JudikaturJustizBsw36936/05

Bsw36936/05 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
02. Juni 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Szuluk gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 2.6.2009, Bsw. 36936/05.

Spruch

Art. 8 EMRK - Schutz des Briefverkehrs zwischen Gefangenen und Ärzten.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.000,- für immateriellen Schaden, € 6.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. war 2001 wegen Begehung von Drogendelikten zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nach einer Gehirnblutung musste er sich alle sechs Monate einer Kontrolluntersuchung bei einer Neurologin unterziehen.

Der Bf. war in einem Hochsicherheitsgefängnis untergebracht, in dem sich Gefangene der Kategorie A (hohes Sicherheitsrisiko) und solche der Kategorie B (geringere Sicherheitsanforderungen) befanden. Er gehörte der zweiten Kategorie an, in Bezug auf die die Prison Service Order (PSO) Anwendung fand.

In der Folge äußerte der Bf. den Wunsch, mit seiner Neurologin vertraulich zu kommunizieren, um sicherzustellen, dass er die notwendige medizinische Behandlung und Überwachung im Gefängnis erhalte. Der Anstaltsleiter gab seinem Antrag im September 2002 unter folgender Bedingung statt: Der ein- und ausgehende Briefverkehr sollte einen Vermerk „medizinisch vertraulich" erhalten. Ausgänge sollten an eine spezielle Adresse geschickt werden, während Eingänge mit dem Stempel der Gesundheitsbehörde zu versehen seien.

Am 28.11.2002 gab der Anstaltsleiter dem Bf. bekannt, er halte es nun doch für notwendig, seine Korrespondenz mit der Neurologin auf unerlaubte Inhalte zu überprüfen. Briefe sollten dem Gefängnisarzt vorgelegt werden, der sie öffnen, prüfen und dann wieder versiegeln werde. Der Bf. war mit dieser Entscheidung nicht einverstanden, da er befürchtete, von ihm verfasste Berichte über die medizinische Betreuung im Gefängnis könnten vom Gefängnisarzt als Kritik aufgefasst werden und die Beziehung zu seiner Neurologin belasten.

Am 20.2.2004 gab der High Court dem Antrag des Bf. auf Aufhebung der Entscheidung des Gefängnisdirektors statt. Im vorliegenden Fall lägen außergewöhnliche Umstände vor, namentlich der lebensbedrohliche Gesundheitszustand des Bf. und sein Wunsch, im Gefängnis eine adäquate Behandlung zu erhalten. Es sei verständlich, wenn er sich bei seiner Neurologin, die ihn fortlaufend betreue, rückversichere. Außerdem sei die anfängliche Entscheidung des Anstaltsleiters, dem Bf. die Korrespondenz auf vertraulicher Basis zu gestatten, ein Indiz dafür, dass eine solche Vorgangsweise durchaus angeraten sei.

Am 29.10.2004 gab der Court of Appeal der dagegen erhobenen Beschwerde des Gefängnisdirektors statt. Während es durchaus möglich sei, die Adresse und Qualifikation der medizinischen Expertin zu überprüfen, könne nicht ausgeschlossen werden, dass sie eingeschüchtert oder zur Weiterleitung von unerlaubten Nachrichten verleitet werden könnte. Ähnliches gelte etwa für das Sekretariat von Parlamentsmitgliedern, wobei jedoch die Bedeutung der ungehinderten Korrespondenz mit Parlamentariern das eingegangene Risiko überwiege. Gänzlich anders sei der Briefverkehr mit einem Mediziner zu bewerten.

Das Gericht erachtete die Überwachung des Briefverkehrs aus folgenden Gründen als verhältnismäßig: Erstens lagen dieser legitime und dringliche Ziele im Sinne der PSO zugrunde, zweitens stand für die Gefängnisverwaltung keine gelindere Maßnahme zur Verfügung, drittens war das Lesen der medizinischen Korrespondenz auf den Gefängnisarzt beschränkt und daher nicht exzessiv und viertens war die Entscheidung des Gefängnisdirektors nicht willkürlich, da sie nicht das Resultat einer rigiden Gefängnispolitik war.

Am 18.4.2005 verweigerte das House of Lords dem Bf. die Erlaubnis zur Einbringung eines Rechtsmittels.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt, die Überwachung des Briefverkehrs durch die Gefängnisbehörden stelle eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Briefverkehrs) dar.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

1. Zur Zulässigkeit:

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Es liegt ein Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Briefverkehrs vor, der gesetzlich vorgesehen war und ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz vor strafbaren Handlungen und den Schutz der Rechte anderer verfolgte. Zu prüfen ist, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

In seiner Judikatur hat der GH Standards zur Vertraulichkeit des Briefverkehrs von Gefangenen definiert. Im Fall Petrov/BG stellte er klar, dass die Gefängnisbehörden den Brief eines Anwalts an einen Gefangenen nur dann öffnen dürfen, wenn sie vertretbare Gründe für die Annahme haben, dieser enthalte verbotenes Material, das mit den sonst üblichen Erkennungsmethoden nicht entdeckt werden könne. Der Brief sollte jedenfalls nur geöffnet und nicht gelesen werden. Um das zu garantieren, wäre etwa an ein Öffnen des Briefes in Anwesenheit des Gefangenen zu denken. Das Lesen der Post eines Gefangenen an seinen bzw. von seinem Anwalt sollte nur in besonderen Fällen erlaubt sein, nämlich wenn die Behörden gute Gründe haben zu glauben, dass dieses Privileg missbraucht worden ist.

