2R38/25k – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Mag. Hofmann als Vorsitzenden und die Richter MMag. Popelka und Mag. Viktorin in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. A* B*, geboren am **, 2. Dr. C* B*-D*, geboren am **, und 3. E* B*, geboren am **, alle **, alle vertreten durch Mag. Michael Rebasso, Rechtsanwalt in Wien, gegen gegen die beklagten Parteien 1. Mag. F* G* KG H*gesellschaft und 2. Mag. F*, geboren am **, beide **, beide vertreten durch Dr. Heinz Stöger, Rechtsanwalt in Wien, wegen EUR 449.603,60 samt Anhang, über den Rekurs der erstbeklagten Partei gegen den Beschluss des Handelsgerichts Wien vom 13.2.2025, GZ **-9, in nicht öffentlicher Sitzung den Beschluss gefasst:
Spruch
Dem Rekurs wird Folge gegeben. Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass er lautet:
„Der erstbeklagten Partei wird die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erstattung der Klagebeantwortung bewilligt.
Die erstbeklagte Partei ist schuldig, den klagenden Parteien die mit EUR 2.794,51 (darin EUR 465,75 USt) bestimmten Kosten des Wiedereinsetzungsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die erstbeklagte Partei ist schuldig, den klagenden Parteien die mit EUR 3.485,89 (darin EUR 580,98 USt) bestimmten Kosten der Rekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Der Revisionsrekurs ist jedenfalls unzulässig.
Text
Begründung:
Die Erstbeklagte ist eine Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungskanzlei. Der Zweitbeklagte ist ihr Komplementär.
Verfahrensgegenständlich sind Schadenersatzansprüche aus einem steuerlichen Beratungs- und Vertretungsverhältnis.
Die Klage wurde am 17.12.2024 der Erstbeklagten elektronisch gemäß § 35 ZustellG und am 19.12.2024 dem Zweitbeklagten durch Übernahme durch einen Mitbewohner zugestellt.
Am 15.1.2025 brachten die Beklagten durch ihren Rechtsvertreter eine Klagebeantwortung ein.
Mit Beschluss vom 16.1.2025 wies das Erstgericht – soweit hier relevant – die Klagebeantwortung hinsichtlich der Erstbeklagten als verspätet zurück.
Am 28.1.2025 stellte die Erstbeklagte einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Klagebeantwortung. Die Erstbeklagte sei davon ausgegangen, dass beide Klagen, sowohl gegen die Erst- als auch gegen die Zweitbeklagte, am 19.12.2024 zugestellt worden seien. Erst mit dem Zurückweisungsbeschluss sei ihr bewusst geworden, dass die Zustellung bereits am 16.12.2024 mit Wirkung 17.12.2024 erfolgt sei. Für das elektronische Postfach verwende die Erstbeklagte das Programm I*. Das Abfragen des Postfachs über dieses Programm erfolge durch J*, eine über 19 Jahre in der Kanzlei der Erstbeklagten tätige, äußerst zuverlässige Mitarbeiterin. Sie sei die Büroleiterin, die auch das Posteingangsbuch führe. Am 16.12.2024 habe sie aus unerklärlichem Grund die Zustellung der Klage übersehen. Derartiges sei ihr zuvor noch nie passiert.
Die Kläger sprachen sich gegen eine Wiedereinsetzung aus.
Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Erstgericht den Wiedereinsetzungsantrag ab. Es nahm den auf den Seiten 2 bis 3 des Beschlusses ersichtlichen Sachverhalt – auf den verwiesen wird – als bescheinigt an. Hervorzuheben ist:
„[…] Die seit über 19 Jahren in der Kanzlei tätige, zuverlässige Büroleiterin Frau J* kümmert sich um das elektronische Postfach, das über das Programm I* abgerufen wird. […]
Am 16.12.2024 öffnete Frau J* das elektronische Postfach, um den Eingang zu kontrollieren und übersah dabei die an die erstbeklagte Partei zugestellte Klage. Sie druckte die Klagszustellung nicht aus und trug sie auch nicht ins Posteingangsbuch ein.
