JudikaturVfGH

V312/2021 (V312/2021-15) – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
30. Juni 2022

Gesetzwidrigkeit des §18 Abs1 Z7 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK), mit der besondere Schutzmaßnahmen zur Verhinderung einer Notsituation auf Grund von COVID-19 getroffen werden (5. COVID-19-NotmaßnahmenV - 5. COVID-19-NotMV), BGBl II 475/2021. Abweisung des gegen §7 Abs1 Z4 und §14 Abs1 Z2 und Z9 der 5. COVID-19-NotMV, BGBl II 475/2021, gerichteten Individualantrags. Im Übrigen: Zurückweisung des Antrags.

Mit der 5. COVID-19-NotMV, BGBl II 475/2021, wurde beginnend mit 22.11.2021 bis 01.12.2021, verlängert durch die 1. Novelle zur 5. COVID-19-NotMV, BGBl II 511/2021, bis 11.12.2021, ein bundesweiter Lockdown verhängt, der den "Kunstbereich" ebenso zur Gänze umfasste wie andere Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die antragstellenden Parteien begehren, (näher bezeichnete Bestimmungen der) §7, §14 und §18 der 5. COVID-19-NotMV, BGBl II 475/2021, "in der geltenden Fassung, zuletzt geändert durch die 1. Novelle der Verordnung, BGBl II Nr 511/2021" als gesetz- bzw verfassungswidrig aufzuheben. Begehrt wird sohin die umfassende Aufhebung der die Kunst und Kultur betreffenden Verbote, die - aus der Sicht der antragstellenden Parteien - im Wesentlichen in §7 und §14 der 5. COVID-19-NotMV normiert sind. Der VfGH geht- vor dem Hintergrund der im Antrag dargelegten Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit von Einschränkungen für Zusammenkünfte zu künstlerischen Zwecken auch im Vergleich zu anderen Zusammenkünften und der Regelungstechnik der angefochtenen Bestimmungen (Regel-Ausnahme) - davon aus, dass sich in der hier spezifischen Situation der letzte Antrag, nämlich "§7 (gesamt) iVm §18 (gesamt) iVm §14 (gesamt) der 5. COVID-19-NotMV" aufzuheben, als zulässig erweist, aber - weil diese Bestimmungen trennbar sind - bloß im Umfang des §7 Abs1 Z4, des §14 Abs1 Z2 und Z9 und des §18 Abs1 Z7 der 5. COVID-19-NotMV; im Übrigen ist der Antrag zurückzuweisen.

Hinreichende Ermittlung und Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen

Den vom BMSGPK vorgelegten Verordnungsakten, die der Erlassung (ua) des §7, §14 und §18 der 5. COVID-19-NotMV in der Stammfassung BGBl II 475/2021 bzw idF BGBl II 511/2021 zugrunde liegen, ist eine Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen zu entnehmen, die in allen wesentlichen Punkten jener Dokumentation entspricht, die der 4. COVID-19-SchuMaV, BGBl II 58/2021, idF BGBl II 76/2021 zugrunde lag und die vom VfGH als eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Dokumentation beurteilt wurde (E v 06.10.2021, V86/2021). Der BMSGPK hat damit auch im hier zu beurteilenden Fall in den Verordnungsakten im Ergebnis hinreichend dargelegt, auf Basis welcher Bewertung der epidemiologischen Situation er welche gesetzlich erlaubten Maßnahmen zu setzen sich entschieden hat. Den dem VfGH vorliegenden Verordnungsakten ist mit hinreichender Deutlichkeit die epidemiologische Lage in Österreich zu dem hier relevanten Zeitraum sowie die prognosehafte Entwicklung derselben zu entnehmen

