JudikaturJustizBsw76639/11

Bsw76639/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
25. September 2018

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Denisov gg. die Ukraine, Urteil vom 25.9.2018, Bsw. 76639/11.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 18 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK - Amtsenthebung eines Gerichtspräsidenten nach unfairem Verfahren.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 18 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 3.000,– für immateriellen Schaden, € 3.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. war Richter. Im November 2006 wurde er zum Präsidenten des Kiewer Verwaltungsgerichts zweiter Instanz ernannt. Anfang 2011 entschied der Rat der Verwaltungsrichter, den Betrieb des Verwaltungsgerichts zweiter Instanz zu überprüfen. Im Mai 2011 stellte der Rat unter Vorsitz von Richter K. beim Hohen Justizrat (HJR) den Antrag, den Bf. wegen des Versäumnisses, seinen verwaltungsorganisatorischen Pflichten ordnungsgemäß nachzukommen, von seiner Funktion als Präsident zu entbinden.

Am 14.6.2011 prüfte der HJR den Fall des – zur Verhandlung geladenen, jedoch zu dieser Zeit auf Sommerurlaub weilenden – Bf. in dessen Abwesenheit und setzte ihn auf Basis der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen als Gerichtspräsident ab. Begründend führte er aus, der Bf. habe bedeutende Mängel, Irrtümer und Nachlässigkeiten sowie Verstöße gegen organisationsrechtliche Bestimmungen etwa bei der Verteilung von Fällen an die Richter und bei der Besetzung von Kammern und Ausschüssen zu verantworten; insbesondere habe er es verabsäumt, menschliche Ressourcen kontrolliert und effektiv einzusetzen. An der Abstimmung durch insgesamt 18 Personen nahmen acht Richter (darunter Richter K., welcher den Antrag auf Enthebung des Bf. von seinem Posten eingebracht hatte) und der Generalanwalt teil. Die restlichen Personen gehörten nicht dem Richterstand an. Am 23.6.2011 wurde der Bf. offiziell von seiner Funktion als Gerichtspräsident entbunden, jedoch durfte er seinen ursprünglichen Posten als Richter am selben Gericht behalten.

In der Folge focht der Bf. die Entscheidung des HJR vor dem Höheren Verwaltungsgericht unter anderem wegen Rechtswidrigkeit an. Weiters stellte er einen Antrag auf Entschädigung für den aus seiner Entlassung resultierenden Einkommensverlust. Das genannte Gericht wies sein Rechtsmittel mit Urteil vom 11.10.2011 als unbegründet ab: Der Bf. habe die Tatsachen nicht abgestritten, welche zu seiner Entlassung geführt hätten, sodass diese als erwiesen angenommen werden müssten. Die Entscheidung des HJR sei recht- und verfassungsmäßig gewesen, insbesondere sei das Recht des Bf. auf persönliche Anwesenheit in der Verhandlung nicht verletzt worden, da alle notwendigen Maßnahmen gesetzt worden wären, um den Bf. über den Termin zu informieren. Der HJR habe auch seine eigenen Verfahrensregeln beachtet, in denen als einer der Gründe für die Entlassung eines Richters aus einer Verwaltungsposition ein Verstoß gegen amtliche Pflichten genannt werde.

Nach seiner Abberufung war der Bf. bis zu seiner Pensionierung im Juni 2013 beim Verwaltungsgericht zweiter Instanz als Richter tätig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet Verletzungen insbesondere von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(38) Der Bf. beklagt [...], dass die beiden Verfahren vor dem HJR und dem Höheren Verwaltungsgericht betreffend seine Enthebung als Präsident des Verwaltungsgerichts zweiter Instanz mit den Erfordernissen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit unvereinbar gewesen wären. Ferner habe der HJR seinen Fall nicht ausreichend geprüft [...].

Zur Zulässigkeit

Vorbringen der Parteien

(40) Der Bf. bringt unter Berufung auf die von der GK in Vilho Eskelinen u.a./FIN entwickelten Prinzipien vor, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auf den vorliegenden Fall unter seinem zivilrechtlichen Aspekt anwendbar sei. [...]

