JudikaturJustizBsw47152/06

Bsw47152/06 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
23. März 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Blokhin gg. Russland, Urteil vom 23.3.2016, Bsw. 47152/06.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c und lit. d EMRK - Anhaltung eines 12-jährigen, an ADHS leidenden mutmaßlichen Straftäters nach unfairem Verfahren.

Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c und lit. d EMRK (11:6 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 7.500,– für immateriellen Schaden, € 1.910,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Beim Bf. handelt es sich um einen russischen Staatsbürger, der 1992 geboren wurde. 2004 wurde sein Großvater zu seinem gesetzlichen Vertreter bestellt. Der Junge litt an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (Anm: Das ist eine geistige und neurologische Verhaltensstörung, bei der die Fähigkeit zur Selbststeuerung und Selbstkontrolle beeinträchtigt ist. Das äußert sich etwa durch Beeinträchtigungen der Konzentration und der Aufmerksamkeit, impulsives und unüberlegtes Handeln sowie körperliche Unruhe und einen ausgeprägten Bewegungsdrang.) sowie an Enuresis (Bettnässen). Am 27.12.2004 und 19.1.2005 wurde er von einem Neurologen und einem Psychiater untersucht und ihm eine medizinische Behandlung, reguläre Kontrolle durch einen Neurologen und einen Psychiater und regelmäßige psychologische Beratung verschrieben.

Am 3.1.2005 wurde der Bf., der zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt war, im Haus seines neunjährigen Nachbarn S. festgenommen, nachdem dessen Mutter die Polizei gerufen hatte. Auf der Polizeistation wurde er vernommen und der Erpressung von S. beschuldigt. Laut eigenen Angaben sei er von der Polizei gedrängt worden, ein Geständnis zu unterzeichnen, was er auch getan hätte. Er zog das Geständnis allerdings zurück, nachdem sein Großvater auf die Station gekommen war.

Die Jugendaufsichtsbehörde stellte auf Basis des Geständnisses und der Aussagen von S. und dessen Mutter während der Voruntersuchung fest, dass die Handlungen des Bf. Elemente der Straftat der Erpressung aufwiesen, er aber nicht verfolgt werden könne, da er noch nicht strafmündig war. Am 21.2.2005 ordnete das BG Novosibirsk für dreißig Tage seine Unterbringung in einem vorübergehenden Anhaltezentrum für jugendliche Straftäter (im Folgenden: »das Zentrum«) an. Es verwies darauf, dass seine Tat von den Aussagen von S. und dessen Mutter sowie durch sein eigenes Geständnis bestätigt worden wäre. Der Bf. wurde am selben Tag im besagten Zentrum untergebracht.

Beschwerden des Großvaters bei den Strafverfolgungsbehörden, weil sein Sohn in Abwesenheit seines gesetzlichen Vertreters eingeschüchtert und dann verhört und sein Geständnis unter Zwang erlangt worden wäre, blieben ebenso erfolglos wie seine Beschwerde gegen die Haftanordnung vom 21.2.2005.

Nach Angaben des Bf. erhielt er in dem Zentrum keine medizinische Versorgung für sein Bettnässen und seine ADHS, insbesondere sei der Zugang zur Toilette beschränkt gewesen, so dass er Schmerzen und Demütigung zu erleiden gehabt habe. Den Insassen wäre es zudem nur selten erlaubt worden, in den Hof zu gehen und sie seien Kollektivstrafen unterworfen worden. Zweimal pro Woche wäre Mathematik und russische Grammatik für eine Gruppe von 20 Kindern unterschiedlichen Alters und Schulniveaus in einer Klasse unterrichtet worden.

Nach seiner Entlassung aus der Haft wurde der Bf. ins Krankenhaus gebracht, wo er für etwa drei Wochen blieb und seine Neurose und ADHS behandelt wurden.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), weil er im Zentrum für jugendliche Straftäter keine angemessene medizinische Versorgung erhalten hätte und die Haftbedingungen dort unangemessen gewesen seien. Daneben rügte er eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Rechtmäßigkeit der Haft) durch seine Anhaltung sowie eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), weil das Verfahren seiner Unterbringung im Zentrum unfair gewesen sei, da er von der Polizei ohne Beisein seines Vormunds, eines Anwalts oder Lehrers befragt worden sei und keine Möglichkeit gehabt hätte, Belastungszeugen ins Kreuzverhör zu nehmen.

Einreden der Regierung

Die Regierung behauptete, dass der Bf. es verabsäumt hätte, vor dem GH seine Beschwerden unter Art. 3 EMRK im Hinblick auf die fehlende medizinische Versorgung im Zentrum sowie unter Art. 6 EMRK betreffend die Voruntersuchung innerhalb der in Art. 35 Abs. 1 EMRK vorgesehenen sechsmonatigen Frist zu erheben.

