JudikaturJustizBsw61838/10

Bsw61838/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
18. Oktober 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Vukota-Bojic gg. die Schweiz, Urteil vom 18.10.2016, Bsw. 61838/10.

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK - Überwachung eines Unfallopfers durch die Krankenversicherung mit Hilfe von Privatdetektiven.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 8.000,– für immateriellen Schaden, € 15.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. war seit 1993 als Friseuse tätig. Im August 1995 wurde sie von einem Motorrad angefahren und prallte mit dem Hinterkopf auf den Boden. Der von ihr aufgesuchte Rheumatologe diagnostizierte ein Halswirbeltrauma, möglicherweise auch ein Schädeltrauma, von ihrem Hausarzt wurde sie bis Jahresende krank geschrieben. Anfang 1996 durchgeführte medizinische Untersuchungen kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich ihrer Arbeitsfähigkeit. Nachdem ein Gutachten der Bf. ab 1.2.1997 volle Arbeitsfähigkeit bescheinigt hatte, stellte ihre Krankenversicherung den Bezug eines Taggeldes wegen Arbeitsunfähigkeit mit 1.4.1997 ein.

Am 21.3.2002 wurde der Bf. von der Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich rückwirkend eine volle Invaliditätspension gewährt. In der Folge ersuchte sie die Krankenversicherung, zu ihrer Verpflichtung zur Gewährung von Versicherungsleistungen Stellung zu nehmen. Letztere hielt jedoch an ihrer Leistungseinstellung fest. Mit Entscheidung vom 28.12.2005 anerkannte das von der Bf. angerufene Sozialversicherungsgericht die Existenz eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Unfall und ihrem Gesundheitszustand und verwies die Angelegenheit zur Entscheidung zurück. Der Aufforderung ihrer Krankenversicherung, sich einer Prüfung ihres funktionellen Leistungsvermögens zu unterziehen, kam die Bf. jedoch nicht nach.

Am 3.,10., 16. und 26.10.2006 wurde die Bf. im Auftrag der Krankenversicherung von Privatdetektiven für die Dauer von jeweils mehreren Stunden überwacht. Nachdem sie auf die Überwachung aufmerksam geworden war, ersuchte sie um Zugang zum Überwachungsbericht einschließlich der Fotos, was ihr schließlich gewährt wurde. Laut dem Überwachungsbericht sei eine neue neurologische Untersuchung der Bf. aufgrund der Fotos und Videoaufnahmen, welche sie bei Verrichtungen des alltäglichen Lebens ohne nennenswerte Bewegungseinschränkungen zeigten, unerlässlich.

Die Bf. erhob Einspruch und beantragte unter anderem Schadenersatz wegen Beeinträchtigung ihrer Privatsphäre sowie die Vernichtung des Überwachungsakts. 2007 beauftragte die Krankenversicherung einen Neurologen – Dr. H. – mit der Erstellung einer anonymen Expertise auf der Basis aller bisherigen medizinischen Untersuchungen und der Überwachungsaufnahmen. Dieser kam zu einer Arbeitsunfähigkeit im Ausmaß von 10?%. Eine Analyse der Überwachungsbilder hätte ergeben, dass die Fähigkeit der Bf., ein normales Leben zu führen, nur minimal eingeschränkt sei.

Mit Entscheidung vom 10.4.2008 wies die Krankenversicherung den Einspruch der Bf. ab und sprach ihr ein Taggeld sowie eine Invaliditätspension auf der Basis eines Behinderungsgrads in der Höhe von 10?% zu.

Die Bf. rief daraufhin das Sozialversicherungsgericht an, welches ihrem Antrag auf Zuerkennung einer Invaliditätspension in der Höhe von 70?% bzw. von Schadenersatz wegen Eingriffs in ihre Privatsphäre unter anderem mit der Begründung stattgab, der Überwachungsbericht hätte mangels rechtlicher Grundlage für die Überwachung nicht als Beweis zugelassen werden dürfen.