(41) Laut der Regierung sei der zivilrechtliche Aspekt von Art. 6 EMRK nicht anwendbar, da es hier um kein ziviles Recht gegangen sei. Der gegenständliche Rechtsstreit habe sich gänzlich innerhalb des Bereichs des öffentlichen Rechts abgespielt und der vom Bf. gestellte Entschädigungsantrag wegen Vermögensschaden habe nur eine geringe Geldsumme betroffen, die keinen signifikanten Nachteil für ihn dargestellt hätte. Aus diesen Gründen sei die vorliegende Beschwerde mit der Konvention ratione materiae unvereinbar.

Bewertung durch den GH

(47) Wendet man die Prinzipien über die Anwendbarkeit des zivilrechtlichen Aspekts von Art. 6 EMRK an, kann zuerst einmal festgestellt werden, dass eine Streitigkeit betreffend die Ausübung des Rechts vorlag, die Position als Gerichtspräsident behalten zu dürfen. Was die Frage angeht, ob ein solches »Recht« zumindest aus vertretbaren Gründen von der innerstaatlichen Rechtsordnung anerkannt wird, ist zu vermerken, dass der Bf. für die Dauer von fünf Jahren zum Präsidenten des Kiewer Verwaltungsgerichts zweiter Instanz bestellt wurde, was [...] auf innerstaatlicher Ebene nicht bestritten wurde. Der Bf. erhielt für seine Dienste als Gerichtspräsident eine spezielle Entlohnung und seine Abberufung von dieser Position war Gegenstand gewisser materiell- und verfahrensrechtlicher Voraussetzungen. Im Lichte des oben Gesagten und angesichts des Umstands, dass sich die Parteien bezüglich der Existenz des fraglichen Rechts einig waren, besteht für den GH kein Grund zur Annahme, dass das Recht des Bf., in dieser Verwaltungsposition tätig zu sein, von der innerstaatlichen Rechtsordnung nicht anerkannt wurde. [...]

(48) Der GH hält fest, dass der Streit insofern »echt« war, als die Parteien unterschiedliche Ansichten über den Verbleib des Bf. in seiner Verwaltungsposition vertraten. Er war auch »ernsthaft«, ging es doch immerhin um die Rolle des Präsidenten eines Gerichts und um die direkten finanziellen Folgen, welche aus der Entfernung des Bf. von seinem Verwaltungsposten resultierten. [...]

(49) Schließlich war die Streitigkeit »direkt entscheidend« für das strittige Recht, da es zur vorzeitigen Beendigung der Ausübung dieses Rechts durch den Bf. führte.

(53) Im Lichte obiger Prinzipien ist das Vorbringen der Regierung, der zivilrechtliche Aspekt von Art. 6 Abs. 1 EMRK sei einzig und allein deshalb nicht anwendbar, weil die Streitigkeit des Bf. dem öffentlichen Recht unterfalle [...], nicht überzeugend. [...] So kann ein öffentlich-rechtlicher Streit durchaus den zivilrechtlichen Aspekt [von Art. 6 EMRK] ins Spiel bringen, sofern die privatrechtlichen Aspekte angesichts der direkten Konsequenzen für ein ziviles vermögenswertes oder nicht vermögenswertes Recht über öffentlich-rechtliche Aspekte überwiegen. Darüber hinaus wird der GH den in Vilho Eskelinen u.a./FIN dargelegten Kriterien sowie der allgemeinen Annahme folgen, dass solche direkten Konsequenzen für zivile Rechte bei »gewöhnlichen Arbeitsstreitigkeiten« existieren, die Mitglieder des öffentlichen Dienstes einschließlich Richter betreffen.

(54) Tatsächlich betraf der vorliegende Fall eine »gewöhnliche Arbeitsstreitigkeit«, da sich diese erstens auf den Umfang der vom Bf. in seiner Eigenschaft als Beschäftigter zu leistenden Arbeit und zweitens auf sein Gehalt als Bestandteil des Beschäftigungsverhältnisses essentiell auswirkte. Unter Berücksichtigung dieser beiden Elemente besteht kein Grund zur Schlussfolgerung, bei der Streitigkeit des Bf. sei es um keine »zivilrechtlichen« Elemente gegangen oder dass ein solches Element zu bedeutungslos war, um den »zivilrechtlichen« Aspekt von Art. 6 EMRK ins Spiel zu bringen.