Einhaltung der sechsmonatigen Frist hinsichtlich der Rügen unter Art. 3 EMRK

(111) [...] Nachdem die einzige konkrete Antwort, die [der Großvater] hinsichtlich dieser Beschwerde erhielt, durch das Urteil vom 29.5.2006 erfolgte, als ihm im Wesentlichen gesagt wurde, dass es keinen Sinn hätte, sich weiter zu beschweren, da die Haft des Bf. schon geendet hätte, erwägt der GH, dass die sechsmonatige Frist unter den besonderen Umständen des Falles von diesem Datum an berechnet werden sollte, da weitere Beschwerden an die Behörden keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätten. Nachdem die Beschwerde vor dem GH am 1.11.2006 erhoben wurde, liegt die Rüge des Bf. nach Art. 3 EMRK innerhalb der sechsmonatigen Frist.

(112) Die Einrede der Regierung ist daher abzuweisen.

Einhaltung der sechsmonatigen Frist hinsichtlich der Rügen unter Art. 6 EMRK

(118) [...] Der GH stellt fest, dass [die Voruntersuchung und das Verfahren, das zur Unterbringung des Bf. im vorübergehenden Anhaltezentrum führte,] für die Zwecke des vorliegenden Falles als ein einziger Verfahrensgang gesehen werden müssen [...]. Die Einrede der Regierung im Hinblick auf die Einhaltung der sechsmonatigen Frist betreffend die Voruntersuchung muss daher zurückgewiesen werden, da die endgültige innerstaatliche Entscheidung im Hinblick auf das Verfahren als ganzes am 29.5.2006 getroffen wurde, als der Präsident des LG Novosibirsk das ursprüngliche Urteil aufrechterhielt, das die Unterbringung des Bf. im Zentrum anordnete. [...]

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

Die anwendbaren Grundsätze

(135) [...] Um in den Anwendungsbereich des von Art. 3 EMRK umfassten Verbots zu fallen, muss die dem Opfer erteilte oder von ihm erlittene Behandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen. Die Beurteilung dieses Mindestmaßes [...] ist eine relative, die von allen Umständen des Falles abhängt, wie der Dauer der Behandlung, ihren physischen und geistigen Auswirkungen und in manchen Fällen dem Geschlecht, dem Alter und dem Gesundheitszustand des Opfers.

(137) [...] Die in Gefängniseinrichtungen geleistete medizinische Behandlung muss angemessen sein [...].

(138) [...] Wenn es um Kinder geht, erwägt der GH, dass im Einklang mit etabliertem internationalen Recht die Gesundheit von Jugendlichen, die ihrer Freiheit beraubt wurden, gemäß den für Jugendliche in der Gemeinschaft anerkannten medizinischen Standards gewährleistet werden muss (Anm: Siehe etwa Empfehlung (2008)11 des Ministerkomitees des Europarats vom 5.11.2008, Europäische Grundsätze für die von Sanktionen und Maßnahmen betroffenen jugendlichen Straftäter und Straftäterinnen, Grundsätze 57, 62.2, 62.5, 69.2 und 73 lit. d; UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 26.1.1990 (»KRK«), BGBl. 1993/7, Art. 3 Abs. 3 ; Regeln der Vereinten Nationen zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug (»Havana Rules«), Resolution 45/113 der Generalversammlung vom 14.12.1990, Regeln 49-53.). Die Behörden sollten stets vom Kindeswohl geleitet werden und dem Kind sollte geeignete Pflege und geeigneter Schutz garantiert werden. Zudem muss, wenn die Behörden erwägen, einem Kind die Freiheit zu entziehen, eine medizinische Beurteilung des Gesundheitszustands des Kindes erfolgen, um zu entscheiden, ob er oder sie in einem Jugendhaftzentrum untergebracht werden kann.

(140) [...] Gemäß der Rechtsprechung des GH zu Art. 2 und 3 EMRK entstehen starke Tatsachenvermutungen im Hinblick auf Verletzungen, Schäden und Tod, die während dieser Haft passieren, wenn die fraglichen Ereignisse ganz oder zu einem großen Teil innerhalb des ausschließlichen Wissens der Behörden liegen, wie im Fall von in Haft unter ihrer Kontrolle stehenden Personen. In einem solchen Fall kann die Beweislast als bei den Behörden liegend gesehen werden [...]. In Abwesenheit einer solchen Erklärung kann der GH Rückschlüsse ziehen, die für die belangte Regierung ungünstig sind.

Anwendung im vorliegenden Fall

(141) Der GH hält zunächst fest, dass sowohl das junge Alter des Bf. als auch sein Gesundheitszustand bei der Beurteilung, ob das Mindestmaß an Schwere erreicht wurde, von Bedeutung sind.

(142) Im vorliegenden Fall bemerkt der GH, dass die Regierung [...] zahlreiche Dokumente zur Stützung ihrer Eingaben vorgelegt hat, um zu zeigen, dass die Bedingungen im Zentrum gut waren und eine medizinische Behandlung gewährt wurde. [...]

(143) Während der GH [...] das Vorbringen nicht in Frage stellt, dass einige der Dokumente des Zentrums betreffend den Bf. im Einklang mit den damals einschlägigen in Kraft stehenden Regeln vernichtet worden sein mögen, befreit dies die Regierung nicht von der Verpflichtung, ihre Tatsacheneingaben durch geeignete Beweise zu untermauern.

