JudikaturOGH

10Ob31/25v – OGH Entscheidung

Entscheidung
Kindschaftsrecht
10. Juli 2025

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden sowie den Vizepräsidenten Hon. Prof. PD Dr. Rassi und die Hofräte Dr. Annerl und Dr. Vollmaier sowie die Hofrätin Dr. Wallner Friedl als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen S*, geboren am * 2017, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters M*, vertreten durch BHF Briefer Hülle Frohner Gaudernak Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Obsorge und Kontaktrecht, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom 28. März 2025, GZ 16 R 385/24t 82, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Die Ehe der Eltern des 8 jährigen * wurde im Jahr 2020 im Einvernehmen geschieden, wobei die gemeinsame Obsorge bei hauptsächlicher Betreuung des Minderjährigen durch die Mutter sowie ein Doppelresidenzmodell im Ausmaß von 50:50 vereinbart wurde. Zudem vereinbarten die Eltern unter Bezugnahme auf § 162 Abs 3 ABGB, das Aufenthaltsbestimmungsrecht gemeinsam auszuüben. Die Mutter beabsichtigte ab dem Jahr 2023, mit dem Minderjährigen in eine knapp 110 Kilometer weit entfernte Wohnung zu ziehen.

[2] Aufgrund des Antrags des Vaters auf Übertragung der alleinigen Obsorge stellte die Mutter den Antrag auf gerichtliche Genehmigung der Verlegung des Hauptwohnsitzes.

[3] Das Erstgericht wies nach Durchführung eines umfassenden Beweisverfahrens den Antrag des Vaters auf Übertragung der alleinigen Obsorge ab und sprach aus, dass die Obsorge weiterhin beiden Elternteilen gemeinsam verbleibt, die Verlegung des Hauptwohnsitzes des Minderjährigen nach gemäß § 162 Abs 3 ABGB genehmigt wird, legte die hauptsächliche Betreuung des Kindes bei der Mutter sowie ein Kontaktrecht des Vaters fest und trug der Mutter bis zur Rechtskraft des Beschlusses auf, einen weiteren Schulbesuch des Minderjährigen in der bisherigen Volksschule zu gewährleisten und ein Pendeln zwischen dem alten und dem neuen Wohnort mit dem Minderjährigen (ausgenommen Montag und Freitag) zu unterlassen.

[4] Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht nicht zu.

[5] Der dagegen erhobene außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters, mit dem er vor allem die hauptsächliche Betreuung bei ihm und die Festlegung eines Kontaktrechts der Mutter anstrebt, ist mangels Darlegung einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

[6] 1. Entscheidungen in Obsorgeangelegenheiten können typischerweise nur nach den Umständen des Einzelfalls getroffen werden, sodass Einzelfallentscheidungen, sofern dabei auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen wurde, keine grundsätzliche Bedeutung im Sinn des § 62 AußStrG zukommt ( RS0115719 ; RS0007101 ). Das trifft auch auf die Frage der hauptsächlichen Betreuung im Haushalt bei gemeinsamer Obsorge zu ( RS0115719 [T14]; RS0130918 [T3]).

[7] 1.1. Maßgebendes Kriterium für diese Entscheidung über die Festlegung der hauptsächlichen Betreuung gemäß § 180 Abs 2 ABGB ist – wie auch sonst bei der Regelung der Obsorge ( RS0048632 ) und des Kontaktrechts ( RS0087024 ) – allein das Kindeswohl (5 Ob 214/24t Rz 5 mwN). Es kommt darauf an, welcher Elternteil in einer Gesamtschau unter Gegenüberstellung der Persönlichkeit, der Eigenschaften und der Lebensumstände besser zur Wahrnehmung des Kindeswohls geeignet ist (2 Ob 120/23w Rz 4; 5 Ob 27/24t Rz 8).

[8] 1.2. Auch bei der Frage, ob das Kindeswohl durch eine Übersiedlung gefährdet ist, handelt es sich um eine nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung im Einzelfall, der keine grundsätzliche Bedeutung zuerkannt werden kann ( RS0048632 [T14]).

[9] 2. Der Vater zeigt in seinem Rechtsmittel nicht auf, dass die von den Vorinstanzen getroffene Entscheidung wegen nicht ausreichender Bedachtnahme auf das Kindeswohl einer höchstgerichtlichen Korrektur durch gegenteilige Sachentscheidung bedarf.

