JudikaturJustizBsw43481/09

Bsw43481/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
08. November 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache PETA Deutschland gg. Deutschland, Urteil vom 8.11.2012, Bsw. 43481/09.

Spruch

Art. 10 EMRK - Vergleich des Leids von Tieren mit dem von KZ-Häftlingen.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einsti

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei der Bf. handelt es sich um die deutsche Repräsentanz der weltweiten Tierschutzorganisation PETA. Letztere verfolgt unter anderem die Ziele der Verhinderung von Tierleid und der Ermunterung der Bevölkerung zur Abstandnahme von der Nutzung tierischer Produkte.

Zu diesem Zweck beabsichtigte die Bf. im März 2004 in Deutschland eine Werbekampagne unter dem Titel »Der Holocaust auf Ihrem Teller« zu starten, wie sie in ähnlicher Form bereits zuvor in den USA präsentiert worden war. Dabei sollte auf Schautafeln jeweils ein Foto aus dem Bereich der Massentierhaltung neben einer Abbildung von lebenden oder toten Häftlingen von Konzentrationslagern aus der Zeit des Nationalsozialismus gezeigt werden, versehen mit einem kurzen Begleittext.

In der Folge wandten sich der damalige Präsident bzw. die beiden Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, die als Kinder den Holocaust überlebt hatten, an das Landgericht Berlin. Sie brachten vor, die geplante Kampagne sei beleidigend und verletze ihre Menschenwürde wie auch die Persönlichkeitsrechte von teilweise im KZ umgekommenen Familienangehörigen. Sie stellten den Antrag, der Bf. per einstweiliger Verfügung zu untersagen, der Öffentlichkeit die näher dargestellten Szenen über das Internet, im Wege einer Ausstellung oder in anderer Form zugänglich zu machen.

Mit Beschluss vom 18.3.2004 gab das Landgericht Berlin dem Antrag statt. Begründend führte es aus, die Kläger seien als Opfer der Judenverfolgung von den strittigen Äußerungen betroffen. Letztere würden zwar der von Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Meinungsäußerungsfreiheit unterfallen, jedoch müsse diese im vorliegenden Fall zurücktreten: Die Abbildungen seien gerade deshalb so öffentlichkeitswirksam und aufwühlend, weil die nebeneinander montierten Fotos scheinbar ähnliche Situationen zeigten, die sich lediglich dadurch unterschieden, dass auf der einen Seite Tiere und auf der anderen lebende oder tote Menschen abgebildet seien. Der durchschnittliche Betrachter entnehme diesen Darstellungen, dass das Schicksal der abgebildeten Tiere und Menschen auf eine Stufe gestellt werden sollte. Hierin manifestiere sich eine Beleidigung der Kläger. Die Gleichsetzung von Opfern des Holocaust mit Tieren erscheine nämlich vor dem Hintergrund des Menschenbildes des Grundgesetzes willkürlich, da deren Erniedrigung im Interesse des Tierschutzes ausgenutzt werde.

Die dagegen erhobene Berufung der Bf. blieb erfolglos. Sie wandte sich daraufhin an das BVerfG, welches ihre Beschwerde mit Beschluss vom 20.2.2009 (Anm: 1 BvR 2266/04 u.a. = EuGRZ 2009, 269.) nicht zur Entscheidung annahm. Zwar sei zweifelhaft, ob die Menschenwürde der abgebildeten Holocaustopfer und der Kläger tatsächlich verletzt worden sei, sei ihnen doch nicht der personale Wert abgesprochen worden, indem sie wie Tiere bewertet oder gar behandelt worden seien. Möge auch die Bf. von der Gleichwertigkeit menschlichen und tierischen Lebens überzeugt sein, so liege in der geplanten Kampagne keine verächtlich machende Tendenz. Als gleichgewichtig werde nämlich allein das Leiden dargestellt, das den abgebildeten Menschen und Tieren zugefügt worden sei bzw. werde. Allerdings brauche die Frage einer Verletzung der Menschenwürde hier nicht abschließend entschieden zu werden, da die Gerichte zu Recht darauf abgestellt hätten, dass das Grundgesetz eine kategoriale Unterscheidung zwischen menschlichem bzw. würdebegabtem Leben und den Belangen des Tierschutzes treffe und daraus den folgerichtigen Schluss zogen, dass die Bildkampagne der Bf. das Schicksal der Holocaustopfer banalisiert bzw. bagatellisiert habe. Durch den Inhalt der Kampagne sei somit das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Kläger beeinträchtigt worden. Das BVerfG habe bereits früher ausgesprochen, dass es zum Selbstverständnis der heute in Deutschland lebenden Juden gehöre, als zu einer durch das Schicksal herausgehobenen Personengruppe zugehörig begriffen zu werden, der gegenüber eine besondere moralische Verantwortung aller anderen bestehe, und dass dieses Teil ihrer Würde sei. (Anm: Vgl. BVerfG 13.4.1994, 1 BvR 23/94 = EuGRZ 1994, 448.)