(144) [...] Der GH hält es [...] durch die vom Bf. vorgelegten medizinischen Atteste für erwiesen, dass dieser am 27.12.2004 und 19.1.2005 – also nur wenig mehr als einen Monat, bevor er im Zentrum untergebracht wurde – von einem Neurologen und Psychiater untersucht wurde. Zu dieser Zeit wurde ihm eine medikamentöse Behandlung sowie die regelmäßige Kontrolle durch einen Neurologen und Psychiater sowie regelmäßige psychologische Beratung für seine ADHS verordnet. Es wurde später in medizinischen Aufzeichnungen festgehalten, dass der Bf. am Tag nach seiner Entlassung aus dem Zentrum ins Krankenhaus gebracht und wegen einer Neurose und ADHS behandelt wurde. Er blieb zumindest bis zum 12.4.2005 im Krankenhaus, somit für ungefähr drei Wochen.

(145) Zudem bemerkt der GH, dass der Großvater des Bf. bei der Haftverhandlung am 21.2.2005 medizinische Atteste vorlegte, um zu zeigen, dass der Bf. an ADHS litt. Er stellte dadurch sicher, dass die Behörden sich seines Zustands bewusst waren. In diesem Zusammenhang beobachtet der GH, dass bei der Verhandlung am 21.2.2005 ein Beamter der Jugendaufsicht anwesend war und dass § 31.2 des Jugendschutzgesetzes erforderte, dass auch ein Vertreter des Zentrums anwesend war. [...]

(146) Daher erwägt der GH, dass auch wenn die persönliche Akte des Bf. im Zentrum zerstört wurde, ausreichend Beweise vorliegen, um zu zeigen, dass den Behörden der Gesundheitszustand des Bf. bei dessen Aufnahme in das Zentrum bewusst war und dass er der Behandlung bedurfte. Zudem liefert der Umstand, dass er am Tag nach seiner Entlassung ins psychiatrische Krankenhaus gebracht wurde und für fast drei Wochen dort blieb, ein Indiz dafür, dass ihm im Zentrum nicht die notwendige Behandlung zuteil wurde. Der Bf. hat daher dem GH einen prima facie-Fall fehlender medizinischer Behandlung vorgelegt. [...] Der GH befindet, dass die Regierung es verabsäumte zu zeigen, dass der Bf. während seines Aufenthalts in dem Zentrum – wo er für dreißig Tage ohne ein Recht zu gehen und völlig unter Kontrolle und Verantwortlichkeit des Personals angehalten wurde – die medizinische Versorgung erhielt, die sein Zustand verlangte. Unter diesen Umständen waren die Behörden verpflichtet, die Würde und das Wohlbefinden des Bf. zu schützen und sind für die Behandlung, die er erfuhr, nach der Konvention verantwortlich.

(148) Die vorangehenden Überlegungen sind ausreichend, um zum Schluss zu kommen, dass es zu einer Verletzung der Rechte des Bf. nach Art. 3 EMRK aufgrund des Fehlens notwendiger medizinischer Behandlung im Zentrum kam, berücksichtigt man sein junges Alter und seine besonders verwundbare Situation, da er an ADHS litt.

(149) Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK

(164) [...] Der GH bestätigt die Feststellung der Kammer, wonach die Unterbringung des Bf. in dem Zentrum für 30 Tage eine Freiheitsentziehung iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK darstellte und bemerkt insbesondere, dass das Zentrum geschlossen und bewacht war und dass es eine 24-Stunden-Überwachung von Häftlingen gab, um sicherzustellen, dass sie das Gelände nicht ohne Genehmigung verließen, sowie ein Disziplinarregime [...].

(165) [...] In Übereinstimmung mit den Feststellungen der Kammer, wonach die Haft des Bf. nicht in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 1 lit. a, b, c, e oder f EMRK fällt, wird der GH seine Prüfung darauf konzentrieren, ob die Unterbringung des Bf. im Zentrum im Einklang mit Art. 5 Abs. 1 lit. d EMRK stand.

(167) Eine Anhaltung zum Zweck der überwachten Erziehung nach Art. 5 Abs. 1 lit. d EMRK muss in einer geeigneten Einrichtung erfolgen, welche die Ressourcen hat, um die nötigen erzieherischen Ziele und Sicherheitserfordernisse erfüllen zu können. Die Unterbringung in einer solchen Einrichtung muss jedoch nicht unbedingt sofort passieren. Lit. d schließt eine vorübergehende Haft, die selbst keine überwachte Erziehung beinhaltet, als Vorbereitung auf ein Regime überwachter Erziehung nicht aus. Unter solchen Umständen muss die vorübergehende Haftmaßnahme [jedoch] rasch von der tatsächlichen Anwendung eines Regimes von überwachter Erziehung gefolgt werden [...].