Mit Urteil vom 29.3.2010 gab das Bundesgericht einer dagegen erhobenen Beschwerde der Krankenversicherung Folge und behob die Entscheidung des Sozialversicherungsgerichts. Begründend führte es aus, dass es sich bereits in einem ähnlichen Fall mit der Frage auseinandergesetzt hätte, ob eine derartige Überwachung rechtens sei und ihre Ergebnisse als Beweismittel verwertet werden dürften – und dies unter der Voraussetzung bejaht hätte, dass bestimmte Rahmenbedingungen eingehalten würden. Letztere seien bei der Observation der Bf. eingehalten worden. Die Entscheidung der Krankenversicherung sei nicht zu beanstanden, da aufgrund des Vorliegens widersprüchlicher Ärzteberichte und Gutachten weitere Abklärungen notwendig gewesen seien.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügt Verletzungen von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) und von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(44) Die Bf. [...] beanstandet den Mangel an Klarheit und Präzision in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften, die als rechtliche Grundlage für ihre Überwachung gedient hätten.

(45) Der vorliegende Beschwerdepunkt ist nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK. Da auch keine anderen Unzulässigkeitsgründe ersichtlich sind, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Waren die Handlungen dem Staat zuzurechnen?

(46) Die umstrittene Überwachungsmaßnahme wurde von einer privaten Krankenversicherung angeordnet. Ihr war jedoch vom Bundesamt für öffentliche Gesundheit das Recht übertragen worden, Leistungen aus Pflichtversicherungen bereitstellen zu dürfen [...]. Gemäß der Rechtsprechung der nationalen Gerichte werden solche Versicherungsunternehmen als öffentliche Stellen angesehen, die – insofern als sie bindende Entscheidungen treffen – verpflichtet sind, die aus der Verfassung erfließenden Grundrechte zu respektieren.

(47) Der GH ist der Ansicht, dass gleiches auch für die Konvention gelten muss, hat er doch bereits betont, dass sich ein Staat nicht von seiner Verantwortung unter der Konvention befreien kann, indem er seine Verpflichtungen auf private Stellen oder Individuen überträgt. Angesichts der Tatsache, dass die betreffende Krankenversicherungsanstalt für die Abwicklung des staatlichen Versicherungssystems zuständig ist und von Rechts wegen als Behörde angesehen wird, ist sie auch als eine solche zu betrachten und sind von ihr getätigte Handlungen dem belangten Staat zurechenbar.

Lag ein Eingriff vor?

(55) Im Kontext der Überwachung von Handlungen eines Individuums im Wege von Foto- oder Videovorrichtungen hat der GH bereits festgehalten, dass der normale Gebrauch von Überwachungskameras – ob nun auf Straßen oder in öffentlichen Gebäuden, wo sie einem legitimen und vorhersehbaren Zweck dienen – keine Fragen unter Art. 8 EMRK aufwirft. Fragen unter dem Aspekt des Privatlebens können allerdings im Fall der (permanenten und systematischen) Aufnahme von Daten auftreten.

(57) In einem Fall betreffend die geheime Videoüberwachung einer Angestellten an ihrem Arbeitsplatz [...] kam der GH zu dem Ergebnis, dass diese über 50 Stunden währende Prozedur [...], die Verwendung der Videobänder als Beweis im Verfahren vor den Arbeitsgerichten sowie die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, die Vernichtung der Bänder anzuordnen, einen ernsten Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Privatlebens dargestellt hätten (Köpke/D).

(58) Umgelegt auf den vorliegenden Fall muss der GH darüber befinden, ob die Verwendung des im Zuge der geheimen Überwachung der Bf. auf öffentlichen Plätzen gewonnenen Filmmaterials und der Bilder eine Verarbeitung oder einen Gebrauch von persönlichen Daten darstellte, sodass von einem Eingriff in ihr Recht auf Achtung ihres Privatlebens ausgegangen werden muss. In diesem Zusammenhang beobachtet der GH, dass die Bf. von Privatdetektiven, welche im Auftrag ihrer Krankenversicherung handelten, an vier verschiedenen Terminen innerhalb von 23 Tagen systematisch und absichtlich beobachtet und gefilmt wurde. Das Aufnahmematerial wurde aufbewahrt und sortiert, ferner wurden die »erbeuteten« Bilder als Ausgangslage für ein Sachverständigengutachten und schlussendlich für eine Neubewertung ihrer Leistungsansprüche verwendet.