Keine Verletzung im Recht auf Freiheit der Kunst gemäß Art17a StGG

Wie der VfGH bereits in E v 06.10.2021, V86/2021, zur 4. COVID-19-SchuMaV idF BGBl II 76/2021 umfassend dargelegt hat, sind auch die von den antragstellenden Parteien nunmehr angefochtenen Bestimmungen der 5. COVID-19-NotMV, die im Ergebnis weitgehend gleichartig ausgestaltet sind, Teil eines umfassenden Regelungskomplexes, der insgesamt das legitime Ziel verfolgt, Leben und Gesundheit zu schützen, indem insbesondere durch die Hintanhaltung von Menschenansammlungen die Verbreitung von COVID-19 verhindert werden soll. Damit soll dem Vorbringen der verordnungserlassenden Behörde zufolge, dem nicht entgegenzutreten ist, auch die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Gesundheitsinfrastruktur sichergestellt werden. Gegenstand des Betretungsverbotes für Kultureinrichtungen gemäß §7 Abs1 Z4 der 5. COVID-19-NotMV und des Verbotes von anderen als den in §14 der 5. COVID-19-NotMV genannten Zusammenkünften ist also erneut nicht die künstlerische Tätigkeit als solche, sondern sind allgemeine Maßnahmen zur Hintanhaltung von Menschenansammlungen. Dass die Vermeidung von Menschenansammlungen dem übergeordneten Ziel zu dienen geeignet ist, wird hinreichend dokumentiert.

Dem BMSGPK ist vor dem Hintergrund, dass es sich bei den angefochtenen Bestimmungen nicht um punktuelle, ausschließlich für den Kulturbereich getroffene Maßnahmen handelt, sondern um einen Teilbereich eines umfassenden Maßnahmenpaketes, das auch für das Gastgewerbe, für Beherbergungsbetriebe und für Sportstätten aber etwa auch für den Handel mit nicht lebensnotwendigen Waren vergleichbare Beschränkungen vorsah, angesichts der zum Zeitpunkt der Erlassung der 5. COVID-19-NotMV, BGBl II 475/2021, und der ersten Novelle BGBl II 511/2021 vorliegenden epidemiologischen Daten nicht entgegenzutreten, dass die Anordnung des Betretungsverbotes auch für Kultureinrichtungen gemäß §7 Abs1 Z4 der 5. COVID-19-NotMV sowie die Beschränkungen von Zusammenkünften gemäß §14 der 5. COVID-19-NotMV ein geeignetes Mittel zur Erreichung der beschriebenen Zielsetzung darstellt. Da der Besuch kultureller Einrichtungen nach Ansicht des VfGH auch dem Austausch und der Kommunikation zwischen den Besuchern dient, führen die angefochtenen Verbote jedenfalls zu der mit der Maßnahme verfolgten Reduktion der Kontakte, die zu diesem Zeitpunkt für nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche vorgesehen wurde, die der als nicht "zur Grundversorgung" gehörend bzw nicht als systemrelevante Einrichtung betrachtet hat.

Die antragstellenden Parteien behaupten, das Ziel (die Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 durch Kontaktvermeidung) könne auch mit gelinderen Maßnahmen - etwa einem COVID-19-Präventionskonzept - erreicht werden. Zum Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung war die epidemiologische Entwicklung - insbesondere auch wegen der besonders ansteckenden Virus-Variante "Delta" - volatil, wobei auch die Auslastung der Gesundheitsinfrastruktur angespannt war und eine Systemauslastung mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar drohte bzw in einzelnen Bundesländern bereits erreicht war. Der mit der 5. COVID-19-SchuMaV, BGBl II 465/2021, als gelindere Maßnahme angeordnete "Lockdown für Ungeimpfte" erzielte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die erforderliche Entlastung der Gesundheitsinfrastruktur. Der Verordnungsgeber hat nun - unter Bedachtnahme auf die von der Corona-Kommission als dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Sachverständigengremium vorgenommene Einschätzung der Lage - das Betretungsverbot und die Beschränkungen in Bezug auf Zusammenkünfte auch mit Auswirkungen im Bereich der Kunst im Rahmen eines umfassenden Corona-Maßnahmenpaketes zum Schutz des Lebens und der Gesundheit vorgesehen. Dabei hat er - in der konkreten Situation verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden - von den in §3 und §6 COVID-19-Maßnahmengesetz normierten gesetzlichen Ermächtigungen Gebrauch gemacht, die gerade auch ein Betretungsverbot für bestimmte Einrichtungen mit dem Ziel der Beschränkung von Zusammenkünften tragen. Dass der Verordnungsgeber innerhalb dieses Entscheidungsspielraumes auch auf die Erforderlichkeit der Maßnahmen Bedacht genommen hat, wird insbesondere durch den zuvor mit BGBl II 465/2021 angeordneten "Lockdown für Ungeimpfte" und die zeitlich eng begrenzte Geltungsdauer der angefochtenen Bestimmungen von insgesamt zwanzig Tagen verdeutlicht. Das Betretungsverbot für Kultureinrichtungen gemäß §7 Abs1 Z4 der 5. COVID-19-NotMV und die Beschränkungen in Bezug auf Zusammenkünfte gemäß §14 Abs1 Z9 der 5. COVID-19-NotMV waren sohin geeignet, erforderlich und verhältnismäßig.