(55) Wendet man den Vilho Eskelinen-Test weiter an, ist unstrittig, dass das innerstaatliche Recht im Fall von geltend gemachten Ansprüchen wegen Entlassung aus administrativen Positionen in der Justiz einen Zugang zu den Gerichten vorsieht. Art. 6 EMRK ist daher in seinem zivilrechtlichen Aspekt anwendbar.

(56) Folglich ist die Einrede der Regierung zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK zurückzuweisen.

(57) Der GH stellt fest, dass dieser Beschwerdepunkt nicht offensichtlich unbegründet [...] und nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Er ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

(58) Laut dem Bf. stellt der HJR kein unabhängiges und unparteiisches Tribunal dar – dies aufgrund seiner Zusammensetzung, der Weisungsgebundenheit seiner Mitglieder gegenüber anderen staatlichen Einrichtungen, dem Mangel an objektiver Unparteilichkeit und der Existenz persönlicher Voreingenommenheit seitens mancher seiner Mitglieder. [...]

Der vom GH gewählte Ansatz

(67) Die Besonderheiten des vorliegenden innerstaatlichen Verfahrens legen nahe, dass dem Rat der Verwaltungsrichter lediglich die Rolle einer vorprüfenden Untersuchungsinstanz zukam. Dies wird vom Bf. auch nicht bestritten, der seine Rügen auf die behauptete Unfairness des Verfahrens vor dem HJR und dem Höheren Verwaltungsgericht sowie das Fehlen einer ausreichenden Überprüfung seines Falls durch Letzteres stützte. Unter diesen Umständen muss der GH prüfen, ob von beiden Instanzen die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllt wurden. Sollte dies seitens des HJR nicht der Fall sein, würden sich Fragen nach Art. 6 EMRK nur dann stellen, wenn das Höhere Verwaltungsgericht es verabsäumt hätte, eine »ausreichende Überprüfung« in Befolgung von Art. 6 EMRK zu gewährleisten. [...]

Das Verfahren vor dem HJR

(68) In seinem Urteil im Fall Oleksandr Volkov/UA legte der GH [in den Rn. 109-115] eine Reihe von Kriterien zwecks Prüfung fest, ob sich der HJR als Disziplinarbehörde für Richter an die Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit hielt. [...]

(69) Der GH fand [...], dass die in der ukrainischen Verfassung vorgesehene Zusammensetzung des HJR eine Reihe von strukturellen Defiziten aufwies, welche den Anforderungen an eine Unabhängigkeit und Unparteilichkeit widersprachen. [...]

(70) Diese Schlussfolgerungen treffen auch hier zu. Der HJR fungierte bzw. wurde unter denselben verfassungsrechtlichen Bestimmungen eingerichtet wie bei Oleksandr Volkov/UA. Folglich treten dieselben Bedenken hinsichtlich der Standards der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit auf, die im Verfahren vor dem HJR zu befolgen gewesen wären. Der Fall des Bf. wurde von 18 Mitgliedern des HJR gehört bzw. entschieden, von denen nur acht der Richterschaft angehörten. Die nichtrichterlichen Mitglieder bildeten somit die Mehrheit, welche das Ergebnis des Verfahrens entscheidend mitbestimmen konnte. Dazu verblieben ernste Fragen einerseits bezüglich der Art und Weise, wie die richterlichen Mitglieder von den Exekutiv- bzw. Legislativbehörden an den HJR delegiert wurden, wodurch die Zahl der von ihren Kollegen gewählten Richter im HJR beschränkt wurde, und andererseits der Tatsache, dass die Mehrheit der Mitglieder des HJR dort nicht voll beschäftigt und der Generalanwalt ebenfalls Mitglied war.

