JudikaturOLG Wien

7Rs112/24b – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
28. März 2025

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Glawischnig als Vorsitzende, die Richter Mag. Zechmeister und Dr. Nowak sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Albert Koblizek und ao Univ.Prof.Mag.Dr. Monika Drs in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj A* B* , geboren am **, **, vertreten durch die Kindesmutter C* B*, ebendort, diese vertreten durch TWS rechtsanwälte og in St. Pölten, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , Landesstelle **, **, wegen Pflegegeld, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 04.07.2024, **-18, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen.

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.

Entscheidungsgründe:

Text

Mit Bescheid vom 28.02.2024 (./A) lehnte die Beklagte den klägerischen Antrag vom 31.10.2023 auf Erhöhung des bisher in Höhe der Stufe 1 zuerkannten Pflegegelds ab.

Mit der dagegen gerichteten Klage begehrte die Klägerin den Zuspruch eines höheren Pflegegeldes.

Die Beklagte wendete ein, dass kein höherer Pflegeaufwand vorliege, als dem bekämpften Bescheid zugrunde gelegt worden sei.

Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht die Klage ab.

Es traf die auf den Seiten 2 bis 4 der Urteilsausfertigung ersichtlichen Feststellungen, auf die verwiesen wird. Daraus wird hervorgehoben:

Die kognitive Leistungsfähigkeit der Klägerin ist aktuell im unteren Normbereich angesiedelt. Ihre Sprachentwicklung ist verzögert. Sie hat einen sonderpädagogischen Förderbedarf aufgrund einer Lernbehinderung und einer Wahrnehmungsstörung.

Im Rahmen einer schulpsychologische[n] Testung wurde eine leichte Intelligenzminderung festgestellt. Die Klägerin vergisst leicht Dinge, sie tut sich in der Schule schwer.

Die Klägerin ist in ihrer Entwicklung deutlich retardiert – sie weist den Stand eines 6-jährigen Kindes [auf]. Sie geht in die Volksschule **, wo sie von einer Stützkraft unterstützt wird. Sie wird nach dem Sonderschullehrplan unterrichtet.

Die Klägerin leidet unter anderem an einer leichtgradigen Intelligenzminderung.

Der Klägerin wurden am 29.06.2024 orthopädische Schuheinlagen verordnet. Feststellungen dazu, wann und in welcher Frequenz diese – in Zukunft – gewechselt werden müssen, können nicht getroffen werden.

Zwei separate schwere Funktionsstörungen liegen bei der Klägerin nicht vor.

Rechtlichfolgerte das Erstgericht zusammengefasst, entsprechend der Kinder-Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz – Kinder-EinstV – (BGBl II Nr. 236/2016) und ausgehend vom festgestellten Sachverhalt habe die Klägerin, dargestellt in Stunden pro Monat, folgenden Pflegebedarf: Tägliche Körperpflege 25 Stunden; Verrichten der Notdurft/Reinigung bei Inkontinenz 5 Stunden; An- und Auskleiden (einzelne Handgriffe) 5 Stunden; Einnahme von Medikamenten 5 Stunden; Mobilitätshilfe im weiteren Sinn 50 Stunden – insgesamt daher 90 Stunden.

Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin aus den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagsstattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beteiligte sich nicht am Berufungsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist nicht berechtigt .

1. Zum Berufungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens:

Als mangelhaft erachtet die Berufungswerberin das Verfahren, weil es das Erstgericht unterlassen habe, ein zusätzliches Sachverständigengutachten aus dem Fachgebiet der Orthopädie einzuholen.

Zur Feststellung der notwendigen Intervalle und Frequenz betreffend den Wechsel der der Klägerin verordneten orthopädischen Schuheinlagen hätte ein orthopädisches Gutachten eingeholt werden müssen, weil dieses notwendig gewesen wäre, um den tatsächlichen Pflegebedarf der Klägerin zu bestimmen. Da die Einlagen zum Zeitpunkt der Verhandlung am 04.07.2024 bereits verordnet gewesen seien, wären sie jedenfalls zu berücksichtigen gewesen. Dadurch hätte sich ein höherer Pflegebedarf ergeben.