(168) Im vorliegenden Fall geht aus den einschlägigen Bestimmungen des Jugendschutzgesetzes hervor, dass die Unterbringung in einem entsprechenden Zentrum vorübergehend sein muss – wie schon der Name selbst anzeigt – und nur für die kürzest mögliche Zeit erfolgen darf (maximal 30 Tage). So kann z. B. ein Minderjähriger dort untergebracht werden, während seine Identität und sein Wohnsitz festgestellt werden oder für die Zeit, die für seinen Transfer zu einer oder seine Rückkehr nach dem Ausbruch aus einer geschlossenen Erziehungseinrichtung nötig ist [...]. Keiner dieser Gründe ist jedoch im vorliegenden Fall einschlägig, da die Unterbringung des Bf. erfolgte, um »sein Verhalten zu bessern«. Jedenfalls weisen die verschiedenen im Jugendschutzgesetz vorgesehenen Gründe für die Unterbringung eines Minderjährigen in einem vorübergehenden Anhaltezentrum darauf hin, dass der Zweck nur eine vorübergehende Unterbringung ist, bis eine Dauerlösung gefunden wird, und nicht eine »überwachte Erziehung«.

(169) Nach Ansicht des GH und entgegen den Behauptungen der Regierung kann die Unterbringung des Bf. im Zentrum nicht mit der Unterbringung in einer geschlossenen Erziehungseinrichtung verglichen werden, die eine gesonderte und langfristige Maßnahme darstellt, um Minderjährigen mit ernsten Problemen zu helfen. Wie oben erwähnt, ist die Unterbringung in einem vorübergehenden Anhaltezentrum eine kurzfristige, temporäre Lösung, und der GH kann nicht sehen, wie während einer maximalen Zeit von 30 Tagen eine bedeutsame überwachte Erziehung geleistet werden kann, um das Verhalten des Minderjährigen zu ändern und ihm eine angemessene Behandlung und Rehabilitation anzubieten.

(170) Was das Vorbringen der Regierung anbelangt, dass der Bf. im vorübergehenden Anhaltezentrum schulische Ausbildung erhielt, stellt der GH fest, dass die Dokumente, auf die sich die Regierung stützte, zeigen, dass während der Zeit, zu der der Bf. dort war, eine Übereinkunft mit einer örtlichen Schule existierte, für die Jugendlichen im Zentrum Bildung anzubieten. In diesem Zusammenhang erwägt der GH, dass schulische Bildung im Einklang mit dem normalen Schulcurriculum Standardpraxis für alle Minderjährigen sein muss, denen die Freiheit entzogen wurde und die sich unter der Verantwortung des Staates befinden, um Lücken in ihrer Ausbildung zu vermeiden – selbst wenn sie für einen begrenzten Zeitraum in einem vorübergehenden Haftzentrum untergebracht werden. Das wird auch von internationalen Instrumenten gestützt, die sich mit der Freiheitsentziehung von Minderjährigen befassen (Anm: Siehe etwa Empfehlung (2008)11 des Ministerkomitees des Europarats (Fn. 2), Grundsätze 77, 78.3 und 78.5; Leitlinien des Ministerkomitees des Europarats für eine kindgerechte Justiz vom 17.11.2010, Nr. 21 und 28; »Havana Rules« (Fn. 2), Regel 38; Rahmenbestimmungen der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit (»Beijing-Rules«), Resolution 40/33 der Generalversammlung vom 29.11.1985, Regel 26.2.). Folglich erwägt der GH, dass – auch wenn er akzeptiert, dass in dem Zentrum etwas Bildung angeboten wurde – dies das Argument der Regierung nicht untermauerte, dass die Unterbringung des Bf. »zum Zweck« überwachter Erziehung erfolgte. Im Gegenteil war das Zentrum mehr durch sein Disziplinarregime charakterisiert als durch die angebotene Ausbildung.

(171) Der GH hält es zudem für wichtig, dass keines der innerstaatlichen Gerichte, das die Haftanordnung des Bf. prüfte, feststellte, dass die Unterbringung erzieherischen Zwecken diente. Stattdessen verwiesen sie auf die »Besserung des Verhaltens« und die Notwendigkeit, ihn an der Begehung weiterer Straftaten zu hindern. Beides ist kein gültiger, von Art. 5 Abs. 1 lit. d EMRK gestützter Grund. Tatsächlich beobachtet der GH, dass der Zweck der »Besserung des Verhaltens« mit dem Ziel der Bestrafung nach Art. 43 Abs. 2 StGB und Art. 87 Abs. 2 StGB (für Minderjährige zwischen 14 und 18 Jahren) zusammenfällt.

(172) Angesichts des Vorgesagten stellt der GH fest, dass die Unterbringung des Bf. im vorübergehenden Anhaltezentrum nicht unter Art. 5 Abs. 1 lit. d EMRK fiel. Da bereits festgestellt wurde, dass die Haft nicht unter eine der anderen lit. dieser Bestimmung fiel, kam es zu einer Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

Zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK

(179) Der GH bemerkt, dass die Kammer in ihrem Urteil zum Schluss kam, dass das Verfahren gegen den Bf. ein Strafverfahren iSd. Art. 6 EMRK darstellte. [...]

(180) Er sieht keinen Grund, von den Feststellungen der Kammer abzugehen [...], dass seine Unterbringung im Zentrum für dreißig Tage klare Elemente sowohl der Abschreckung als auch der Bestrafung aufwies.