Im Fall Z./FIN betonte der GH, dass der Schutz persönlicher bzw. medizinischer Daten wichtig für den Genuss des Rechts einer Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens unter Art. 8 EMRK sei. Es sei nicht nur wichtig, die Privatsphäre eines Patienten zu respektieren, sondern auch sein Vertrauen in den ärztlichen Beruf und die Gesundheitsbehörden zu bewahren. Ohne einen solchen Schutz würden jene, die medizinischer Unterstützung bedürften, davon abgeschreckt, intime und persönliche Informationen zu enthüllen, die erforderlich wären, um eine angemessene Behandlung zu erhalten – und würden letztlich damit ihre eigene Gesundheit gefährden.

Ferner hat der GH in seiner Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK anerkannt, dass die Gesundheit und das Wohl der Gefangenen angemessen gesichert sein müssen, indem etwa die notwendige medizinische Unterstützung bereitgestellt wird. Er erinnert auch an die Haftstandards des Anti-Folter-Komitees zur Bedeutung der medizinischen Vertraulichkeit im Gefängnis.

Im vorliegenden Fall leidet der Bf. unter einer lebensgefährlichen Krankheit, die eine regelmäßige medizinische Überwachung durch einen Facharzt notwendig macht. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Court of Appeal anerkannt hat, dass die Überwachung der medizinischen Korrespondenz des Bf. mit seiner Fachärztin, wenngleich beschränkt auf den Gefängnisarzt, ein „unweigerliches Missbrauchsrisiko" in sich trage. Der GH hält es ferner für bedeutsam, dass das Gericht die Möglichkeit nicht ausschloss, unter anderen Verhältnissen könne es unverhältnismäßig sein, der medizinischen Korrespondenz eines Häftlings die Vertraulichkeit abzusprechen.

Es sollte auch nicht übersehen werden, dass der Gefängnisarzt bis zum Inkrafttreten des Offender Management Act 2007 als Gefängnisbeamter galt. Mittlerweile wird die gesamte medizinische Versorgung im Gefängnis von einem auswärtigen Allgemeinmediziner des Gesundheitsamts erledigt.

In diesem Zusammenhang weist der GH auf die Erwägungen sowohl des High Court als auch des Court of Appeal hin, wonach die anfängliche Entscheidung des Gefängnisdirektors, der medizinischen Korrespondenz des Bf. Vertraulichkeit einzuräumen, ein starkes Indiz dafür sei, dass eine solche Vorgehensweise sinnvoll war. Außerdem war das vom Gefängnisdirektor vorgeschlagene Nichtlesen der medizinischen Korrespondenz des Bf. an bestimmte Bedingungen geknüpft. Es bestanden zu keiner Zeit Gründe zu der Annahme, der Bf. habe jemals in der Vergangenheit die Vertraulichkeit, die seiner medizinische Korrespondenz zugestanden wurde, missbraucht oder eine derartige Absicht verfolgt. Darüber hinaus war der Bf. immer als Häftling der Kategorie B eingestuft, für die geringere Sicherheitsanforderungen gelten.

Der GH erachtet die Argumente der Gefängnisverwaltung hinsichtlich der generellen Schwierigkeiten in Bezug auf die Ermöglichung der Vertraulichkeit des Briefverkehrs für Gefangene für nicht besonders relevant. Es war lediglich der Wunsch des Bf., mit einer bestimmten Fachärztin zu korrespondieren, deren Adresse und Qualifikationen – wie auch der Court of Appeal bestätigte – leicht zu überprüfen waren. Darüber hinaus scheint diese durchaus gewillt und fähig gewesen zu sein, alle Briefe an den Bf. mit einem speziellen Stempel zu versehen – was sie bis zur Entscheidung der Gefängnisdirektion vom 28.11.2002 auch gemacht hat. Der GH teilt insofern nicht die Ansicht des Court of Appeal, das Risiko, dass die Fachärztin, deren Vertrauenswürdigkeit niemals in Frage gestellt worden war, eingeschüchtert oder dazu verleitet werden könne, illegale Nachrichten zu kommunizieren, sei ausreichend gewesen, um einen Eingriff in die Rechte des Bf. nach Art. 8 EMRK rechtfertigen zu können. Selbst der Court of Appeal erkannte an, dass zwar dasselbe Risiko im Fall des Sekretariats von Mitgliedern des Parlaments bestehe, das Erfordernis der ungehinderten Korrespondenz mit diesen jedoch das Risiko überwiege.

Der GH ist der Ansicht, dass dem ungehinderten Briefverkehr zwischen einem Gefangenen und einem medizinischen Spezialisten für den Fall, dass er an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidet, kein geringerer Schutz angediehen werden soll als im Fall des Briefverkehrs zwischen einem Häftling und einem Mitglied des Parlaments. Er verweist in dieser Hinsicht auf das Eingeständnis des Court of Appeal, es könne in manchen Fällen unverhältnismäßig sein, der medizinischen Korrespondenz eines Häftlings die Vertraulichkeit abzusprechen, sowie die mittlerweile erfolgten Änderungen im innerstaatlichen Recht.

Die Überwachung der medizinischen Korrespondenz des Bf. stellte daher, auch wenn sie auf den Gefängnisarzt beschränkt war, einen unangemessenen Eingriff in dessen Recht auf Achtung des Briefverkehrs dar. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 1.000,– für immateriellen Schaden, € 6.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Z./FIN v. 25.02.1997; NL 1997, 54; ÖJZ 1998, 152.

Petra/RO v. 23.9.1998; NL 1998, 199.

Jankauskas/LT v. 24.2.2005.

Zdanoka/LV v. 16.3.2006 (GK); NL 2006, 78.

Petrov/BG v. 22.5.2008.

Adamsons/LV v. 24.6.2008; NL 2008, 161.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.6.2009, Bsw. 36936/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 149) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_3/Szuluk.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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