JudikaturOGH

6Ob111/25d – OGH Entscheidung

Entscheidung
Kindschaftsrecht
03. Juli 2025

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hofer Zeni Rennhofer, Dr. Faber, Mag. Pertmayr und Dr. Weber als weitere Richter in der Außerstreitsache der Antragstellerin J* M*, geboren am *, Schweiz, vertreten durch Dr. Peter Polak, Rechtsanwalt in Wien, dieser vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in Wien, wider den Antragsgegner R* S*, geboren am *, vertreten durch Mag. Daniel Kirch, Rechtsanwalt in Wien, wegen Rückführung der minderjährigen E*, geboren am * 2014, nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 23. Mai 2025, GZ 43 R 116/25i 67, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Text

Begründung:

[1] Die Mutter (Antragstellerin) lebte mit ihrer Tochter seit 2022 in der Schweiz. Es bestehen nach der 2017 erfolgten Trennung der Eltern gemeinsame Obsorge und ein regelmäßiger Kontakt des Kindes mit dem in Österreich lebenden Vater (Antragsgegner). Dieser teilte der Antragstellerin im Oktober 2024 nach einem Ferienaufenthalt des Kindes bei ihm in Österreich mit, dass das Kind nicht mehr in die Schweiz zurückkehren werde.

[2] Die Vorinstanzen wiesen den Antrag der Antragstellerin auf Rückführung des Kindes in die Schweiz ab.

Rechtliche Beurteilung

[3] Der außerordentliche Revisionsrekurs der Antragstellerin zeigt keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf:

[4] 1.1. Das Rekursgericht hat sich mit den von der Antragstellerin im Revisionsrekurs behaupteten Verfahrensmängeln erster Instanz auseinandergesetzt und diese verneint. Auch im Verfahren außer Streitsachen kann eine vom Rekursgericht verneinte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Revisionsrekursverfahren nicht mehr geltend gemacht werden (RS0050037; RS0030748). Die Frage, ob im Einzelfall aus Gründen des Kindeswohls eine Durchbrechung des eingangs dargestellten Grundsatzes in Betracht kommt, lässt sich regelmäßig nur aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls beurteilen und bildet daher in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG (RS0050037 [T18]). Gründe dafür zeigt der Revisionsrekurs nicht auf und sind hier auch nicht ersichtlich.

[5] 1.2. Schon das Rekursgericht wies auf die Kontaktaufnahme des Erstgerichts mit der schweizerischen Kinderschutzbehörde, nach deren Ergebnis dort ein Kinderschutzverfahren eingeleitet, jedoch bisher noch keine Entscheidungen getroffen wurden, und den Umstand hin, dass bei einer Rückführung des Kindes in die Schweiz eine Fremdunterbringung durch die schweizerischen Behörden möglich ist. Von dieser Möglichkeit einer Fremdunterbringung geht auch der Revisionsrekurs aus. Nach der schon vom Rekursgericht aufgrund des Entscheids der schweizerischen Kinderschutzbehörde Mittelland Nord vom 19. 3. 2025 dargelegten Aktenlage befindet sich das dortige Verfahren in der Phase der Gutachtenserstellung. Die schweizerische Behörde gelangte in diesem Entscheid zur Auffassung, dass das Wohl und die Entwicklung des Kindes gefährdet sind (Pkt II.7. der Erwägungen), vor Vorliegen der (mit spätestens 30. 9. 2025 befristeten) Gutachtensergebnisse eine Rückkehr des Kindes in den mütterlichen Haushalt nicht zumutbar ist und derzeit die Betreuung durch den Vater in Österreich dem Kindeswohl entspricht (Pkt II.17. der Erwägungen). Dass und welche Vorkehrungen seitens der schweizerischen Kinderschutzbehörde zum Schutz des Kindes im Falle seiner Rückführung in die Schweiz mittlerweile getroffen worden seien, legt der Revisionsrekurs nicht dar.

[6] 1.3. Soweit sich der Revisionsrekurs gegen die erstgerichtlichen Feststellungen wendet, wonach das Kind durch das bei der Antragstellerin in der Schweiz Erlebte psychisch belastet ist, bekämpft er in unzulässiger Weise die vom Rekursgericht gebilligte Beweiswürdigung des Erstgerichts. Der Oberste Gerichtshof ist auch im Außerstreitverfahren nicht Tatsacheninstanz (RS0108449 [T2]; RS0006737; RS0006379 [T4]; zum Verfahren über die Rückführung nach dem HKÜ 1 Ob 194/10a; 6 Ob 242/20m). Es besteht daher eine Bindung an die Beweiswürdigung der Vorinstanzen und an deren Feststellungen.

