8Rs35/25p – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Mag. Zacek als Vorsitzende, die Richterin Mag. Derbolav-Arztmann und den Richter MMag. Popelka sowie die fachkundigen Laienrichter ADir Dietrich Wiedermann und Tanja Sehn Zuparic in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*, geboren am **, Pensionist , **, vertreten durch Mag. Helmut Kröpfl, Rechtsanwalt in Jennersdorf, gegen die beklagte Partei ** **, **, wegen Pflegegeld, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 17.12.2024, GZ **-14, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger bezieht ein Pflegegeld der Stufe 3.
Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht die auf Zuerkennung eines höheren Pflegegeldes ab 1.6.2024 gerichtete Klage ab. Es traf die auf den Seiten 2 bis 4 des Urteils ersichtlichen Feststellungen, auf die verwiesen wird.
Rechtlich ging es von einem monatlichen Pflegebedarf des Klägers von 153 Stunden aus. Damit bestehe kein über Stufe 3 hinausgehender Pflegegeldanspruch.
Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das Urteil aufzuheben und zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung ist nicht berechtigt .
1. Das Erstgericht stellte fest:
„Nachts besteht guter Schlaf und es sind nachts keine Pflegemaßnahmen durchzuführen.“ (Urteil Seite 4)
Der Kläger wendet sich gegen diese Feststellung unter dem Berufungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens . Er zielt darauf ab, dass die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson auch während der Nachtstunden notwendig sei, weil er nachts desorientiert umherirre, sodass ihn eine Pflegeperson zurück ins Bett begleiten müsse. Eine gesetzmäßig ausgeführte Tatsachenrüge liegt insofern nicht vor, da nicht dargelegt wird, aufgrund welcher Beweisergebnisse eine andere als die bekämpfte Feststellung zu treffen gewesen wäre.
2. Das Erfordernis dauernder Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht ist einer der Tatbestände, bei deren Vorliegen – unter der weiteren Voraussetzung eines durchschnittlichen monatlichen Pflegebedarfs von mehr als 180 Stunden – Pflegegeld der Stufe 6 gebührt (§ 4 Abs 2 Stufe 6 Z 2 BPGG). Ist die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich, dann steht – ebenfalls unter der Voraussetzung eines 180 Stunden übersteigenden monatlichen Pflegebedarfs – ein Pflegegeld der Stufe 5 zu (§ 4 Abs 2 Stufe 5 BPGG iVm § 6 Z 1 EinstV).
Aus dem Vorbringen, die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson sei erforderlich, ist für den Kläger insofern nichts zu gewinnen, als das Erfordernis der dauernden Beaufsichtigung (oder Bereitschaft) nur dann entscheidend wird, wenn der Pflegebedarf schon ohne dieses Erfordernis durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt (vgl RS0109571 [T3]), weil nur dann die Zuerkennung eines Pflegegeldes der Stufe 5 oder 6 in Betracht kommt (vgl RS0107439 [T1]). Soweit nicht ausdrücklich geregelt, ist die für eine notwendige Beaufsichtigung erforderliche Zeit nämlich nicht bei der Ermittlung des Betreuungsaufwandes und Hilfsaufwandes einzubeziehen (vgl RS0109571 [T1]). Nach der Beurteilung des Erstgerichts, gegen die der Kläger keine gesetzmäßige Rechtsrüge ausführt (siehe unten), beträgt der durchschnittliche monatliche Pflegebedarf 153 Stunden. Das entspricht der Pflegegeldstufe 3.
Ist es erforderlich, den Pflegebedürftigen bei nächtlicher Verwirrtheit und Umtriebigkeit ins Bett zurückzubringen, so könnte dies allenfalls einen Bedarf nach Mobilitätshilfe im engeren Sinn begründen (vgl Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 5 Rz 5.143).
Auf die Frage, ob die Annahme eines Hilfsbedarfs für die Mobilität im engeren Sinn vom Berufungsvorbringen umfasst ist, braucht aber nicht weiter eingegangen zu werden, weil die behaupteten Verfahrensmängel ohnedies nicht vorliegen.
3. Der Kläger betrachtet das Verfahren als mangelhaft, weil das Erstgericht die beantragten Zeuginnen B*, C*, D* und E* nicht einvernahm und das beantragte Gutachten aus dem Fachgebiet der Gesundheits- und Krankenpflege nicht einholte.