(71) Was die Behauptung des Bf. [...] angeht, wonach gewisse Mitglieder des HJR in seinem Fall persönliche Voreingenommenheit gezeigt hätten, kann nicht übersehen werden, dass der dem HJR angehörende Richter K. in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Rats der Verwaltungsrichter eine Rolle bei der Vorprüfung des Falls des Bf. und bei dem gegenüber dem HJR gemachten Vorschlag, ihn abzuberufen, spielte. Die Beteiligung von Richter K. im Zuge der Voruntersuchung wirft objektive Zweifel hinsichtlich seiner Unparteilichkeit auf, nahm er doch anschließend an der Entscheidung des HJR betreffend die wesentlichen Fragen im Fall des Bf. teil.

(72) Die obigen Erwägungen sind für den GH ausreichend, um zur Schlussfolgerung zu gelangen, dass es dem Verfahren vor dem HJR angesichts struktureller Defizite und dem Anschein persönlicher Voreingenommenheit an den Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit mangelte.

War die Überprüfung durch das Höhere Verwaltungsgericht ausreichend?

(74) Im Fall Oleksandr Volkov/UA fand der GH im Speziellen, dass das Höhere Verwaltungsgericht betreffend die Abberufung eines Richters von seinem Posten keine ausreichende Überprüfung des Falls vorgenommen hatte [siehe die Rn. 125-128].

(75) Diese Erwägungen treffen voll auf den vorliegenden Fall zu. Bei der Überprüfung der Entscheidung des HJR [...] agierte das Höhere Verwaltungsgericht innerhalb derselben gesetzlichen Rahmenbedingungen und mit denselben beschränkten Befugnissen sowie Ungewissheiten, was die finalen rechtlichen Folgen anging.

(76) Wenn man sich zudem den Inhalt der hier auf dem Spiel stehenden Streitigkeit vor Augen führt, bestehen ernste Unstimmigkeiten zwischen den [vom Bf.] geltend gemachten und den tatsächlichen Überprüfungsgründen. Zum ersten vertrat das Höhere Verwaltungsgericht die Ansicht, der Bf. habe die Tatsachen nicht abgestritten, welche den Grund für seine Entlassung gebildet hätten, sodass diese als erwiesen angenommen werden müssten. Diese Schlussfolgerung ist keineswegs vereinbar mit dem Vorbringen des Bf. vor dem Höheren Verwaltungsgericht, in dem er diese Tatsachen offenkundig abstritt. Er brachte insbesondere vor, die Erwägungen des HJR seien zu allgemein gewesen und dieser hätte seine Schlussfolgerungen hinsichtlich der spezifischen Umstände und des ihnen zugrunde liegenden Zeitfensters konkretisieren müssen.

(77) Zum zweiten machte das Höhere Verwaltungsgericht keinen ernsthaften Versuch, ein vom Bf. vorgebrachtes weiteres wichtiges Argument zu überprüfen, welches den behaupteten Mangel an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Verfahren vor dem HJR betraf. Letzteres kam [...] zu dem allgemeinen Schluss, dass vom HJR weder die Verfassung noch ukrainische Gesetze verletzt worden wären. Es verabsäumte es jedoch, eine Bewertung dahingehend durchzuführen, ob im Verfahren vor dem HJR die Prinzipien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit beachtet worden waren, ohne für dieses Versäumnis Gründe anzuführen.

(78) Die Überprüfung des Falls des Bf. durch das Höhere Verwaltungsgericht war daher nicht ausreichend. Es vermochte somit die Defizite hinsichtlich der prozessualen Fairness, welche im Verfahren vor dem HJR auftraten, nicht zu heilen.

Befolgte das Höhere Verwaltungsgericht selbst die Standards der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit?