Die erstbeklagte Partei ging daher davon aus, dass beide Klagen am 19.12.2024 zugestellt wurden und brachte gemeinsam mit der zweitbeklagten Partei die Klagebeantwortung am 15.01.2025 ein.“
Rechtlich führte das Erstgericht zusammengefasst aus: Die Erstbeklagte sei davon ausgegangen, dass ihr die Klage am 19.12.2024 zugestellt worden sei. Der Parteienvertreter habe sich offensichtlich auf deren Angaben verlassen und keine eigenen Erhebungen über das Zustelldatum der Klage getätigt. Dass der Erstbeklagtenvertreter diese erforderliche und ihm ohne weiteres zumutbare, ja geradezu als selbstverständlich zu bezeichnende Sorgfalt nicht aufgewendet habe, sei eine auffallende Sorglosigkeit, die der Bewilligung der Wiedereinsetzung entgegenstehe. Ob die Erstbeklagte selbst auffallend sorglos gehandelt habe, könne dahingestellt bleiben, weil ihrem Vertreter an der Versäumung ein Verschulden zur Last liege, das über einen minderen Grad des Versehens erheblich hinausgehe.
Dagegen richtet sich der Rekurs der Erstbeklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, den Beschluss im stattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Kläger beantragen, dem Rekurs nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist berechtigt .
1. Der Rekurs wendet sich gegen die Annahme eines der Erstbeklagten zuzurechnenden groben Verschuldens:
Die Klage an den Zweitbeklagten sei am 19.12.2024 übernommen worden, dieses Datum sei dem Klagevertreter auch mitgeteilt worden, das Schriftstück sei nicht hinterlegt, sondern an diesem Tag auch übernommen worden, ein Eingangsstempel liege vor. Es habe daher nicht den geringsten Zweifel gegeben, dass an diesem Tag tatsächlich die Klage eingelangt sei. Vorzuwerfen sei dem (offensichtlich gemeint:) Zweitbeklagten bestenfalls, dass er nicht gesagt habe, dass diese Zustellung nur an ihn persönlich gerichtet gewesen sei. Er sei davon ausgegangen, dass diese Zustellung für beide Beklagten gegolten habe. Für den Beklagtenvertreter sei kein Grund vorgelegen, an diesen Zustelldaten zu zweifeln: Die Erstbeklagte sei eine Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft, der Zweitbeklagte Steuerberater. Es hieße den Sorgfaltsmaßstab von Parteienvertretern bei weitem zu überspannen, wenn sie bei Klienten, die selbst Unternehmer – im konkreten Fall Wirtschaftstreuhänder - seien, nicht auf die Angabe vertrauen dürften, dass eine fristauslösende Klage an einem bestimmten Tag persönlich übernommen worden sei.
2. Dass der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert gemäß § 146 Abs 1 ZPO die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.
Grobes Verschulden des Parteienvertreters ist der Partei zuzurechnen (RS0111777 [T7]). Gründe, die im Verhältnis zwischen Mandanten und Vertreter liegen, fallen stets in die Sphäre des Vertretenen und gehen zu dessen Lasten (RS0036729 [T1]).
An berufliche rechtskundige Parteienvertreter ist ein strengerer Maßstab anzulegen als an rechtsunkundige oder bisher noch nie an gerichtlichen Verfahren beteiligte Personen (RS0036784).
3. Grobe Fahrlässigkeit ist nach der Judikatur beispielsweise dann anzunehmen, wenn ein Rechtsanwalt auf die von einem Steuerberater auf dem Bescheid vermerkte Fristberechnung vertraut, weil er verpflichtet gewesen wäre, diese ihm schriftlich unterbreitete Fristberechnung zu überprüfen (vgl Deixler-Hübner in Fasching/Konecny 3§ 146 ZPO Rz 58). Auffallende Sorglosigkeit liegt auch vor, wenn von einem Anwalt anlässlich der Verfassung eines Rechtsmittels die Rechtzeitigkeit nicht mittels eines Eingangsvermerks oder bei dessen Fehlen durch Nachforschungen kontrolliert wird (vgl 1 Ob 213/17f betreffend die - hier allerdings unproblematische - Rechtzeitigkeit des Wiedereinsetzungsantrags).