(181) Angesichts des oben Gesagten stimmt der GH der Behauptung der Regierung nicht zu, wonach die Rügen unter Art. 5 Abs. 4 EMRK geprüft werden sollten. Nach seiner Ansicht müssen die Rügen des Bf., da das Verfahren gegen ihn die Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage betraf, im Kontext der weiterreichenden Verfahrensgarantien gesehen werden, wie sie in Art. 6 EMRK garantiert sind [...]. Der GH fügt hinzu, dass er nicht mit der Regierung übereinstimmt, dass die Situation des Bf. gleich wie jene eines geistig kranken Beschuldigten behandelt werden solle. In Fällen von geistig kranken Beschuldigten können die Verfahren zu ihrer Unterbringung in geschlossenen Einrichtungen führen, um sie zu behandeln und an der Begehung weiterer Straftaten zu hindern. Es stehen – anders als im Fall des Bf. – keine bestrafenden oder abschreckenden Elemente auf dem Spiel.

(182) Demgemäß kommt der GH zum Schluss, dass das Verfahren gegen den Bf. ein strafrechtliches iSd. Art. 6 EMRK war und diese Bestimmung daher im vorliegenden Fall anwendbar ist.

Vereinbarkeit mit Art. 6 EMRK

Allgemeine Grundsätze

(195) Was jugendliche Straftäter anbelangt, hat der GH festgehalten, dass die Strafverfahren so organisiert sein müssen, dass der Grundsatz des Kindeswohls beachtet wird. Es ist wesentlich, dass ein Kind, das einer Straftat beschuldigt wird, auf eine Weise behandelt wird, die sein Alter, seinen Reifegrad sowie seine intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten vollständig berücksichtigt, und dass Schritte gesetzt werden, um seine Fähigkeit, das Verfahren zu verstehen und daran teilzunehmen, zu fördern. Das Recht eines jugendlichen Beschuldigten auf wirksame Teilnahme an seinem Strafverfahren erfordert, dass die Behörden ihn in gebührender Rücksicht auf seine Verwundbarkeit und Fähigkeiten behandeln, und zwar ab der ersten Stufe seiner Beteiligung an einer strafrechtlichen Untersuchung und insbesondere während jeder polizeilichen Befragung. Die Behörden müssen Schritte setzen, um die Gefühle der Einschüchterung und Hemmung des Kindes so weit wie möglich zu reduzieren, und sicherstellen, dass es ein umfassendes Verständnis der Natur der Untersuchung hat, dessen, was für es auf dem Spiel steht (einschließlich der Bedeutung irgendeiner Strafe, die verhängt werden kann) sowie seiner Verteidigungsrechte und insbesondere auch seines Rechts zu schweigen.

(196) [...] Keinesfalls darf ein Kind wichtiger verfahrensrechtlicher Schutzvorkehrungen beraubt werden, nur weil das Verfahren, das zu seiner Freiheitsentziehung führen kann, nach dem nationalen Recht seine Interessen als Kind und jugendlicher Straftäter schützen soll und weniger als strafrechtlich gesehen wird. [...]

(198) [...] Damit das Recht auf ein faires Verfahren ausreichend »praktisch und wirksam« bleibt, verlangt Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass als Regel Zugang zu einem Anwalt gewährt werden muss, sobald ein Verdächtiger erstmals von der Polizei befragt wird, außer es wird im Lichte der besonderen Umstände des Einzelfalles gezeigt, dass zwingende Gründe vorliegen, um dieses Recht zu beschränken. Sogar wo zwingende Gründe ausnahmsweise die Verweigerung des Zugangs zu einem Anwalt rechtfertigen, darf eine solche Beschränkung [...] die Rechte des Beschuldigten unter Art. 6 EMRK nicht übermäßig beeinträchtigen. Die Rechte der Verteidigung werden grundsätzlich unwiederbringlich beeinträchtigt sein, wenn belastende Aussagen, die während der polizeilichen Befragung ohne Zugang zu einem Anwalt erfolgten, zur Erlangung einer Verurteilung verwendet werden.

(199) Angesichts der besonderen Verwundbarkeit von Kindern und unter Berücksichtigung ihres Reifegrades und ihrer intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten betont der GH insbesondere die grundlegende Wichtigkeit der Gewährung von Zugang zu einem Anwalt, wenn die Person in Haft minderjährig ist.

(201) [...] Es muss erstens ein guter Grund für die Nichtbeteiligung eines Zeugen an der Verhandlung gegeben sein und zweitens können, wenn eine Verurteilung alleine oder in einem entscheidenden Ausmaß auf Aussagen gestützt wird, die von einer Person gemacht wurden, bei der der Beschuldigte keine Gelegenheit hatte, sie zu prüfen oder prüfen zu lassen – sei es während der Untersuchung oder der Verhandlung – die Verteidigungsrechte in einem Maß beschränkt sein, das mit den Garantien nach Art. 6 EMRK unvereinbar ist.