(79) Was die von der überprüfenden Gerichtsinstanz zu beachtenden Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit unter Art. 6 Abs. 1 EMRK angeht, wurde eine solche Überprüfung im vorliegenden Fall von den Richtern des Höheren Verwaltungsgerichts bewerkstelligt, die auch der Disziplinargewalt des HJR unterstanden. Das bedeutet mit anderen Worten, dass diese Richter auch Gegenstand eines Disziplinarverfahrens vor dem HJR sein konnten. Die Tatsache, dass die Richter des Höheren Verwaltungsgerichts Disziplinarrecht unterlagen und an die Regeln richterlicher Disziplin und Ethik gebunden waren, ist an und für sich kein Grund, ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in Bezug auf die Disziplinarvorschriften vollstreckende Behörde anzuzweifeln. Probleme [...] können sich aber dann ergeben, wenn die Struktur und die Funktionsweise des Disziplinarkörpers ernste Fragen in dieser Hinsicht aufwerfen. Der vorliegende Fall wirft in der Tat ernste Fragen solcher Art seitens des HJR auf, nämlich im Besonderen im Hinblick auf strukturelle Mängel und den Anschein persönlicher Voreingenommenheit (vgl. die Rn. 70-72 des vorliegenden Urteils). Zweitens war der HJR nicht bloß eine Disziplinarbehörde, sondern in Wahrheit eine mit weitreichenden Befugnissen ausgestattete Behörde, was das berufliche Leben (Ernennung, Disziplinarmaßnahmen, Entlassung) von Richtern betrifft. Auf der Basis dieser Faktoren und unter besonderer Berücksichtigung des rechtlichen und faktischen Hintergrund des Falls findet der GH im Lichte [der Feststellungen im Urteil] Oleksandr Volkov/UA, dass die den Fall des Bf. [...] erörternden Richter des Höheren Verwaltungsgerichts die von Art. 6 EMRK geforderte Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht zu demonstrieren vermochten.

Ergebnis

(81) Somit verabsäumte es der HJR, im Fall des Bf. eine unabhängige und unparteiische Untersuchung zu gewährleisten. Die nachfolgende Prüfung des Falls durch das Höhere Verwaltungsgericht konnte diesen Mängeln nicht abhelfen.

(82) Folglich hat eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(83) Der Bf. beklagt sich [...], dass durch seine Abberufung von der Position des Präsidenten des Verwaltungsgerichts zweiter Instanz sein Recht auf Achtung des Privatlebens verletzt worden wäre.

(85) [...] Dadurch hätten seine Karriere, sein guter Ruf sowie seine sozialen und beruflichen Beziehungen irreparablen Schaden genommen. Ferner sei angesichts der Kürzung seines Gehalts bzw. seines in Aussicht stehenden Pensionsanspruchs auch sein materielles Wohlergehen gefährdet. [...]

Bewertung durch den GH

Vorbemerkung zur Zulässigkeit

(94) Der GH wird zuerst prüfen, ob Art. 8 EMRK auf den vorliegenden Fall anwendbar ist und ihm Jurisdiktion ratione materiae zukommt, den relevanten Beschwerdepunkt in der Sache zu prüfen.

Die Reichweite von Art. 8 EMRK bei Arbeitsstreitigkeiten

(115) [...] Arbeitsstreitigkeiten sind nicht per se vom Anwendungsbereich des »Privatlebens« iSv. Art. 8 EMRK ausgeschlossen. [...] Es existieren gewisse typische Aspekte des Privatlebens, die bei derartigen Streitigkeiten durch eine Entlassung, Herabstufung, Nichtzulassung zu einem Beruf oder durch vergleichbare unvorteilhafte Maßnahmen beeinträchtigt werden können. Diese Aspekte beinhalten (a) den »inneren Familienkreis« des Bf., (b) seine Möglichkeiten, Beziehungen zu knüpfen und zu entwickeln und schließlich (c) seine soziale und berufliche Reputation. Es gibt zwei Möglichkeiten, bei denen in derartigen Streitigkeiten gewöhnlich Fragen betreffend das Privatleben auftreten können: entweder wegen der Gründe für die umstrittene Maßnahme (in einem solchen Fall wendet der GH den »grundbasierten Ansatz« an) oder – in gewissen Fällen – wegen der Konsequenzen für das Privatleben (»folgenbasierter Ansatz«).