(59) Nach Anwendung der oben skizzierten Prinzipien auf die Umstände rund um die Überwachung der Bf. gibt sich der GH damit zufrieden, dass der permanente Charakter der Film- und Bildaufnahmen und deren weitere Verwendung in einem Versicherungsstreit als Verarbeitung oder Sammeln von persönlichen Daten über die Bf. angesehen werden kann, was zu einem Eingriff in ihr »Privatleben« iSv. Art. 8 Abs. 1 EMRK führte.

War der Eingriff gerechtfertigt?

(69) [...] Es steht außer Streit, dass sich die auf die Bf. zur Anwendung kommende Überwachungsmaßnahme auf Art. 43 iVm. Art. 28 Abs. 2 Sozialversicherungsgesetz bzw. Art. 96 lit. b Unfallversicherungsgesetz stützte. Diese Bestimmungen sehen vor, dass für den Fall, dass der bzw. die Versicherte der Verpflichtung zur Herausgabe der verlangten Information nicht nachkommt, die Versicherungsgesellschaft aus eigenem Antrieb erforderliche Ermittlungsmaßnahmen setzen und notwendige Informationen sammeln darf. Insbesondere ist es ihr gestattet, persönliche Daten, einschließlich solcher sensibler Natur, zu verarbeiten bzw. deren Verarbeitung zu verlangen sowie Persönlichkeitsprofile anzufordern, falls dies notwendig sein sollte, um Ansprüche auf eine Versicherungsleistung feststellen und sie mit solchen von anderen Sozialversicherungsfonds verrechnen, bemessen und koordinieren zu können.

(70) Es besteht kein Zweifel, dass diese Bestimmungen der Bf. zugänglich waren. Bleibt zu prüfen, ob sie eine ausreichend klare und detaillierte rechtliche Basis für den vorliegenden Eingriff darstellten.

(71) Bei der Entscheidung über die Frage, ob die Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, auf welchen die Überwachung der Bf. basierte, dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit Rechnung trugen, vermerkt der GH, dass sich diese auf die Verpflichtung des bzw. der Versicherten beschränkten, »alle Auskünfte zu erteilen, die zur Abklärung des Anspruchs erforderlich sind« (Art. 28 Abs. 2 Sozialversicherungsgesetz). Versicherungsunternehmen ist es erlaubt, »die notwendigen Abklärungen von Amts wegen vorzunehmen und die erforderlichen Auskünfte einzuholen« (Art. 43 leg. cit.), ebenso wie auch »persönliche Daten zu verarbeiten oder verarbeiten zu lassen« (Art. 96 Unfallversicherungsgesetz), um ihren Pflichten für den Fall nachzukommen, dass sich eine versicherte Person weigert, mit dem Versicherer zu kooperieren und die erforderliche Auskunft zu erteilen. Nach Ansicht des GH scheinen die angeführten Bestimmungen weder explizit noch implizit die Anfertigung von Bildern oder von Videoaufnahmen als eine der Abklärungsmaßnahmen miteinzuschließen, die von den Versicherungsträgern angewendet werden dürfen. [...]

(72) Bei der Beurteilung, ob das nationale Recht adäquate und effektive Garantien gegen Missbrauch enthielt, nimmt der GH Notiz vom Vorbringen der Regierung, wonach Art. 28 ZGB [Schutz der Persönlichkeit] und Art. 179quater StGB [Verletzung des Geheim- oder Privatbereichs durch Aufnahmegeräte] im Lichte der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichts insofern ausreichende Sicherheiten gegen die missbräuchliche Verwendung von Überwachungsmaßnahmen darstellen würden, als sie diese Maßnahme auf Tätigkeiten in der Öffentlichkeit beschränken und eine Kontaktaufnahme mit dem bzw. der Versicherten mit dem Ziel, in sein oder ihr Leben einzugreifen, verbieten würden.

