigung vorliegt, ist der von der belangten Behörde damit intendierte Bescheid als nicht erlassen anzusehen (vgl. VwGH 28.2.2018, Ra 2015/06/0125; 22.4.2021, Ra 2020/18/0442). Das Bundesverwaltungsgericht, das dennoch meritorisch über die Beschwerde entschieden hat, hat das angefochtene Erkenntnis daher mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit iSd § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG belastet.
18Gemäß § 42 Abs. 4 VwGG kann der Verwaltungsgerichtshof in der Sache selbst entscheiden, wenn sie wie im vorliegenden Fall entscheidungsreif ist und die Entscheidung in der Sache selbst im Interesse der Einfachheit, Zweckmäßigkeit und Kostenersparnis liegt.
19 Es war daher das angefochtene Erkenntnis dahin abzuändern, dass die Beschwerde gegen die Erledigung des AMS zurückgewiesen wird.
20Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG Abstand genommen werden.
21Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 18. April 2023