1.1. Nach der ständigen Rechtsprechung der Sozialgerichte kommt es im Pflegegeldverfahren darauf an, auf welche Weise die Fähigkeit zur Ausübung der lebensnotwendigen Verrichtung insgesamt eingeschränkt ist. Eine detaillierte Feststellung der Leidenszustände bzw bestimmter Diagnosen ist nicht notwendig. Aus diesem Grund ist im Pflegegeldverfahren grundsätzlich nur ein Sachverständiger zu bestellen, es genügt in der Regel das Heranziehen eines Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Allgemeinmedizin, weil dessen Gutachten zur gesamtheitlichen Beurteilung des Pflegebedarfs ausreicht ( Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 5 , Rz 8.123 mwN; OLG Wien 9 Rs 72/19b; 9 Rs 134/16s; 9 Rs 40/14i; 9 Rs 35/14d uva).

Daher ist in aller Regel nur dann eine weitere Begutachtung erforderlich, wenn der Gerichtssachverständige selbst eine solche zur verlässlichen Abklärung der entscheidungsrelevanten medizinischen Voraussetzungen für erforderlich hält. Das Gericht kann davon ausgehen, dass die von ihm beigezogenen Sachverständigen so weitreichende Sachkenntnisse haben, um beurteilen zu können, ob diese im Einzelfall zur endgültigen Einschätzung ausreichen oder die Einholung weiterer Gutachten notwendig ist.

1.2. Aus diesen Gründen liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel im Pflegegeldverfahren in der Regel dann nicht vor, wenn das Erstgericht beispielsweise kein weiteres Gutachten aus einem anderen Fachbereich (vgl Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 5 , Rz 8.195 und 8.123 ff jmwN) oder aus dem selben Fachbereich ( Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 5 , Rz 8.195 und 8.129) einholte.

1.3.Die Verpflichtung zur amtswegigen Beweisaufnahme – einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens aus dem Fachgebiet der Orthopädie stellte die ab 12.04.2024 durchgehend qualifiziert vertretene Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren nicht – sowie zur darauf aufbauenden Verbreiterung der Sachverhaltsgrundlage besteht nur in Bezug auf Umstände, für deren Vorliegen sich aus den Ergebnissen des Verfahrens Anhaltspunkte ergeben. Nur dann, wenn sich aus dem Vorbringen der Parteien, aus Beweisergebnissen oder dem Inhalt des Aktes Hinweise auf das Vorliegen bestimmter entscheidungswesentlicher Tatumstände ergeben, ist das Gericht verpflichtet, diese in seine Überprüfung einzubeziehen (RS0086455).

Das Gericht ist hingegen nicht verpflichtet, sein Verfahren auf alle denkbaren Umstände zu erstrecken, für deren Vorliegen keine ausreichenden Hinweise bestehen (RS0042477 [T4, T6, T7, T10]).

1.4. Im vorliegenden Fall war die Einholung eines Sachverständigengutachtens aus dem Fachgebiet der Orthopädie nicht geboten: Der Sachverständige Dr. G* führte zu den orthopädischen Einlagen aus, dass deren Verordnung für ihn aus medizinischer Sicht nicht nachvollziehbar ist. Überdies sah er keinen zusätzlichen Pflegeaufwand gegeben, weil solche Einlagen nur eine Stunde getragen werden sollen, weshalb daher nur ein einmaliger Wechsel (wohl gemeint: pro Tag) in Rede steht, der keinen nennenswerten Pflegeaufwand darstellt (zu all dem siehe ON 17.3, Seite 3, zweiter Absatz).

Weiters führte er aus, was „die orthopädische Problematik betrifft, und dazu zählen auch die eben genannten Schmerzen, die muss man auch weiter abwarten. Hier ist man noch in einem Anfangsstadium. Es ist unter Umständen möglich, dass hier die Schere im Vergleich zu einem gesunde[n] Kind noch weiter aufgeht. Aktuell sehe ich keine Änderung in dem von mir im Gutachten festgestellten Pflegebedarf.“ (ON 17.3, Seite 3, siebter Absatz).

1.5. Aus diesen Ausführungen des Sachverständigen folgt, dass er in der Lage war, eine gesamtheitliche Beurteilung des Pflegebedarfs der Klägerin vorzunehmen, ohne dass ein Gutachten aus dem Fachgebiet der Orthopädie eingeholt hätte werden müssen.

1.6. Schließlich wird auch nicht die Wesentlichkeit des behaupteten Verfahrensmangels dargetan.

1.6.1.Bei der Beurteilung des Pflegebedarfes von Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 15. Lebensjahr ist nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht (§ 4 Abs 3 BPGG).