4. Nach herrschender Rechtsprechung und Lehre sind im Wiedereinsetzungsantrag sämtliche Wiedereinsetzungsgründe (substanziiert und konkret) und Bescheinigungsmittel anzugeben, widrigenfalls diese präkludiert wären; es gilt die Eventualmaxime (vgl Gitschthaler in Rechberger/Klicka, ZPO 5§§ 148–149 ZPO Rz 2 mwN; 1 Ob 157/14s; RW0000422). Jedenfalls trifft das Gericht keine Pflicht zu Erhebungen, die über die amtswegige Überprüfung des im Wiedereinsetzungsantrag Vorgebrachten hinausgehen ( Melzer in Kodek/Oberhammer,ZPO-ON § 149 ZPO Rz 3 mwN).
5. Die Erstbeklagte hat im Wiedereinsetzungsantrag primär Vorbringen dazu erstattet, weshalb die elektronische Zustellung übersehen wurde. Darüber hinaus lässt sich dem Wiedereinsetzungsantrag nach dem Sinnzusammenhang (noch) ausreichend deutlich das Vorbringen entnehmen, dass aus diesem Grund dem Rechtsvertreter ein falsches Zustelldatum mitgeteilt worden sei (vgl insb ON 5.1, Pkt A.1.).
6. Bei einem Versehen einer sonst zuverlässigen Kanzleikraft kann ein unvorhergesehenes Ereignis im Sinne des § 146 ZPO vorliegen, so etwa dann, wenn eine jahrelang in einer Postabgabestelle tätige Angestellte versehentlich ein Schriftstück nicht weiterleitet (RS0036732 [T1, vgl T2]).
Der Umstand, dass die seit über 19 Jahren in der Kanzlei der Erstbeklagten tätige, zuverlässige Büroleiterin die Klagszustellung nicht in das Posteingangsbuch eintrug (was in weiterer Folge zur Annahme eines falschen Zustelldatums führte), ist daher nicht auf ein die Wiedereinsetzung hinderndes Organisationsverschulden der Erstbeklagten zurückzuführen.
7. Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung stellte das Erstgericht ergänzend fest:
„Im gegenständlichen Fall ging die erstbeklagte Partei davon aus, dass ihr die Klage am 19.12.2024 zugestellt wurde. Der Parteienvertreter hat sich offensichtlich auf die Angaben der erstbeklagten Partei verlassen und keine eigenen Erhebungen über das Zustelldatum der Klage getätigt.“ (Beschluss Seite 4)
Das Erstgericht ging also auf Tatsachenebene davon aus, dass dem Beklagtenvertreter auch hinsichtlich der Klage an die Erstbeklagte der 19.12.2024 als Zustelldatum mitgeteilt wurde. Somit ist zu prüfen, ob ein grobes Verschulden darin liegt, dass der Beklagtenvertreter dieses Datum nicht eigenständig nachgeprüft hat.
8. Das Erstgericht zog die Entscheidung 10 ObS 201/93 (= RS0036755) zur Begründung eines groben Anwaltsverschuldens heran. Nach dem in dieser Entscheidung zu beurteilenden Sachverhalt begnügte sich ein Rechtsanwalt mit der Auskunft, die Zustellung des fristauslösenden Schriftstücks sei „nach Erinnerung des Klienten“ an einem bestimmten Datum, jedenfalls „vergangene Woche“ erfolgt. Der OGH führte aus, dass sich ein sorgfältiger Rechtsanwalt in einem solchen Fall nicht auf die unbestimmten Angaben des Klienten über das Zustelldatum verlassen darf, und beurteilte die Unterlassung weiterer Nachforschungen als grob fahrlässig.
Ein Teil der Rechtsprechung nimmt an, dass sich ein Rechtsanwalt nicht auf die Angaben des Mandanten verlassen darf, sondern vielmehr vor der Fristeintragung eigenständig überprüfen oder durch seine Mitarbeiter überprüfen lassen muss, wann das fristauslösende Ereignis stattgefunden hat, etwa durch telefonische Anfrage bei Gericht oder durch Akteneinsicht (vgl OLG Linz 4 R 43/25h; RW0000144).
Ein anderer Teil der Rechtsprechung geht davon aus, dass der Rechtsanwalt nicht stets verpflichtet ist, die Angaben des Klienten, etwa durch Anfragen bei Gericht, zu überprüfen. Nach dieser Rechtsprechungslinie darf er sich auf die Auskünfte des Klienten nur dann nicht verlassen, wenn sie ihm aufgrund besonderer Umstände unverlässlich erscheinen, etwa weil sie zu unbestimmt sind (EFSlg 98.198; vgl OLG Graz 7 Ra 35/24g; OLG Wien 10 R 5/25s).