Medizinische Fachfragen sind nicht durch Zeugen, sondern durch gerichtlich bestellte Sachverständige zu klären (SVSlg 47.350 uva). Ein Zeuge hat nur die Wahrnehmung von Tatsachen zu bekunden, darf aber nicht zu Bewertungsproblemen befragt werden, während der Sachverständige auf Grund seiner Sachkunde Erfahrungssätze liefert, daraus Schlüsse zieht oder mit deren Hilfe Tatsachen feststellt (RS0040535). Ein Sachverständigengutachten kann daher durch Zeugenaussagen nicht entkräftet werden (SVSlg 65.716 uva). Die Vernehmung von Zeugen, zB des behandelnden Arztes, kommt idR nur in Betracht, wenn der Sachverständige dies anregt oder aufgrund eines unschlüssigen Gutachtens eine entsprechende Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage notwendig ist (vgl SVSlg 52.444). Das Unterlassen der Vernehmung von Zeugen bedingt daher idR keine Mangelhaftigkeit des Verfahrens (vgl Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 5 Rz 8.117). Das Gericht kann sich grundsätzlich darauf verlassen, dass keine notwendige oder zweckdienliche Erweiterung der Untersuchung unterbleibt, wenn sie vom Sachverständigen nicht angeregt oder vorgenommen wird (vgl SVSlg 50.079 uva).
Der Sachverständige hat eine Außenanamnese erhoben. Eine Verbreiterung der Tatsachengrundlage für seine gutachterlichen Schlussfolgerungen durch Vernehmung von Zeugen hat er nicht angeregt.
Der Sachverständige berücksichtigte die Angabe der betreuenden Pflegerin, wonach der Kläger im Allgemeinen gut schlafe (vgl ON 11.1, Seite 2). Die Berufung wendet ein, dass die Pflegerin nur unzureichend deutsch spreche. Dass Verständigungsschwierigkeiten bestanden hätten, lässt sich aber dem Gutachten nicht entnehmen. Das Erstgericht konnte daher davon ausgehen, dass eine zweckentsprechende und ausreichende Außenanamnese möglich war; dies umso mehr, als auch im Anstaltsgutachten inhaltlich entsprechende außenanamnestische Angaben festgehalten sind (Urteil Seite 4; vgl ./1, Seite 2).
4. Die Auswahl eines Sachverständigen liegt im Ermessen des Gerichts. Dieses Ermessen ist an keine konkreten gesetzlichen Vorgaben gebunden; § 8 EinstV richtet sich nur an die Entscheidungsträger im Verwaltungsverfahren (vgl Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 5 Rz 8.122).
Grundsätzlich ist im Pflegegeldverfahren nur ein Sachverständiger aus dem Fachbereich der Allgemeinmedizin heranzuziehen, weil es nicht auf die detaillierte Feststellung der Leidenszustände ankommt, sondern nur darauf, auf welche Weise die Fähigkeit zur Ausübung der lebensnotwendigen Verrichtung insgesamt eingeschränkt ist (RW000027).
Hier wurde ein Gutachten aus den Fachgebieten der Allgemeinmedizin und Neurologie eingeholt. Der Sachverständige hielt in seinem Gutachten ausdrücklich fest, dass weitere Gutachten aus anderen Fachgebieten für die Beurteilung des Pflegeaufwandes nicht erforderlich seien (siehe ON 7, Seite 11). Das Erstgericht war daher nicht gehalten, zusätzlich das beantragte Gutachten aus dem Fachgebiet der Gesundheits- und Krankenpflege einzuholen. Insbesondere ist nicht ersichtlich, weshalb sich durch ein (nicht-ärztliches) pflegerisches Gutachten weitere Aufschlüsse hätten ergeben können.
5. Mit seiner Rechtsrüge bekämpft der Kläger die rechtliche Schlussfolgerung des Erstgerichtes, wonach der Pflegebedarf 153 Stunden monatlich betrage und somit nur das bereits zuerkannte Pflegegeld der Stufe 3 zustehe, „ausdrücklich unter Hinweis auf die Mangelhaftigkeit des Verfahrens und die damit verbundene unrichtige und unvollständige Feststellung des Sachverhalts“. Ein weitere Argumentation hierzu erfolgt nicht.
Die Rechtsrüge ist daher nicht dem Gesetz gemäß ausgeführt, weil nicht dargelegt wird, aus welchen Gründen - ausgehend vom festgestellten Sachverhalt - die rechtliche Beurteilung der Sache durch das Erstgericht unrichtig erscheint (vgl RS0043603). Insbesondere bleibt auch völlig unklar, im Hinblick auf welchen rechtlich relevanten Punkt eine (sekundäre) Unvollständigkeit der Sachverhaltsgrundlage vorliegen soll.
Die Berufung ist daher erfolglos.
6. Für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit gemäß § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG ergeben sich weder aus dem Vorbringen noch aus dem Akt Anhaltspunkte (vgl RS0085829, auch [T1]), weshalb der Kläger die Kosten seines erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen hat.
7. Die ordentliche Revision war nicht zuzulassen, weil Rechtsfragen von der in § 502 Abs 1 ZPO geforderten Qualität nicht zur Beurteilung standen.