V593/2020 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Abweisung des Individualantrags, soweit er sich gegen §5 Abs1 Z1, die Wortfolge "1 und" in §5 Abs1 letzter Satz und §5 Abs4 Z1 bis 4 und Z8 bis 14 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, mit der besondere Schutzmaßnahmen zur Verhinderung einer Notsituation auf Grund von COVID-19 getroffen werden (COVID-19-NotMV), BGBl II 479/2020 idF BGBl II 528/2020 richtet. Im Übrigen Zurückweisung des Antrags.
Zu den Bedenken im Hinblick auf die erforderliche Ermittlung und Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen siehe E vom 24.06.2021, V592/2020.
Keine Verletzung im Gleichheitsrecht durch §5 Abs1 COVID-19-NotMV:
Aus den in der Verordnung festgelegten Ausnahmen vom Betretungs- und Befahrungsverbot des §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV geht hervor, dass nicht nur jene Betriebsstätten bzw Güter von dem Verbot ausgenommen wurden, die für die Deckung der lebensnotwendigen Grundbedürfnisse unverzichtbar sind, wie etwa Lebensmittel, Apotheken oder Medizinprodukte. Der Verordnungsgeber hat neben der Grundversorgung weiteren zentralen Bedürfnissen wie der Aufrechterhaltung der Kommunikation, des Zugangs zu Informationen oder der Mobilität zur Wahrnehmung der in §1 Abs1 COVID-19-NotMV genannten Tätigkeiten Rechnung getragen. Damit hat er den Rahmen des ihm gesetzlich eingeräumten Entscheidungsspielraumes bei der konkreten Ausgestaltung eines Betretungsverbotes nach dem COVID-19-MG nicht verlassen. Der Zielsetzung des Verordnungsgebers, ein grundsätzlich für alle Betriebsstätten des Handels geltendes Betretungsverbot für Kunden zu erlassen und davon nur einzelne wenige Bereiche auszunehmen, wird damit jedenfalls nicht widersprochen. Hinsichtlich der für unternehmensbezogene Geschäfte geltenden Ausnahme vom Betretungs- und Befahrungsverbot des §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV ist festzuhalten, dass diese vom Verordnungsgeber nicht mit deren Bedeutsamkeit für die Verrichtungen des täglichen Lebens begründet wurde, sondern damit, dass bei diesen im Wesentlichen auf Grund des unterschiedlichen Einkaufsverhaltens ein geringeres Infektionsrisiko bzw eine höhere Erfolgsquote bei der Kontaktnachverfolgung anzunehmen sei.
Der VfGH vermag nicht zu erkennen, dass das Fehlen einer Ausnahme für den Papier- und Schreibwarenhandel vom generellen - sohin den weit überwiegenden Teil der Handelsbetriebe treffenden - Betretungs- und Befahrungsverbot angesichts der von diesem Verbot ausgenommenen Betriebs- und Produkttypen, die der Befriedigung zentraler Bedürfnisse dienen und daher ständig verfügbar sein sollen (§5 Abs4 COVID-19-NotMV), unsachlich wäre und der BMSGPK damit den ihm in der Frage der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie eingeräumten - weiten - Entscheidungsspielraum überschritten hätte. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund des mit dem angefochtenen Verbot verfolgten Zieles, die persönlichen Kontakte von Menschen so weit wie möglich zu reduzieren, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern.
Der VfGH verkennt nicht die Bedeutung von Papier- und Schreibwaren für die Verrichtungen des täglichen Lebens, zB von Schülern. Da die COVID-19-Pandemie für eine Vielzahl an berufstätigen bzw in Ausbildung befindlichen Personen zur Folge hatte bzw hat, dass sie von ihrem Wohnort aus arbeiten, studieren oder am Unterricht teilnehmen, hat sich der Bedarf an Papier- und Schreibwaren in diesem Zeitraum wohl sogar noch erhöht. Der BMSGPK konnte aber in einer Durchschnittsbetrachtung vertretbar davon ausgehen, dass in Bezug auf Papier- und Schreibwaren für die von zu Hause arbeitenden, lernenden und studierenden Personen ein - temporäres - Ausweichen auf den Online-Handel (beispielsweise der antragstellenden Gesellschaft) während des aufrechten Betretungsverbotes eher möglich und zumutbar ist als dies für die Kunden hinsichtlich der in §5 Abs4 COVID-19-NotMV festgelegten Bereichsausnahmen (vgl etwa Tabakfachgeschäfte und Zeitungskioske [Z13] oder den Verkauf und die Wartung von Sicherheits- und Notfallprodukten [Z9]) angenommen werden kann.