(202) Wenn eine Verurteilung alleine oder entscheidend auf die Aussage von abwesenden Zeugen gestützt wird, muss der GH das Verfahren genauester Prüfung unterwerfen. Die Frage ist in jedem der Fälle, ob ausreichende ausgleichende Faktoren gegeben waren, einschließlich Maßnahmen, die eine faire und korrekte Beurteilung der Zuverlässigkeit dieses Beweises erlauben. Das gestattet eine Verurteilung auf Basis solcher Beweise nur, wenn sie angesichts ihrer Bedeutung im Fall ausreichend zuverlässig sind.

(203) Der GH bemerkt zunächst, dass der Bf. im vorliegenden Fall erst zwölf Jahre alt war, als ihn die Polizei zur Polizeistation mitnahm und ihn befragte. Er war somit weit unter der vom StGB für das Verbrechen der Erpressung, dessen er beschuldigt wurde, vorgesehenen Strafmündigkeit von 14 Jahren. Angesichts dessen bedurfte er besonderer Behandlung und besonderen Schutzes durch die Behörden. Es geht aus verschiedenen internationalen Quellen hervor (Anm: Siehe Empfehlung (87)20 des Ministerkomitees des Europarats vom 17.9.1987 über die gesellschaftlichen Reaktionen auf Jugendkriminalität; Empfehlung (2003)20 des Ministerkomitees des Europarats vom 24.9.2003 zu neuen Wegen im Umgang mit Jugenddelinquenz und der Rolle der Jugendgerichtsbarkeit; Leitlinien des Ministerkomitees des Europarats für eine kindgerechte Justiz (Fn. 3), Nr. 1, 2 und 28-30; Art. 40 KRK (Fn. 2) und General Comment Nr. 10 des Kinderrechtsausschusses vom 25.4.2007 CRC/C/GC/10, Punkt 33; »Beijing-Rules« (Fn. 3), Regel 7.1.), dass jede Maßnahme gegen ihn auf sein Wohl gegründet hätte sein müssen und dass ihm ab der Zeit seiner Festnahme durch die Polizei zumindest die gleichen Rechte und Schutzmaßnahmen garantiert hätten werden müssen wie Erwachsenen. Zudem machte der Umstand, dass er an ADHS litt [...], den Bf. besonders verwundbar und daher besonderen Schutz nötig (Anm: Leitlinien des Ministerkomitees des Europarats für eine kindgerechte Justiz (Fn. 3), Nr. 27; Art. 23 KRK (Fn. 2) und General Comment Nr. 9 des Kinderrechtsausschusses vom 27.2.2007 (CRC/C/GC/9), Punkte 73 und 74.).

Rechtsbeistand

(205) Der GH beobachtet, dass unbestritten ist, dass der Bf. zur Polizeistation mitgenommen wurde, ohne dass ihm gesagt wurde, warum. Er musste auch eine gewisse Zeit warten, bevor er von einem Polizisten vernommen wurde. Es gibt jedoch keinen Hinweis, dass der Bf. in irgendeiner Form informiert wurde, dass er während dieser Zeit das Recht hatte, seinen Großvater, einen Lehrer, einen Anwalt oder eine andere Vertrauensperson anzurufen, damit diese kamen und ihn während der Befragung unterstützten. Auch wurden keine Schritte gesetzt um sicherzustellen, dass ihm während der Befragung Rechtsbeistand geleistet wurde. Das Vorbringen der Regierung, wonach der Großvater des Bf. während der Befragung anwesend war, wird nicht durch Beweise gestützt. Zudem bemerkt der GH, dass das vom Bf. unterzeichnete Geständnis, dessen Beweiswert angesichts seines jungen Alters und seines Gesundheitszustands als höchst fragwürdig angesehen werden muss, die Anwesenheit des Großvaters nicht erwähnte, und von diesem nicht gegengezeichnet wurde. Die vom Großvater am selben Tag unterzeichnete Aussage hätte – wie vom Bf. behauptet – später unterzeichnet werden können, nachdem der Bf. vom Polizisten befragt worden war und beweist seine Anwesenheit während der Befragung daher nicht. In diesem Zusammenhang bemerkt der GH, dass auf dem Geständnis des Bf. vermerkt war, dass er von seinem Recht informiert worden war, keine selbstbelastenden Aussagen zu machen. Dieses Dokument erwähnte jedoch nicht, dass der Bf. auch von seinem Recht informiert worden war, dass während seiner Befragung ein Rechtsbeistand oder jemand anderes anwesend sein durfte, oder dass eine solche Person wirklich da war.

(206) Daher sieht es der GH als erwiesen an, dass die Polizei den Bf. beim Erhalt von rechtlicher Vertretung nicht unterstützte. Auch wurde der Bf. nicht von seinem Recht auf Anwesenheit eines Anwalts und seines Großvaters oder eines Lehrers informiert. Diese passive Herangehensweise der Polizei war eindeutig nicht ausreichend, um ihre positive Verpflichtung zu erfüllen, den Bf. – ein Kind, das zudem an ADHS litt – mit den nötigen Informationen zu versorgen, die es ihm ermöglicht hätten, eine rechtliche Vertretung zu erhalten.