Verletzung im Gleichheitsgrundsatz gemäß Art7 B-VG und Art2 StGG

Die hier in Rede stehenden Maßnahmen der 5. COVID-19-NotMV sind Teil eines umfassenden Regelungskomplexes, mit dem in einer besonderen Gefährdungssituation insbesondere für die Funktionsfähigkeit der Gesundheitsinfrastruktur Menschenansammlungen hintangehalten und damit die Verbreitung von COVID-19 eingedämmt werden soll. Zu diesem Zweck hat der Verordnungsgeber eine Reihe von Beschränkungen von Zusammenkünften vorgesehen. Diese Beschränkungen stellen teils intensive Eingriffe in die Freiheit der Menschen dar, zu unterschiedlichen Zwecken gemeinsam zusammenzukommen bzw gemeinsam bestimmte Orte aufzusuchen.

Der VfGH hat in seiner bisherigen Rsp zu vergleichbaren Beschränkungen, wie sie der Verordnungsgeber mit der hier zu beurteilenden 5. COVID-19-NotMV getroffen hat, nicht nur darauf abgestellt, dass derartige Beschränkungen im Hinblick auf das einschlägige, Zusammenkünfte von Menschen unter grundrechtlichen Schutz stellende Grundrecht verhältnismäßig sein müssen; er hat stets auch dem Aspekt Bedeutung beigemessen, dass diese Beschränkungen gleichermaßen grundrechtlich geschützter Freiheitsbetätigungen auch in einer mit dem Gleichheitsgrundsatz zu vereinbarenden, keine unsachlichen Bevorzugungen bzw Benachteiligungen bewirkenden Weise erfolgen müssen (vgl zu Betriebsstätten zB E v 24.06.2021, V593/2020; zu Begräbnissen E v 24.06.2021, V2/2021). Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass einschlägigen Grundrechten wie im vorliegenden Zusammenhang der Religionsfreiheit gemäß Art9 EMRK, der Versammlungsfreiheit gemäß Art11 EMRK bzw Art12 StGG oder der Kunstfreiheit gemäß Art17a StGG keine generelle "Vorrangstellung" dahingehend entnommen werden kann, dass eine der jeweils grundrechtlich geschützten Freiheitsbetätigungen als solche mehr oder weniger schützenswert wäre.

In bestimmten Konstellationen im Hinblick auf konkrete staatliche Beschränkungen kann sich freilich auch eine Bevorzugung einzelner grundrechtlicher Freiheitsausübungen als sachlich gerechtfertigt, mitunter auch als grundrechtlich geboten erweisen. So kommt dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit in demokratischer Hinsicht gerade dann besondere Bedeutung zu, wenn es um die Artikulation des Protestes der Zivilgesellschaft gegen staatliche Freiheitsbeschränkungen geht. Dieser Aspekt rechtfertigt es daher auch unter gleichheitsrechtlichen Gesichtspunkten jedenfalls, wenn der Verordnungsgeber Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz 1953 in §14 Abs1 Z2 der 5. COVID-19-NotMV besonders herausgehoben und deren Abhaltung - auch zahlenmäßig - nicht beschränkt hat (dabei ist auch mit in Rechnung zu stellen, dass Versammlungen typischerweise im Freien stattfinden).