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet, die einstweilige Verfügung habe Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung) verletzt.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Dieser Beschwerdepunkt ist nicht offensichtlich unbegründet oder aus einem sonstigen Grund unzulässig. Er ist somit für zulässig zu erklären (einstimmig).

Es liegt ein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. vor, der auf einer Rechtsgrundlage, nämlich § 823 Abs. 1 und 2 BGB iVm. § 1004 Abs. 1 BGB sowie § 185 StGB (Beleidigung), basierte. Mit Rücksicht darauf, dass dieser das legitime Ziel des Schutzes der Persönlichkeitsrechte der Kläger und damit den »guten Ruf oder die Rechte anderer« verfolgte, bleibt zu prüfen, ob er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Die geplante Bildkampagne betraf die Haltung von Tieren in Käfigen bzw. in Legebatterien. Sie bezog sich somit auf Angelegenheiten des Tier- und Umweltschutzes und war unzweifelhaft im öffentlichen Interesse. Nur gewichtige Gründe vermochten insofern einen Eingriff in das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. in diesem Zusammenhang zu rechtfertigen.

Im vorliegenden Fall nahmen die deutschen Gerichte unter Heranziehung der vom GH zu Art. 10 EMRK entwickelten Standards eine sorgfältige Prüfung der Frage vor, ob der Erlass der begehrten einstweiligen Verfügung die Rechte der Bf. verletzen würde. Sie vertraten die Ansicht, dass die geplante Kampagne nicht das Ziel verfolge, die abgebildeten KZ-Insassen zu erniedrigen, sondern deren Leid bzw. Schicksal jenem von Tieren im Interesse des Tierschutzes gegenüberzustellen. Eben diese Instrumentalisierung habe die Persönlichkeitsrechte der Kläger in ihrer Eigenschaft als in Deutschland lebende Juden und Überlebende des Holocaust verletzt. Erschwerend sei hinzugekommen, dass die Bilder KZ-Häftlinge in einem Zustand extremer Verwundbarkeit gezeigt hätten. Angesichts der Schwere der Verletzung müsse daher das Interesse der Bf. an einer Veröffentlichung der umstrittenen Bilder zurücktreten. Das BVerfG schloss sich der Rechtsansicht der Unterinstanzen an.

Der GH ist der Meinung, dass die Tatsachen des vorliegenden Falls nicht losgelöst vom historischen und sozialen Kontext, in den die umstrittene Meinungsäußerung fiel, gesehen werden können. Der Hinweis auf den Holocaust muss auch im Zusammenhang mit der deutschen Geschichte gesehen werden. Der GH hat daher Verständnis für den Standpunkt der Regierung, welche sich den in Deutschland lebenden Juden besonders verpflichtet sieht. Im Lichte dessen erachtet er die von den Gerichten gegebene Begründung für die Bewilligung des Antrags als relevant und ausreichend. Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, dass andere Gerichtsbarkeiten ähnliche Fälle anders entscheiden könnten.

Zur Schwere der verhängten Sanktion ist zu sagen, dass das gegenständliche Verfahren keine strafrechtliche Sanktion, sondern lediglich eine im Rahmen eines Zivilverfahrens ergangene einstweilige Verfügung zum Gegenstand hatte. Die Bf. vermochte auch nicht überzeugend darzulegen, dass ihr keine anderen Mittel zur Verfügung gestanden wären, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Fragen des Tierschutzes zu lenken. Der gerügte Eingriff war somit verhältnismäßig. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Zupancic, gefolgt von Richter Spielmann).

Zu den weiteren behaupteten EMRK-Verletzungen

Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, da die nationalen Gerichte ihre Entscheidungen in willkürlicher Weise auf falsche Annahmen gestützt und das relevante Fallrecht des BVerfG nicht berücksichtigt hätten. Sie beklagt sich ferner über eine Verletzung von Art. 14 EMRK, weil sie als antisemitisch gebrandmarkt worden wäre.

Der GH vermag keinen Anschein einer Konventionsverletzung zu erkennen. Dieser Beschwerdepunkt ist als offensichtlich unbegründet gemäß Art. 35 Abs. 3 lit. a und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Anmerkung

Vgl. den Beschluss des OGH vom 12.10.2006, 6 Ob 321/04f (= MR 2006, 366 = ZÖR 2007, 653), in dem dieser die Heranziehung des Holocaust als Vergleichsmaßstab bei einer von PETA Deutschland in Wien veranstalteten »Wanderausstellung« für zulässig erklärte.

Vom GH zitierte Judikatur:

Müller u.a./CH v. 24.5.1988 = EuGRZ 1988, 543 = ÖJZ 1989, 182

Verein gegen Tierfabriken Schweiz (Vgt)/CH (Nr. 2) v. 30.6.2009 (GK) = NL 2009, 169

Hoffer und Annen/D v. 13.1.2011 = NL 2011, 18

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.11.2012, Bsw. 43481/09 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 369) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_6/PETA Deutschland.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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