(116) Steht der »folgenbasierte Ansatz« auf dem Spiel, kommt der Schwelle der Schwere [...] essentielle Bedeutung zu. Es liegt am Bf. überzeugend nachzuweisen, dass die Schwelle in seinem Fall erreicht wurde. Er muss auch Beweise vorlegen, welche die aufgrund der umstrittenen Maßnahme erlittenen Folgen belegen können. Der GH wird die Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK nur dann bejahen, wenn diese Konsequenzen sehr ernster Natur sind und sie das Privatleben des oder der Bf. in einem signifikanten Ausmaß beeinträchtigt haben.

(117) Der GH hat in verschiedenen Regelungszusammenhängen Kriterien zur Bewertung der Schwere bzw. Ernsthaftigkeit von behaupteten Verletzungen aufgestellt. Demnach muss das von einem Bf. erlittene Leid im Wege eines Vergleichs seines Lebens vor und nach der strittigen Maßnahme bewertet werden. Der GH erwägt weiters, dass es in arbeitsbezogenen Fällen bei der Bestimmung der Ernsthaftigkeit der Konsequenzen angemessen ist, die vom Bf. vorgebrachte subjektive Wahrnehmung vor dem Hintergrund der im spezifischen Fall existierenden objektiven Umstände zu bewerten. Eine solche Analyse würde sowohl die materiellen als auch die nichtmateriellen Auswirkungen der gerügten Maßnahme umfassen. [...]

Anwendung der einschlägigen Prinzipien auf den vorliegenden Fall

(120) Die ausdrücklichen Gründe für die Abberufung des Bf. von der Position als Präsident des Verwaltungsgerichts zweiter Instanz waren strikt auf seine Arbeitsleistung in der öffentlichen Arena beschränkt, nämlich sein angebliches Führungsversagen, welches den ordnungsgemäßen Gerichtsbetrieb beeinträchtigte. Die angeführten Gründe bezogen sich lediglich auf die Verwaltungsaufgaben des Bf. am Arbeitsplatz und hatten keinen Bezug zu seinem Privatleben. [...]

(122) Was die Konsequenzen der Entlassung des Bf. für seinen »inneren Familienkreis« anging, führte diese laut seinen Angaben zu einer Reduktion seines Gehalts bzw. seiner in Aussicht gestellten Pensionsansprüche. Mit anderen Worten ging es um eine Verschlechterung des materiellen Wohlstands des Bf. und seiner Familie. [...] Im vorliegenden Fall hat der Bf. keinerlei Beweise vorgelegt, welche den GH zu der Annahme veranlassen könnten, dass die nachfolgende Verringerung seines Monatsgehalts den »inneren Kreis« seines Privatlebens ernsthaft beeinträchtigt hatte. [...]

(123) Bezüglich des Eingehens und der Aufrechterhaltung von Beziehungen mit anderen ist zu sagen, dass die Abberufung des Bf. von seinem Posten [...] nicht zur Entlassung aus seinem Beruf führte. Er konnte seine Arbeit als gewöhnlicher Richter fortsetzen und blieb am selben Gericht, gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen. Daraus folgt, dass – obgleich die Möglichkeiten des Bf., Beziehungen insbesondere beruflicher Natur mit anderen einzugehen, durchaus eingeschränkt sein konnten – keinerlei faktischen Gründe existieren, welche den Schluss nahelegen würden, dass diese Effekte erheblich gewesen wären. [...]

(124) Die Frage verbleibt, ob sich die umstrittene Maßnahme auf den guten Ruf des Bf. in einer solchen Weise auswirkte, dass sie sein Ansehen bei seinen Mitmenschen schmälerte – mit dem Resultat, dass sie Auswirkungen auf Interaktionen mit der Gesellschaft hatte. [...]