[7] Zu der mit der vermissten „Abklärung“, ob die Ursache der psychischen Belastung nicht das Zurückbehalten des Kindes in Österreich sei, erkennbar gemeinten Einholung eines diesbezüglichen gerichtlichen Sachverständigengutachtens ist auf die ständige Rechtsprechung zu verweisen, wonach in Verfahren nach dem HKÜ ein Sachverständigengutachten in der Regel nicht einzuholen ist, weil dies der Verpflichtung zur Beschleunigung des Verfahrens zuwiderlaufen würde (6 Ob 54/23v [ErwGr 3.5.]; vgl RS0108469). Dass in Einzelfällen die Einholung eines kinderpsychologischen Gutachtens als unerlässlich angesehen wurde (vgl 9 Ob 102/03w), stellt diesen Grundsatz nicht in Abrede (6 Ob 54/23v [ErwGr 3.5.]; 6 Ob 218/15z [ErwGr 1.2.]).

[8] 1.4. Die Vorinstanzen sind ohnehin nicht davon ausgegangen, dass die Antragstellerin das Kind zur Selbstpenetration und Erstellen eines Videos davon aufgefordert hatte.

[9] 2.1. Nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist die zuständige Behörde – ungeachtet der grundsätzlichen Verpflichtung zur sofortigen Rückgabe des Kindes (Art 12 Abs 1 HKÜ) – dann nicht verpflichtet, die Rückgabe anzuordnen, wenn (unter anderem) die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt. Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist eng auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken (RS0074568 [T8, T12]). Ob das Kindeswohl iSd Art 13 Abs 1 lit b HKÜ bei einer Rückgabe gefährdet ist, ist eine von den jeweiligen Umständen abhängige Frage, die im Einzelfall zu entscheiden ist und daher regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG darstellt (6 Ob 153/24d [ErwGr 4.1.]; vgl RS0112662).

[10] 2.2. Nach dem Sachverhalt bemerkte das Kind immer wieder, dass die Antragstellerin Nacktbilder und Masturbationsvideos von sich erstellte und diese an andere Männer schickte. Dass es sich dabei um Teile ihrer Tätigkeit als Sexarbeiterin handelte, verstand das Kind nicht; vielmehr verstand es es als normal, solche Bilder zu erstellen. Das Kind erstellte daraufhin mit einem ihm von der Antragstellerin überlassenen Smartphone, auf dem sich Nackt- und Masturbationsbilder der Antragstellerin befanden, solche Bilder und Videos von sich selbst. Die Antragstellerin bemerkte, wie das Kind masturbierte und hatte Kenntnis von dessen Nacktbildern und Masturbationsvideos. Trotzdem klärte sie das Kind nur über etwaige dabei bestehende Verletzungsrisiken auf. Ein klärendes Gespräch über die Tätigkeit der Antragstellerin als Sexarbeiterin oder den korrekten Umgang mit digitalen Medien unterließ sie.

[11] 2.3. Das Rekursgericht war der Ansicht, die Antragstellerin sei im Bezug auf die Minderjährige verantwortungslos mit der eigenen Sexarbeit, den eigenen Nacktbildern und Masturbationsvideos (samt Verschickung an Dritte) und dem daraus resultierenden Verhalten des Kindes umgegangen. Bei einer Rückkehr in den Haushalt der Antragstellerin drohe eine akute Gefährdung der psychischen Entwicklung und Gesundheit des nunmehr zehn Jahre alten Kindes.

[12] Mit dieser Beurteilung setzt sich der Revisionsrekurs nicht auseinander und versäumt es dergestalt, eine im Einzelfall korrekturbedürftige Fehlbeurteilung aufzuzeigen.

[13] 2.4. Die Ansicht der Vorinstanzen, es sei dem seit Jahren mit seiner Lebensgefährtin in Österreich lebenden Antragsgegner nicht zumutbar, mit dem Kind in die Schweiz zu ziehen, lässt der Revisionsrekurs ebenfalls unbekämpft.

[14] Konkrete, von der schweizerischen Kinderschutzbehörde ergriffene Maßnahmen zur Kindeswohlsicherung vor einer Rückführung des Kindes in die Schweiz wurden bisher nicht getroffen (vgl 6 Ob 103/17s [ErwGr 3.1] zum hier nicht anwendbaren Art 11 Abs 4 Brüssel IIa VO [nunmehr Art 27 Abs 3 Brüssel IIb VO]). Eine Trennung des Kindes vom Antragsgegner zum Zweck der Fremdunterbringung in der Schweiz würde nach den Feststellungen überdies das ohnehin schon psychisch belastete Kind noch weiter beeinträchtigen.

[15] Ausgehend davon ist in der Auffassung, eine Rückführung in die Schweiz sei mit der schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens für das Kind verbunden bzw bringe es in eine unzumutbare Lage, keine aufzugreifende Fehlbeurteilung zu erblicken.

[16] 2.5. Mit seinem Hinweis, die Trennung vom bisherigen Familienverband in der Schweiz und die veränderten Lebensumstände würden die psychologische Betreuung des Kindes notwendig machen, entfernt sich der Revisionsrekurs von den Feststellungen, wonach die schwere psychische Belastung das Kindes aufgrund des bei der Antragstellerin in der Schweiz Erlebten bestand.