(207) Dass das nationale Recht keine rechtliche Unterstützung für einen Minderjährigen unterhalb des Alters der Strafmündigkeit vorsieht, wenn er von der Polizei befragt wird, ist kein gültiger Grund für ein Versäumnis, diese Verpflichtung zu erfüllen. Der GH hat bereits zuvor festgestellt, dass eine systematische Beschränkung des Rechts auf Zugang zu rechtlicher Unterstützung auf der Basis von gesetzlichen Bestimmungen für sich ausreicht, um eine Verletzung von Art. 6 EMRK zu begründen. Zudem läuft sie den in internationalen Quellen dargelegten grundlegenden Prinzipien entgegen, wonach einem Minderjährigen rechtliche oder anderweitige geeignete Unterstützung gewährt werden muss (Anm: Siehe etwa Art. 40 Abs. 2 lit. b ii KRK (Fn. 2) und die Kommentare dazu; »Beijing-Rules« (Fn. 3), Regel 7.1; Empfehlung (87)20 des Ministerkomitees des Europarats (Fn. 4), Punkt 8.).

Weiters erwägt der GH, dass der Bf. sich eingeschüchtert und ausgesetzt gefühlt haben muss, während er allein in der Polizeistation angehalten und in einer nicht vertrauten Umgebung befragt wurde. Tatsächlich zog er sein Geständnis sofort zurück, als sein Großvater zur Polizeistation kam, und beteuerte seine Unschuld. Diesbezüglich betont der GH, dass das Geständnis, das in Abwesenheit eines Anwalts erfolgte, nicht nur im Verfahren zu seiner Unterbringung im Zentrum gegen ihn verwendet wurde, sondern in Verbindung mit den Zeugenaussagen von S. und dessen Mutter auch die Basis für die Feststellung der nationalen Gerichte bildete, dass seine Handlungen Elemente des Straftatbestands der Erpressung enthielten, und somit Gründe für seine Unterbringung in dem Zentrum lieferte.

(209) Angesichts des oben Gesagten stellt der GH fest, dass das Fehlen von rechtlicher Unterstützung während der Befragung des Bf. durch die Polizei seine Verteidigungsrechte unwiederbringlich beeinträchtigte und die Fairness des Verfahrens insgesamt unterlief.

(210) Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK.

Recht auf Anwesenheit und Vernehmung von Zeugen

(212) [...] Dem BG Novosibirsk wurden die Ergebnisse der Voruntersuchung vorgelegt, darunter auch den Bf. betreffendes Material. Das schloss die vom mutmaßlichen Opfer S. und dessen Mutter gemachten Aussagen ein, ebenso wie das vom Bf. unterzeichnete Geständnis. Der GH wiederholt, dass der Bf. das Geständnis zurückgezogen und behauptet hatte, dass es unter Zwang erlangt worden wäre. Zudem hatte der Bf. wie oben erwähnt während der Befragung in der Polizeistation nicht von der Unterstützung eines Anwalts profitiert, was seine Verteidigungsrechte unwiederbringlich beeinträchtigte. [...] Der GH beobachtet jedoch, dass weder S. noch seine Mutter zu der Verhandlung geladen wurden, um dort auszusagen und dem Bf. eine Möglichkeit zu geben, sie ins Kreuzverhör zu nehmen, obwohl ihre Zeugnisse von entscheidender Bedeutung für die Schlussfolgerung der Voruntersuchung waren, dass der Bf. eine [...] Erpressung begangen hätte.

(213) In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu bemerken, dass es keinen Hinweis gibt [...], dass S. und seine Mutter nicht verfügbar gewesen wären oder dass es sonst schwierig gewesen wäre, sie als Zeugen zu der Verhandlung zu laden. Es gab somit keinen guten Grund für die Nichtteilnahme der Zeugen. Zudem erwägt der GH angesichts des Umstands, dass der Bf. sein Geständnis zurückgezogen hatte, dass es für die Fairness des Verfahrens bedeutend gewesen wäre, S. und dessen Mutter anzuhören. Nach Meinung des GH ist diese Schutzmaßnahme umso wichtiger, wenn die Sache einen Minderjährigen unterhalb des Alters strafrechtlicher Verantwortlichkeit in einem Verfahren betrifft, das über ein solch grundlegendes Recht wie sein Recht auf Freiheit entscheidet.

(214) Außerdem war zwar eine gerichtlich bestellte Anwältin bei der Verhandlung anwesend, um den Bf. zu vertreten, doch ist unklar, wann sie bestellt wurde und in welchem Umfang sie die Rechte des Bf. tatsächlich verteidigte. Wenn es – wie von der Regierung behauptet – richtig ist, dass beim BG kein Antrag auf Anhörung von S. oder seiner Mutter gestellt wurde, würde dies auf mangelnde Sorgfalt auf Seiten der Anwältin hinweisen und nach Ansicht des GH auch auf Seiten des Richters, der sicherstellen hätte müssen, dass der Grundsatz der Waffengleichheit während des Verfahrens respektiert wurde. Tatsächlich wurden von den Behörden keine Anstrengungen unternommen, um das Erscheinen von S. und seiner Mutter vor Gericht sicherzustellen, obwohl das Jugendschutzgesetz die Möglichkeit vorsieht, Zeugen anzuhören [...]. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass für den Bf. im Unterbringungsverfahren seine Freiheitsentziehung für dreißig Tage auf dem Spiel stand – und damit eine für einen zwölfjährigen Jungen nicht vernachlässigbare Zeitspanne – erwägt der GH, dass es von äußerster Bedeutung war, dass das BG die Fairness des Verfahrens garantierte.