Im hier zu beurteilenden Fall vertraute der Rechtsanwalt auf die Angaben einer Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungskanzlei zum Datum der Zustellung einer Klage. Nach Ansicht des Senats ist in der gegebenen Konstellation zumindest kein grobes Verschulden des Rechtsanwalts anzunehmen.
9. Dass der Rechtsvertretung ein falsches Zustelldatum der Klage an die Erstbeklagte mitgeteilt wurde, indiziert - im Hinblick auf die unterbliebene Eintragung der Klagszustellung in das Posteingangsbuch - bei einzelfallbezogener Betrachtung auch kein grobes Verschulden des Komplementärs.
Das Fristversäumnis resultierte daraus, dass zunächst die Büroleiterin die Klage nicht ins Posteingangsbuch eintrug, aufgrund dessen dem Anwalt ein falsches Zustelldatum mitgeteilt wurde und schließlich keine nachträgliche Überprüfung des Zustelldatums durch den Anwalt erfolgte. Wie ausgeführt ist nach Ansicht des Senats in dieser Verkettung von Umständen jeweils kein grobes Verschulden anzunehmen.
Wäre nicht der Fehler unterlaufen, dass ein falsches Zustelldatum angenommen wurde, so hätte aus der Perspektive der Erstbeklagten – aufgrund der unterlassenen Eintragung ins Posteingangsbuch – zunächst der Eindruck entstehen können, dass die Klage noch gar nicht zugestellt war, was ebenfalls zur Säumnis hätte führen können. Auf die sich allenfalls daran anknüpfende Frage, inwieweit die Mitteilung eines falschen Datums an den Rechtsanwalt - anstelle der (alternativ) an sich indizierten Mitteilung, der Erstbeklagten sei noch gar nicht zugestellt worden - für die Säumnis überhaupt (in normativ zurechenbarer Weise) kausal war, braucht hier aber nicht näher eingegangen zu werden.
10. Die beantragte Wiedereinsetzung ist somit zu bewilligen.
11. Der Partei, welche die Wiedereinsetzung beantragt hat, ist gemäß § 154 ZPO ohne Rücksicht darauf, ob dem Antrag stattgegeben wurde oder nicht, der Ersatz aller Kosten, die dem Gegner durch die Versäumung und durch die Verhandlung über den Wiedereinsetzungsantrag verursacht sind, sowie der Ersatz der Kosten des infolge der Wiedereinsetzung unwirksam gewordenen Verfahrens aufzuerlegen.
Bei Abänderung einer vorinstanzlichen Entscheidung ist über die gesamten Kosten des bisherigen Verfahrens (hier: betreffend die Wiedereinsetzung) selbständig und ohne Rücksicht auf die bisher ergangenen Entscheidungen zu erkennen. Jede Kostenentscheidung kann immer nur mit der Sachentscheidung rechtskräftig werden (vgl 1 Ob 2402/96h). Demnach ist auch bei der (erfolgsunabhängigen) Kostenentscheidung nach § 154 ZPO im Fall einer Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung eine neue Kostenentscheidung durch das Rekursgericht zu treffen, unabhängig davon, ob eine Kostenrüge erhoben wurde.
Betreffend das Wiedereinsetzungsverfahren erster Instanz haben die Kläger Anspruch auf Kostenersatz für die (vom Erstgericht aufgetragene) Äußerung zum Wiedereinsetzungsantrag (vgl Gitschthaler in Rechberger/Klicka, ZPO 5§ 154 ZPO Rz 2/1).
Aus § 154 ZPO folgt auch, dass die Erstbeklagte den Klägern die Kosten für die – wenngleich erfolglos gebliebene Rekursbeantwortung - zu ersetzen hat (vgl Obermaier, Kostenhandbuch 4 Rz 1.303).
Für die Äußerung und die Rekursbeantwortung gebührt jedoch jeweils nur ein Streitgenossenzuschlag von 15 %, weil der Zweitbeklagte am Rekursverfahren nicht beteiligt ist (vgl Obermaier, Kostenhandbuch 4 Rz 3.25).
12. Gegen die Entscheidung, wodurch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt wird, ist gemäß § 153 ZPO ein Rechtsmittel nicht zulässig. Dies gilt auch für Bewilligung der Wiedereinsetzung durch das Rekursgericht (RS0036698 [T2]).