(125) Zum beruflichen Ansehen des Bf. ist zu sagen, dass seine primäre berufliche Funktion die eines Richters war. Der richterliche Beruf verlangte von ihm den Besitz von spezifischem Wissen, didaktischer Qualifikationen, Fachkönnen und Erfahrung. Der überwiegende Teil seines Gehalts war eine Vergütung für seine Tätigkeiten in diesem Dienst. Gleichzeitig ist jedoch die erfolgreiche Absolvierung einer vorsitzenden oder administrativen Funktion in einem Gericht – strenggenommen – kein Charakteristikum des richterlichen Berufs. Objektiv gesehen stellte daher die richterliche Funktion die fundamentale Berufsrolle des Bf. dar. Seine Position als Gerichtspräsident, mochte sie noch so bedeutend und prestigeträchtig im Bereich der Justiz und vom Bf. entsprechend seiner subjektiven Auffassung wertgeschätzt gewesen sein, bezog sich nicht auf die Hauptsphäre seiner beruflichen Aktivitäten.

(126) Im vorliegenden Verfahren untersuchten die nationalen Behörden zu keiner Zeit das Auftreten des Bf. als Richter oder äußerten ihre Meinung über seine richterliche Kompetenz bzw. Berufsausübung. Die Entscheidungen in seinem Fall betrafen lediglich seine Fähigkeiten als Verwalter, seine berufliche Rolle als Richter wurde nicht erwähnt. Dieser begrenzte Bereich der Prüfung und Kritik vermochte das Kernstück der beruflichen Reputation des Bf. nicht zu berühren. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der vorliegende Fall wesentlich von Oleksandr Volkov/UA, in dem der Bf. für seine Leistung als Richter kritisiert und diszipliniert wurde.

(127) Der GH nimmt als nächstes Kenntnis vom Vorbringen des Bf., wonach – nachdem er 25 Jahre als Gerichtspräsident gewirkt habe – die Position des Präsidenten des Kiewer Verwaltungsgerichts zweiter Instanz den Höhepunkt seiner beruflichen Karriere dargestellt und seine Entlassung daher die Meinung seiner Kolleginnen und Kollegen über seine Kompetenz untergraben habe. Der Bf. hat allerdings [...] nicht spezifiziert, inwiefern dieser behauptete Ansehensverlust ihm ernste Nachteile in seiner beruflichen Umgebung beschert hätte. Jedenfalls steht dem GH nicht ausreichend Material zur Verfügung, um schließen zu können, dass der angebliche Ansehensverlust den von Art. 8 EMRK geforderten hohen Schweregrad [...] erreicht hätte.

(128) Insbesondere hat der Bf. nicht ausreichend dargelegt, in welcher Form die Abberufung von seiner Funktion seine weitere Karriere als Richter beeinträchtigt hätte. Eine Wiederernennung war dadurch nicht ausgeschlossen, mögen Erwägungen in diese Richtung aufgrund seines fortgeschrittenen Alters auch bloß in der Theorie bestanden haben. In jedem Fall hatte die gerügte Maßnahme hinsichtlich ihrer Dauer keinen signifikanten Effekt, war sie doch auf den Rest der Amtsdauer des Bf. in der Richterschaft beschränkt, bevor er zwei Jahre später das Pensionsalter erreichen sollte.

(129) Zum sozialen Ansehen im Allgemeinen ist zu sagen, dass die von den Behörden vorgebrachte Kritik breitere ethische Aspekte der Persönlichkeit und des Charakters des Bf. nicht in Mitleidenschaft zog. Zwar basierte seine Abberufung auf [behördlich] festgestellte Verstöße gegen amtliche Pflichten im Bereich der Gerichtsverwaltung, jedoch enthielten diese Schlussfolgerungen keinen Vorwurf eines absichtlichen Fehlverhaltens oder eines strafrechtlich relevanten Verhaltens. Die moralischen Werte des Bf. wurden nicht in Frage gestellt und den angefochtenen Entscheidungen können auch keine in diese Richtung gehenden Vorwürfe entnommen werden.

(130) Auch die Behauptung des Bf., die Entscheidung über seine Abberufung sei über die Massenmedien verbreitet worden und somit einer nicht identifizierbaren Zahl von Personen bekannt geworden, vermag als solche keinen substanziellen Schaden für seine berufliche und soziale Reputation zu demonstrieren. [...]