(73) Zwar sieht die erwähnte Rechtsprechung des Bundesgerichts gewisse Sicherheiten hinsichtlich des Umfangs der Überwachungsmaßnahme vor, jedoch gibt sich der GH angesichts des durchgehenden Mangels an Klarheit der innerstaatlichen Bestimmungen über diese Angelegenheit nicht damit zufrieden, dass sie ausreichend waren, um adäquate und effektive Garantien gegen Missbrauch darzustellen.

(74) Insbesondere geht weder aus den obigen Bestimmungen noch aus der zitierten Rechtsprechung hervor, welcher Prozedur bei der Genehmigung oder der Kontrolle der Umsetzung von Überwachungsmaßnahmen im spezifischen Kontext von Streitigkeiten mit der Versicherung zu folgen wäre. Ferner wird (als öffentliche Stellen handelnden) Versicherungsunternehmen angesichts fehlender detaillierter Regelungen hinsichtlich der Maximaldauer von Überwachungsmaßnahmen bzw. fehlender Möglichkeit von deren gerichtlicher Anfechtung ein weites Ermessen bei der Entscheidung über die Rechtfertigung und die Dauer der Überwachung eingeräumt. Davon, dass vom nationalen Recht ein strikter Standard für die Genehmigung der strittigen Überwachungsmaßnahme gesetzt worden wäre, kann daher keine Rede sein.

(75) Zudem schweigen besagte Rechtsbestimmungen über die zu wählende Prozedur, was die Aufbewahrung, den Zugang, die Prüfung, die Verwendung, die Übermittlung und die Vernichtung von aus Überwachungsmaßnahmen gewonnenen Daten angeht. Es blieb daher im Dunkeln, wo und für wie lange der Überwachungsbericht mit den von der Bf. gemachten Aufnahmen gelagert wurde, welche Personen Zugang zu ihm hatten und ob die Bf. über Rechtsbehelfe verfügte, mit denen sie den Umgang mit dem besagten Bericht anfechten konnte. Dies alles vergrößerte notwendigerweise das Risiko eines unbefugten Zugangs zum Überwachungsmaterial oder seiner Offenlegung.

(76) Die Regierung gibt zu bedenken, dass der in Frage stehende Eingriff [...] angesichts der auf dem Spiel stehenden öffentlichen Interessen, nämlich Verhinderung von Versicherungsbetrug und – letztlich – ordnungsgemäße Verwaltung öffentlicher Gelder, relativ gering sei. In dieser Hinsicht würde sich die [vom GH verlangte] Notwendigkeit einer klaren und präzisen gesetzlichen Regelung der strittigen Überwachung relativieren. Zwar gesteht der GH durchaus zu, dass die gegenständliche Überwachung weniger eingriffsintensiv hinsichtlich des Privatlebens einer Person war als etwa eine Telefonüberwachung, jedoch darf er die generellen Prinzipien betreffend adäquaten Schutz gegen willkürliche Eingriffe in die Rechte des Art. 8 EMRK, wenn es um Überwachungsmaßnahmen geht, nicht außer Acht lassen.

(77) Aus diesen Gründen und ungeachtet des behaupteten geringfügigen Eingriffs in die Rechte der Bf. unter Art. 8 EMRK vertritt der GH die Auffassung, dass das Schweizer Recht nicht mit ausreichender Klarheit das Ausmaß und die Art und Weise der Ausübung des dem Versicherungsunternehmen [vom Staat] übertragenen Ermessens angab, wenn dieses als Behörde bei Versicherungsstreitigkeiten die geheime Überwachung von Versicherten veranlasste. Insbesondere bestanden nicht die von der Rechtsprechung des GH geforderten Sicherheiten gegen Missbrauch. Dem Eingriff in die Rechte der Bf. unter Art. 8 EMRK fehlte es daher an einer Rechtsgrundlage. Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