[10] 2.1. Im Außerstreitverfahren kann eine vom Rekursgericht verneinte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz im Revisionsrekursverfahren grundsätzlich nicht mehr geltend gemacht werden ( RS0050037 ; RS0030748 ), sofern nicht aus Gründen des Kindeswohls eine Durchbrechung dieses Grundsatzes erforderlich ist ( RS0050037 [T1, T4, T8, T9]; RS0030748 [T2, T5, T18]). Die Frage, ob das Aufgreifen eines vom Rekursgericht verneinten Verfahrensmangels aus Gründen des Kindeswohls erforderlich ist, stellt stets eine Frage des Einzelfalls dar ( RS0050037 [T18]).

[11] 2.2. Zudem gilt auch im Außerstreitverfahren in dritter Instanz (grundsätzlich) das Neuerungsverbot ( RS0119918 ). Der Entscheidung sind die Umstände zum Zeitpunkt der Beschlussfassung in erster Instanz zugrunde zu legen ( RS0006928 ). Ungeachtet des Neuerungsverbots kann zwar in besonderen Ausnahmefällen der Maxime des Kindeswohls im Obsorge und Kontaktrechtsverfahren dadurch zu entsprechen sein, dass neue Tatsachen auch dann zu berücksichtigen sind, wenn sie erst nach der Beschlussfassung der Vorinstanzen eingetreten sind ( RS0122192 ; RS0048056 ). Dies bezieht sich aber nur auf unstrittige und aktenkundige Umstände ( RS0048056 [T7]; RS0122192 [T3]), nicht aber auf Umstände, die erst noch durch ein Beweisverfahren zu klären wären ( RS0122192 [T4]; RS0048056 [T7]). Außerdem ist das Neuerungsverbot im Obsorgeverfahren aus Gründen des Kindeswohls nur insofern durchbrochen, als der Oberste Gerichtshof solche – nach der Beschlussfassung der Vorinstanzen eingetretene Entwicklungen – lediglich dann zu berücksichtigen hat, wenn die bisherige Tatsachengrundlage dadurch wesentlich verändert wird ( RS0048056 [T6, T10]). Im Übrigen sind daher neue Tatsachenbehauptungen in einem Rechtsmittel nicht zu berücksichtigen ( RS0122192 [T3, T4]).

[12] 3. Weder sind die vom Vater anlässlich des Revisionsrekurses vorgetragenen neuen Umstände aktenkundig oder unstrittig, noch sind sie geeignet, eine wesentliche Änderung der Tatsachengrundlage zu bewirken. Dass der Minderjährige Verhaltensauffälligkeiten und Impulsdurchbrüche, die auf den Konflikt der Eltern zurückzuführen sind, zeigt, wurde ohnehin festgestellt und ist im Übrigen auch ein Grund, warum eine Abänderung der getroffenen Obsorgevereinbarung im Interesse des Kindeswohls geboten und zulässig ist (vgl RS0132056 ). Die vom Vater nun behauptete Anpassungsstörung ist somit kein neuer Umstand, der zu einer Durchbrechung des Neuerungsverbots führen muss. Auch dass ein Schulwechsel seitens der Mutter angedacht ist, ist keine Neuerung.

[13] 4. Entgegen der Ansicht des Revisionsrekurses traf das Erstgericht im Übrigen auch ausreichend Feststellungen über die aktuelle Lebenssituation des Kindes bei einem Wohnsitz und einem damit einhergehenden Schulwechsel sowie zur jeweiligen Erziehungsfähigkeit der Elternteile und berücksichtigte dabei auch voraussichtliche zukünftige Entwicklungen ausreichend. Unter Abwägung des Für und Wider kamen die Vorinstanzen letztlich zum Schluss, den hauptsächlichen Aufenthalt aufgrund der engeren Bindung des Kindes zur Mutter, deren feinfühligerem Verhalten in der Interaktion und ihren Stärken in der emotionalen Unterstützung und Führung des Kindes bei dieser festzulegen (vgl RS0047928 [T6]).

[14] Die Beurteilung der Vorinstanzen begegnet keinen Bedenken.