JudikaturJustizBsw42837/06

Bsw42837/06 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. Juni 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Dimitras u.a. gegen Griechenland, Urteil vom 3.6.2010, Bsw. 42837/06 u.a..

Spruch

Art. 6, 9, 13, 14 EMRK - Verpflichtung zur Offenlegung der Religion vor Gericht.

Verbindung der Beschwerden (einstimmig).

Verbindung der Einrede der Regierung bezüglich der Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig).

Zurückweisung der Einrede der Regierung (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzungen von Art. 8, 9, 13 und 14 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).

Keine Notwendigkeit der getrennten Prüfung der Beschwerde unter Art. 8 und Art. 14 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf., drei griechische und ein US-Staatsbürger, sind gesetzliche Vertreter der Internationalen Vereinigung Helsinki – einer im menschenrechtlichen Bereich tätigen NGO – und leben in Athen.

Zwischen Februar 2006 und Dezember 2007 wurden sie mehrfach als Zeugen, Kläger oder Verdächtige im Rahmen strafrechtlicher Verfahren vorgeladen. Mehrmals wurden sie gemäß Art. 218 des griechischen Strafverfahrensgesetzes aufgefordert, den Eid mit der rechten Hand auf der Bibel zu leisten. Die Bf. gaben daraufhin jedesmal an, dass sie nicht der christlich-orthodoxen Konfession angehörten und forderten, eine eidesstattliche Erklärung abgeben zu dürfen. Diesem Wunsch wurde von den Gerichten auch stets entsprochen.

Das Formular für das Verfahrensprotokoll enthielt standardmäßig in seinem Text die Ausdrücke »orthodoxer Christ« und »legte einen Eid mit der rechten Hand auf der Bibel ab«, sodass diese Passagen in mehreren Fällen gestrichen und durch die Begriffe »Atheist« und »gab eine eidesstattliche Erklärung ab« ersetzt wurden. Einige Protokolle blieben jedoch inkorrekt und bezeichneten die Bf. weiterhin als orthodoxe Christen, die den Eid auf die Bibel geleistet hätten.

Auch in Fällen, in denen die Bf. nicht in der Situation waren, einen Eid leisten zu müssen, mussten sie vor Gericht ihre Konfession offenlegen, um den Standardtext des Protokolls berichtigen lassen zu können.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen Verletzungen von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), Art. 9 EMRK (Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit), Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), da sie vor Gericht ihre nicht-orthodoxen religiösen Überzeugungen offenlegen mussten. Sie rügen ferner eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), weil sie aufgrund der religiösen Symbole in den Gerichtssälen und dem Umstand, dass alle Richter orthodoxe Christen waren, Zweifel an deren Unparteilichkeit hegen. Der GH beschließt, die Beschwerden aufgrund der Ähnlichkeit bezüglich der Sachverhalte und zu klärenden Fragen zu verbinden und sie gemeinsam zu behandeln (einstimmig).

I. Zur Zulässigkeit

Der Beschwerdepunkt hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK wurde von den Bf. in keiner Weise substantiiert. Der GH bemerkt diesbezüglich, dass die Bf. meist als Zeugen gar nicht im Gerichtssaal, sondern vom Untersuchungsrichter im Beratungszimmer vernommen wurden. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Richter ihre Pflicht zur Unparteilichkeit vernachlässigt hätten. Außerdem kann eine Beschwerde nur von Personen eingebracht werden, die behaupten, von einer Konventionsverletzung direkt betroffen zu sein. Dies ist hier bezüglich Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht der Fall. Die Beschwerde ist daher wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art. 35 Abs. 3 und 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Die Regierung wendet ein, die Bf. hätten es verabsäumt, den nationalen Rechtsweg auszuschöpfen, da die Möglichkeit bestanden habe, vor nationalen Verwaltungsgerichten Ersatz für eventuelle Schäden zu erhalten, die den Bf. durch die verpflichtende Offenlegung ihrer Religion vor Gericht zugefügt wurden. Der GH ist der Ansicht, dass diese Einwendung mit dem Beschwerdepunkt hinsichtlich Art. 13 EMRK in Zusammenhang steht und verbindet sie daher mit der diesbezüglichen Entscheidung in der Sache.

Die Beschwerden hinsichtlich der Art. 8, 9, 13 und 14 EMRK sind nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Art. 35 Abs. 3 EMRK. Da auch andere Gründe nicht gegen deren Zulässigkeit sprechen, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK

Der GH weist auf den starken Zusammenhang zwischen Art. 13 EMRK und Art. 35 Abs. 1 EMRK bezüglich der Ausschöpfung des Instanzenzugs hin.

Die Regierung nannte kein einziges Beispiel für eine frühere Entscheidung der griechischen Verwaltungsgerichte über Schadenersatzklagen, die ein effektives Rechtsmittel gegen eine derartige Verletzung dargestellt hätte. Ferner konnte die Regierung keinen Fall nennen, in dem ein nationales Gericht sich geweigert hätte, die Bestimmungen über die Eidablegung anzuwenden, weil diese in Widerspruch mit der griechischen Verfassung oder der Konvention stünden.