Keine Verletzung im Recht auf Unversehrtheit des Eigentums:
Das angefochtene Betretungs- und Befahrungsverbot hat seine gesetzliche Grundlage in §3 Abs1 Z1 und Abs2 COVID-19-MG idF BGBl I 104/2020. Der mit dem Betretungs- und Befahrungsverbot des §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV verfolgte Zweck, die Verbreitung von COVID-19 zu verhindern und damit die Funktionsfähigkeit der Gesundheitsinfrastruktur aufrechtzuerhalten, stellt jedenfalls ein gewichtiges öffentliches Interesse dar.
Der BMSGPK konnte angesichts der zum Zeitpunkt der Erlassung der COVID-19-NotMV und deren Novelle vorliegenden Daten davon ausgehen, dass die Anordnung bzw Beibehaltung eines Betretungs- und Befahrungsverbotes von Betriebsstätten des Handels iSd §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV - als eine von zahlreichen weiteren staatlichen Maßnahmen - zu einer Reduktion der persönlichen Kontakte von Menschen führt und damit ein geeignetes Mittel zur Erreichung dieser Zielsetzung darstellt.
Verhältnismäßigkeit des Betretungs- und Befahrungsverbots des §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV:
Wie der VfGH bereits im Zusammenhang mit dem im Frühjahr 2020 geltenden Betretungsverbot (ua) von Betriebsstätten des Handels festgehalten hat, ist die durch das Betretungsverbot bewirkte Eigentumsbeschränkung auf eine akut krisenhafte Situation zurückzuführen, die massive volkswirtschaftliche Auswirkungen nach sich zieht und nahezu alle Wirtschaftszweige betrifft (vgl E v 14.7.2020, G202/2020 ua). Von dem zeitlich begrenzten Betretungs- und Befahrungsverbot des §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV und den damit verbundenen nachteiligen Folgen waren demnach, wie bereits dargelegt, nicht nur die Betriebsstätten der antragstellenden Gesellschaft, sondern vielmehr alle Handelsbetriebe (mit Ausnahme jener in §5 Abs4 leg. cit. aufgezählten) betroffen.
Der Gesetzgeber hat das Betretungs- und Befahrungsverbot nicht als isolierte Maßnahme erlassen, sondern dieses in ein umfangreiches Maßnahmen- und Rettungspaket eingebettet, das funktionell darauf abzielt, die wirtschaftlichen Auswirkungen des Betretungsverbotes auf die davon betroffenen Unternehmen bzw allgemein die Folgen der COVID-19-Pandemie abzufedern. Zu den vom Gesetzgeber vorgesehenen Rettungs- und Unterstützungsmaßnahmen für vom Betretungsverbot des §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV betroffene Unternehmen zählen etwa - neben dem von der antragstellenden Gesellschaft erwähnten "Lockdown-Umsatzersatz" gemäß den Richtlinien über die Gewährung eines Lockdown-Umsatzersatzes durch die COFAG, BGBl II 503/2020 - die Beihilfen zur Kurzarbeit gemäß §37b Arbeitsmarktservicegesetz, der "Fixkostenzuschuss" gemäß den Richtlinien über die Gewährung eines begrenzten Fixkostenzuschusses bis EUR 800.000 durch die COFAG - VO über die Gewährung eines FKZ800.000, BGBl II 497/2020, oder die Übernahme von staatlichen Garantien für Bankkredite zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen bzw zur Erhaltung der Zahlungsfähigkeit von Unternehmen.
Die vom Gesetzgeber vorgesehenen Leistungen werden zwar (teilweise) im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung (Art17 B-VG) erbracht. Aus der Fiskalgeltung der Grundrechte folgt aber, dass Betroffene, wie auch die antragstellende Gesellschaft, einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch darauf haben, dass ihnen solche Förderungen in gleichheitskonformer Weise und nach sachlichen Kriterien ebenso wie anderen Förderungswerbern gewährt werden.