(80) Die Bf. bringt vor, das Bundesgericht habe sein Urteil ausschließlich auf die Schlussfolgerungen des zum von der Krankenversicherung zu Beweiszwecken vorgelegten Sachverständigengutachtens gestützt, welches seinerseits hauptsächlich auf den Resultaten der illegalen Überwachung beruht habe. Das Gutachten sei von Dr. H. verfasst worden, der in einem finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zur Verwaltung stehe. Es sei wohl bekannt, dass dieser für ihre Krankenversicherung tätig sei, sodass er nicht als unabhängiger Experte angesehen werden könne. Ferner würden sich seine Schlussfolgerungen im Wesentlichen auf den von Privatdetektiven (die ebenfalls von der Krankenversicherung wirtschaftlich abhängig seien) verfassten Überwachungsbericht gründen. Weder der Überwachungsbericht noch der von Dr. H. verfasste Bericht könnten somit als unparteiisch angesehen werden.

(81) Die Bf. behauptet schließlich, keine Gelegenheit zur Stellungnahme zu den Aufnahmen bzw. zum danach verfassten Bericht gehabt zu haben. Sie habe zudem keine Möglichkeit gehabt, die Bestellung von Dr. H. zur Begutachtung ihres Falls anzufechten [...].

Zur Zulässigkeit

(87) Die »Hauptrüge« der Bf. unter Art. 6 EMRK dürfte sich auf die Tatsache beziehen, dass das Bundesgericht bei der Entscheidung ihres Falls das Überwachungsmaterial wie auch den darauf basierenden medizinischen Bericht in Betracht zog.

(88) Der vorliegende Beschwerdepunkt ist [...] für zulässig zu erklären (einstimmig).

(89) Die Bf. erhob noch eine Reihe weiterer Rügen unter Art. 6 EMRK [vgl. Rn. 80]. [...] In diesem Zusammenhang wies die Regierung darauf hin, dass Dr. H. für die Krankenversicherung nicht als Angestellter tätig sei, was die Bf. nicht weiter abgestritten hat. Jedenfalls möchte der GH klarstellen, dass die bloße Tatsache, dass Sachverständige von den Verwaltungsbehörden beschäftigt werden und in deren Auftrag einen Fall überprüfen, per se nicht ausreicht, um ihnen »unterstellen« zu können, sie wären außerstande, ihre Pflichten mit der notwendigen Objektivität auszuüben. Es ergeben sich auch keine Fragen einer fehlenden Objektivität dahingehend, dass der betreffende Mediziner von der Krankenversicherung zum Sachverständigen für das Verfahren bestellt wurde und sie ihn offensichtlich auch für diese Tätigkeit entlohnt hat.

(90) Was den Rest der Behauptungen der Bf. unter Art. 6 EMRK angeht, findet der GH im Lichte des ihm bereitgestellten Materials, dass er keine Fragen unter dieser Konventionsbestimmung aufwirft. Dieser Teil der Beschwerde [...] muss daher wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

In der Sache

(91) Bleibt zu prüfen, ob die Tatsache, dass sich die innerstaatlichen Gerichte auf in Verstoß gegen Art. 8 EMRK gewonnene Beweise stützten, auch das Recht des Bf. auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK verletzte.

(92) In diesem Zusammenhang erinnert der GH daran, dass [...] Art. 6 EMRK keinerlei Regeln über die Zulassung oder die Einschätzung von Beweisen enthält, was deshalb in erster Linie Regelungsgegenstand des nationalen Rechts und der nationalen Gerichte ist.

(93) Es ist daher prinzipiell nicht Aufgabe des GH, darüber zu entscheiden, ob bestimmte Arten von Beweisen – beispielsweise Beweise, die nach innerstaatlichem Recht unrechtmäßig erlangt wurden – zugelassen werden sollten. Es muss einzig und allein die Frage beantwortet werden, ob das Verfahren als Ganzes – einschließlich der Art und Weise, wie die Beweise gewonnen wurden – fair war. Dies schließt eine Überprüfung der betreffenden Unrechtmäßigkeit und – falls die Verletzung eines anderen Konventionsrechts im Raum steht – des Charakters der festgestellten Verletzung mit ein.