Daher weist der GH die Einwendung der Regierung zurück (einstimmig) und stellt eine Verletzung von Art. 13 EMRK fest (einstimmig).

III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8, 9 und 14 EMRK

Der GH prüft die Beschwerde bezüglich der verpflichtenden Offenlegung der Religion vor Gericht zunächst nur in Hinblick auf Art. 9 EMRK. Er weist darauf hin, dass die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu den Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft gehören. Die Religionsfreiheit ist ein essentieller Teil der Identität der Gläubigen, aber auch ein wichtiges Gut für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige. Die Freiheit, seine religiösen Überzeugungen kundzutun, umfasst jedoch auch die Freiheit, diese für sich zu behalten und nicht verpflichtet zu sein, ein Verhalten zu setzen, aus dem man Schlüsse bezüglich der religiösen Konfession des Betroffenen zu ziehen vermag. Dies gilt umsomehr für den Fall, wenn eine Person ein solches Verhalten setzen muss, um eine bestimmte Funktion ausüben zu können, wie etwa bei der Eidablegung.

Die Bf. wurden im Standardtext der Verfahrensprotokolle generell als »orthodoxe Christen« bezeichnet. Daher mussten die Bf. erklären, sei es bei öffentlichen Verhandlungen oder solchen in camera, dass dies nicht ihre Religion sei bzw. dass sie Atheisten seien oder der jüdischen Religion angehörten. In einigen Protokollen wurden die Bf. auch explizit als »Atheisten« oder »Angehörige der jüdischen Religion« bezeichnet. Der GH schließt daraus, dass ein Eingriff in die Religionsfreiheit der Bf. stattgefunden hat.

Der Eingriff war durch Art. 218 und 220 des Strafverfahrensgesetzes gesetzlich vorgesehen und verfolgte das legitime Ziel, eine gute Justizverwaltung zu garantieren. Der GH hat nunmehr die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zum verfolgten Ziel zu prüfen.

Art. 218 Strafverfahrensgesetz regelt die Eidablegung vor Gericht. Die Bestimmung geht davon aus, dass alle Zeugen grundsätzlich orthodoxe Christen sind und den Eid auf die Bibel leisten wollen. Dies wird auch in der Formulierung des Standardtextes des Protokollformulars widergespiegelt. Art. 220 Strafverfahrensgesetz bestimmt zwar, dass Personen, die nicht der christlich-orthodoxen Konfession angehören, einen Eid gemäß ihrer anerkannten oder tolerierten Religion ablegen, oder, wenn sie keiner Religion angehören bzw. ihre Religion eine Eidleistung nicht zulässt, eine eidesstattliche Erklärung abgeben können. Dies wird jedoch als Ausnahme vom Normalfall geregelt.

Des Weiteren führte die Formulierung von Art. 220 Strafverfahrensgesetz dazu, dass die Betroffenen sich nicht bloß dafür entscheiden konnten, eine eidesstattliche Erklärung abzugeben, sondern genauere Angaben über ihre religiösen Überzeugungen preisgeben mussten, um nicht auf die Bibel schwören zu müssen. Einige der Bf. mussten das Gericht davon überzeugen, dass sie keiner Religion angehörten, anderenfalls sie einen Eid auf die Bibel ablegen hätten müssen.

Die Unvereinbarkeit der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen mit Art. 9 EMRK wird noch offensichtlicher, betrachtet man Art. 217 Strafverfahrensgesetz. Dieser Bestimmung zufolge müssen alle Zeugen vor ihrer Aussage unter anderem auch ihre Religion angeben. Der GH bemerkt weiters, dass – im Gegensatz zum Strafverfahrensgesetz – das Zivilverfahrensgesetz für Zeugen die Möglichkeit vorsieht, wenn gewünscht, ohne weitere Formalitäten zwischen einer eidesstattlichen Erklärung und der Leistung eines Eides wählen zu können. Die Offenlegung der religiösen Überzeugung ist hier nicht nötig.

Der GH stellt daher fest, dass die Verpflichtung der Bf., ihre Religion vor Gericht anzugeben, um eine eidesstattliche Erklärung abgeben zu können, in ihre Religionsfreiheit eingriff. Da dieser Eingriff weder gerechtfertigt noch verhältnismäßig zum verfolgten Ziel war, hat eine Verletzung von Art. 9 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Aufgrund dieser Feststellungen besteht keine Notwendigkeit einer separaten Prüfung der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 und Art. 14 EMRK (einstimmig).

IV. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 15.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Alexandridis/GR v. 21.2.2008.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.6.2010, Bsw. 42837/06 u.a., entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 177) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_3/Dimitras.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
5