1.6.2. Auch ein nicht behindertes Kind im Alter der Klägerin wäre nicht in der Lage, für eine bestimmte Dauer , jedoch nicht länger oder kürzer (siehe Punkt 1.4. erster Absatz der Berufungsentscheidung), Einlagen zu tragen, ohne dass die Pflegeperson – hier die Mutter – für das ordnungsgemäße Tragen der Einlagen in der richtigen Dauer sorgte.

Das Berufungsgericht übernimmt somit die Feststellungen des Erstgerichts als das Ergebnis eines mangelfreien Verfahrens und legt sie seiner Entscheidung zugrunde.

2. Zur Rechtsrüge:

2.1. Die Berufungswerberin moniert, es sei notwendig, dass die Mutter der Klägerin mit dieser täglich etwa halbstündige Gespräche führe, um die Klägerin bei Bewältigung ihrer schulischen Aufgaben, die ihrem sachlichen Lebensbereich zuzuordnen seien, zu unterstützen. Auch belaste die Klägerin ihr Zustand deutlich, sie frage ihre Mutter wiederholt, wann sie „normal“ werde. Die Mutter habe immer wieder aufmunternde Gespräche zu führen.

Folglich hätte der Richtwert gem § 4 Abs 2 EinStV (10 Stunden) berücksichtigt werden müssen.

2.1.1. Die Berufungswerberin möchte den festgestellten Sachverhalt also um eine von ihr gewünschte Feststellung ergänzt wissen und macht solcherart einen sekundären Feststellungsmangel geltend.

2.1.2. Die Feststellungsgrundlage ist nur dann mangelhaft, wenn Tatsachen fehlen, die für die rechtliche Beurteilung wesentlich sind und dies Umstände betrifft, die nach dem Vorbringen der Parteien und den Ergebnissen des Verfahrens zu prüfen waren(RS0053317).

2.1.3.Vorbringen zur Notwendigkeit des Führens von Motivationsgesprächen mit der Klägerin fehlt im Verfahren erster Instanz zur Gänze; das erstmals dazu in der Berufung erstattete Vorbringen widerstreitet dem auch im sozialgerichtlichen Rechtsmittelverfahren geltenden Neuerungsverbot (RS0042049).

Im Sachverständigengutachten ON 7.1 veranschlagte der Sachverständige, gerade keinen Zeitwert für Motivationsgespräche, weshalb diesbezüglich ein Pflegebedarf nicht besteht.

2.1.4. Hat das Erstgericht aber Feststellungen getroffen (hier positive Feststellungen über den erforderlichen Pflegebedarf) liegt ein Feststellungsmangel nicht vor.

2.2. Weiters macht die Berufungswerberin geltend, dass die Klägerin einerseits durch ihre starke Intelligenzminderung, andererseits durch ihre Herzerkrankung und zudem ihrer orthopädischen Einschränkung sehr wohl an zumindest zwei voneinander unabhängigen schweren Funktionsstörungen leide.

Daher stehe ihr entgegen der Ansicht des Erstgerichts der Erschwerniszuschlag zu.

2.2.1. Die gesetzmäßige Ausführung des Berufungsgrundes derunrichtigen rechtlichen Beurteilung erfordert die Darlegung, aus welchen Gründen ausgehend vom konkret festgestellten Sachverhalt die rechtliche Beurteilung der Sache unrichtig erscheint (RS0043603, RS0041719; Kodekin Rechberger/Klicka ZPO 5 § 471 Rz 16).

Es reicht nicht, wenn nur allgemein die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen rechtlichen Beurteilung behauptet wird, ohne dies zu konkretisieren (RS0043603 [T12], RS0041719 [T4], RS0043605).

2.2.2. Die Rechtsrüge ist nicht gesetzmäßig ausgeführt, weil sich die Berufungswerberin darauf beschränkt zu behaupten, die diesbezügliche rechtliche Beurteilung des Erstgerichts sei falsch, ohne aber Gründe dafür zu nennen.

Überdies entfernt sie sich vom festgestellten Sachverhalt, weil sie eine – nicht festgestellte – orthopädische Einschränkung behauptet und vor allem die oben wiedergegebenen Feststellungen außer Acht lässt, die zur Annahme einer leichtgradigen Intelligenzminderung führen.

3. Der Berufung war damit ein Erfolg zu versagen.

Für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit gemäß § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG ergeben sich weder aus dem Vorbringen noch aus dem Akt Anhaltspunkte, weshalb die Berufungswerberin die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen hat.

Eine Rechtsfrage in der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO war nicht zu beantworten, weshalb die ordentliche Revision nicht zuzulassen war.