Der Verordnungsgeber hat in §18 Abs1 Z7 der 5. COVID-19-NotMV "Zusammenkünfte zur Religionsausübung" schlechthin vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen. Derartige Zusammenkünfte sind nach der 5. COVID-19-NotMV daher in jeder Hinsicht und in jedem Umfang zulässig, ungeachtet dessen, ob diese Zusammenkünfte im Freien oder in geschlossenen Räumen stattfinden, ob sie Gottesdiensten, Andachten oder der sonstigen Ausübung religiöser Gebräuche dienen und unter Beteiligung welcher Anzahl an Personen sie erfolgen. Der Verordnungsgeber lässt also nicht nur näher eingegrenzte Formen der Religionsausübung in Gemeinschaft mit anderen zu, um ein diesbezüglich, wie der BMSGPK formuliert, elementares Grundbedürfnis gemeinschaftlicher Religionsausübung in Krisenzeiten zu ermöglichen, sondern nimmt mit §18 Abs1 Z7 der 5. COVID-19-NotMV jedwede Zusammenkunft - zu welcher Form der Religionsausübung auch immer - vom Anwendungsbereich der Verordnung aus.

Demgegenüber ist nach dem Regelungssystem der 5. COVID-19-NotMV die künstlerische Betätigung gemeinsam mit anderen, sofern sie nicht zu beruflichen Zwecken in fixer Zusammensetzung erfolgt, und die künstlerische Betätigung und damit die Vermittlung künstlerischen Schaffens für andere Menschen gänzlich untersagt.

Angesichts der Schutzzwecke von Art9 EMRK und von Art17a StGG vermag der VfGH eine sachliche Rechtfertigung für eine derartige kategoriale Ungleichbehandlung nicht zu erkennen. Religion wie Kunst gehören - unabhängig voneinander, vielfach aber auch miteinander verschränkt - zu den Grundbedürfnissen einer zivilisierten Gesellschaft. In beiden Fällen kommt bestimmten Grundrechtsausübungen gemeinsam mit oder vor anderen Menschen wesentliche Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund besteht zwischen dem Zusammenkommen von Personen zu religiösen Zwecken einerseits und zu künstlerischen Zwecken andererseits im Hinblick auf die Zielsetzung der Beschränkungen der 5. COVID-19-NotMV, Menschenansammlungen möglichst hintanzuhalten, kein solcher Unterschied, der es rechtfertigen würde, Zusammenkünfte im Schutzbereich des Art17a StGG praktisch weitestgehend zu untersagen, während Zusammenkünfte im Schutzbereich des Art9 EMRK schlechthin möglich sind.

Der VfGH verkennt nicht, dass es besondere Gründe geben kann, die bestimmte begünstigende Ausnahmen und damit eine Ungleichbehandlung der Freiheitsbetätigungen rechtfertigen können (so kann sich insbesondere über begrenzte Zeiträume die Notwendigkeit der Berücksichtigung elementarer Grundbedürfnisse im Zusammenhang mit entsprechender grundrechtlicher Betätigung gemeinsam mit bzw vor anderen unterschiedlich darstellen). Für die in §18 Abs1 Z7 der 5. COVID-19-NotMV angeordnete unbegrenzte Ausnahme jedweder Zusammenkünfte zur Religionsausübung lässt sich aber im Vergleich zum weitgehend untersagten künstlerischen Wirken, auch in den Fällen, in denen dieses essentiell auf künstlerische Darbietung vor Publikum ausgerichtet und auf dieses angewiesen ist, eine sachliche Rechtfertigung nicht finden.

Angesichts des Schutzzweckes der 5. COVID-19-NotMV trifft diese nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Zusammenkünften im Schutzbereich des Art9 EMRK einer- und des Art17a StGG andererseits die unsachliche Ausnahmeregelung des §18 Abs1 Z7 der 5. COVID-19-NotMV, weil dem Verordnungsgeber eine erheblich weitergehende Öffnung von Zusammenkünften nicht zugesonnen werden kann.

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