(94) Bei der Prüfung des Charakters der festgestellten Konventionsverletzung erinnert der GH daran, dass die Frage, ob die Verwendung von in Zuwiderhandlung gegen Art. 8 EMRK erlangter Informationen als Beweis das Verfahren entgegen Art. 6 EMRK als ganzes unfair machten, anhand der Gesamtumstände des Falls, einschließlich der Achtung der Verteidigungsrechte des oder der Bf. sowie der Qualität und Bedeutung der vorliegenden Beweise, beurteilt werden muss.

(95) Insbesondere muss geprüft werden, ob dem Bf. Gelegenheit zur Anfechtung der Authentizität der Beweise und zum Widerspruch gegen ihre Verwendung gegeben wurde. Zusätzlich muss die Qualität der Beweise in Augenschein genommen werden, ferner die Umstände, unter denen sie erlangt wurden und ob diese Anlass zu Zweifeln hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit und Richtigkeit gaben. Schließlich muss der GH der Frage Augenmerk schenken, ob der fragliche Beweis für den Ausgang des Verfahrens entscheidend war oder nicht.

(96) Auf den gegenständlichen Fall umgelegt muss der GH prüfen, ob die Verwendung von konventionswidrig erlangten Beweisen in einem Verwaltungsverfahren das Verfahren der Bf. als Ganzes unfair machte.

(97) Der GH merkt zunächst an, dass Art. 6 EMRK auf Sozialversicherungsstreitigkeiten anwendbar ist.

(98) Was die Gesamtfairness des Verfahrens [...] angeht, weist der GH darauf hin, dass die Bf. in ihrem Rechtsmittel an das Sozialversicherungsgericht um Entfernung des Überwachungsmaterials aus ihrem Akt ersuchte, da es einen »Angriff auf ihre Persönlichkeit« darstelle. Letzteres gab ihrem Antrag Folge und schloss den Überwachungsbericht als Beweismittel aus. Im Beschwerdeweg stellte das Bundesgericht fest, dass die Überwachung gemäß seiner einschlägigen Rechtsprechung nicht unrechtmäßig gewesen war und ließ den Überwachungsbericht als Beweis zu. Die Bf. hatte somit Gelegenheit, in einem kontradiktorischen Verfahren den umstrittenen Beweis anzufechten und sich seiner Verwendung zu widersetzen. Im Übrigen setzten sich die innerstaatlichen Gerichte mit ihrem Antrag intensiv und in einer wohlbegründeten Entscheidung auseinander.

(99) [... ] Weiters waren die umstrittenen Aufnahmen, gemeinsam mit dem auf dem Überwachungsbericht basierenden Sachverständigengutachten, nicht die einzigen Beweise, auf die sich das Bundesgericht als Basis für seine Entscheidung über den Fall der Bf. bezog. Wie aus dessen Schlussfolgerungen ersichtlich wird, zog dieses auch andere verfügbare Beweisstücke heran – wie insbesondere die vor der Überwachung existierenden Widersprüchlichkeiten in den medizinischen Berichten.

(100) Angesichts der vorstehenden Erwägungen findet der GH, dass die Verwendung des heimlich aufgenommenen Materials über die Bf. in ihrem Versicherungsstreit die Erfordernisse der Fairness iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht verletzt hat. [Es ist somit keine Verletzung von Art. 6 EMRK erfolgt (einstimmig).]

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 8.000,– für immateriellen Schaden; € 15.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).

Vom GH zitierte Judikatur:

Peck/GB v. 28.1.2003 = NL 2003, 19

Perry/GB v. 17.7.2003

Uzun/D v. 2.9.2010 = NLMR 2010, 271

Köpke/D v. 5.10.2010 (ZE) = NLMR 2010, 335 = EuGRZ 2011, 471

Iris Spycher/CH v. 17.11.2015 (ZE) = NLMR 2015, 550

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.10.2016, Bsw. 61838/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2016, 444) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_5/Vukota-Bojic.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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