(215) Schließlich bemerkt der GH, dass keine ausgleichenden Faktoren existierten, um die fehlende Möglichkeit des Bf., S. und seine Mutter zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens ins Kreuzverhör zu nehmen, zu kompensieren. [...] Dem Bf. wurde keine Gelegenheit geboten, die Befragung der Zeugen durch den Ermittlungsbeamten genau zu überprüfen oder [...] seine eigenen Fragen an sie zu richten. Nachdem die Aussagen der Zeugen gegenüber dem Ermittlungsbeamten zudem nicht auf Video aufgezeichnet wurden, konnten weder der Bf. noch die Richter das Verhalten der Zeugen während der Befragung beobachten und einen eigenen Eindruck von ihrer Zuverlässigkeit gewinnen.

(216) Unter Berücksichtigung all des oben Gesagten stellt der GH fest, dass die Verteidigungsrechte des Bf., insbesondere das Recht, Zeugen in Zweifel zu ziehen und zu befragen, in einem Ausmaß beschränkt wurden, das mit den Garantien nach Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK unvereinbar war, weshalb eine Verletzung dieser Bestimmung erfolgte.

Ergebnis

(218) [...] Der GH hält es für wichtig hinzuzufügen [...], dass die obigen Beschränkungen dem Umstand geschuldet waren, dass der Bf. das Alter für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit noch nicht erreicht hatte und daher aus dem Schutz herausfiel, der durch die von der StPO vorgesehenen Verfahrensgarantien geboten war. Stattdessen war das Jugendschutzgesetz auf den Bf. anwendbar. Dieses Gesetz sah bedeutend eingeschränkte verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen vor, da es den Zweck von Schutzgesetzen für Minderjährige hatte. Gemäß dem GH [...] kommt hier [...] die Absicht der Gesetzgebung, Kinder zu schützen und ihre Pflege und Behandlung sicherzustellen, in Konflikt mit der Realität und den in Rn. 196 dargelegten Grundsätzen, da dem Kind seine Freiheit entzogen wird, ohne die Verfahrensrechte zu haben, um sich richtig gegen die Verhängung einer derart gravierenden Maßnahme zu verteidigen.

(219) Nach Ansicht des GH verdienen Minderjährige, deren kognitive und emotionale Entwicklung jedenfalls besonders berücksichtigt werden muss, und insbesondere junge Kinder vor dem Alter strafrechtlicher Verantwortung Unterstützung und Hilfe, um ihre Rechte zu schützen, wenn gegen sie Zwangsmaßnahmen verhängt werden – auch unter dem Mantel erzieherischer Maßnahmen. [...] Daher ist der GH überzeugt, dass angemessene verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen eingerichtet sein müssen, um das Wohl des Kindes zu schützen, vor allem wenn seine Freiheit auf dem Spiel steht. Andernfalls würden die Kinder im Vergleich zu Erwachsenen in derselben Situation einem klaren Nachteil ausgesetzt. In diesem Zusammenhang können Kinder mit Behinderungen zusätzlicher Garantien bedürfen [...]. Das bedeutet jedoch nicht, dass Kinder einem vollwertigen Strafverfahren ausgesetzt werden müssen. Ihre Rechte müssen in einem angepassten und altersgemäßen Rahmen im Einklang mit internationalen Standards gesichert werden, insbesondere dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes.

(220) Unter Berücksichtigung all der oben genannten Erwägungen kommt der GH zum Schluss, dass dem Bf. bei seiner Unterbringung im vorübergehenden Anhaltezentrum für jugendliche Straftäter kein faires Verfahren gewährt und deshalb Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c und lit. d EMRK verletzt wurde (11:6 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Zupancic; abweichendes gemeinsames Sondervotum der Richterinnen und Richter Spielmann, Nicolaou, Bianku, Keller, Spano und Motoc; abweichendes Sondervotum von Richter Motoc).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 7.500,– für immateriellen Schaden; € 1.910,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Bouamar/B v. 29.2.1988

D. G./IRL v. 16.5.2002 = NL 2002, 97

Salduz/TR v. 27.11.2008 (GK) = NL 2008, 348

Panovits/CY v. 11.12.2008

Aleksanyan/RUS v. 22.12.2008

Makeyev/RUS v. 5.2.2009

A. u.a./BG v. 29.11.2011

Al-Khawaja und Tahery/GB v. 15.12.2011 (GK) = NLMR 2011, 375

Ananyev u.a./RUS v. 10.1.2012

M. S./GB v. 3.5.2012

Schatschaschwili/D v. 15.12.2015 (GK) = NLMR 2015, 503

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.3.2016, Bsw. 47152/06, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 118) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_2/Blokhin.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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