(131) Zuletzt bietet auch der Verfahrensakt keine Stütze für die Behauptung des Bf., der Schaden für seinen guten Ruf sei angesichts der nachteiligen Auswirkungen auf die Interessen seiner Kinder ernst gewesen und dies habe sein Privatleben negativ beeinflusst. [...]

(132) Der Bf. hat weder im innerstaatlichen Verfahren noch vor dem GH irgendwelche weiteren spezifischen persönlichen Umstände vorgebracht, die ernste Auswirkungen der gerügten Maßnahme auf sein Privatleben nahelegen könnten.

(133) Folglich ist [...] festzustellen, dass die Entlassung des Bf. limitierte negative Auswirkungen auf sein Privatleben hatte und daher den von Art. 8 EMRK geforderten Schweregrad [...] nicht überschritt.

Ergebnis

(134) Der GH kommt zum Schluss, dass Art. 8 EMRK nicht anwendbar ist. Die diesbezügliche Einrede der Regierung bleibt daher aufrecht, sodass dieser Beschwerdepunkt gemäß Art. 35 Abs. 3 lit. a und Abs. 4 EMRK [als unzulässig] zurückzuweisen ist (mehrstimmig) [...].

Zur behaupteten Verletzung von Art. 18 EMRK und von Art. 1 1. Prot. EMRK

(135) Der Bf. behauptet, seine Abberufung von der Position des Präsidenten des Verwaltungsgerichts zweiter Instanz habe in Verstoß gegen Art. 18 EMRK (Begrenzung der Rechtseinschränkungen) hintergründige politische Zwecke verfolgt. Er macht ferner eine Verletzung seiner vermögenswerten Rechte iSv. Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) geltend, da er vom Bezug eines höheren Gehalts und einer höheren Pension ausgeschlossen worden sei.

(136) Der GH vermerkt, dass die Beschwerde des Bf. unter Art. 18 EMRK erstmals 2017 [...] vor der GK geltend gemacht wurde. Sie wurde daher außerhalb der Sechs-Monats-Frist erhoben und muss somit für unzulässig [...] erklärt werden (einstimmig).

(137) Was die Beschwerde des Bf. unter Art. 1 1. Prot. EMRK betrifft, ist dieser Artikel nur auf den existierenden Besitz einer Person anwendbar und schafft kein Recht auf den Erwerb von Eigentum. Zukünftiges Einkommen kann nicht als »Eigentum« angesehen werden, solange es noch nicht verdient wurde oder endgültig fällig ist. Die Abberufung des Bf. vom Posten des Gerichtspräsidenten nahm ihm die Möglichkeit, ein höheres Gehalt [...] zu beziehen und Ansprüche auf höhere Pensionszahlungen [...] geltend zu machen. Dieses zusätzliche Einkommen wurde jedoch noch nicht verdient und war auch nicht definitiv fällig. Unter diesen Umständen ist diese Beschwerde wegen Unvereinbarkeit ratione materiae mit der Konvention [...] [als unzulässig] zurückzuweisen (einstimmig).

Zu den weiteren gerügten Konventionsverletzungen

(138) Der Bf. rügt unter Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) Verstöße gegen die Prinzipien der Waffengleichheit, Rechtssicherheit sowie eines »auf Gesetz beruhenden Gerichts« und gegen das Erfordernis der ordnungsgemäßen Begründung von Entscheidungen. Unter Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) bestreitet er das Vorliegen eines effektiven Rechtsbehelfs in seinem Fall.

(139) [...] Es besteht keine Notwendigkeit einer separaten Entscheidung über die [...] verbleibenden Beschwerdepunkte (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 3.000,– für immateriellen Schaden; € 3.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig). [...]

Vom GH zitierte Judikatur:

Vilho Eskelinen u.a./FIN v. 19.4.2007 (GK) = NL 2007, 94 = ÖJZ 2008, 35

Özpinar/TR v. 19.10.2010

Oleksandr Volkov/UA v. 9.1.2013 = NLMR 2013, 11

Erményi/H v. 22.11.2016

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.9.2018, Bsw. 76639/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 446) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/18_5/Denisov.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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