JudikaturJustizBsw34702/07

Bsw34702/07 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
10. Januar 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Standard Verlags GmbH gg. Österreich, Urteil vom 10.1.2012, Bsw. 34702/07. Art. 10 EMRK, § 7a MedienG - Offenlegung eines Namens im Zusammenhang mit der Hypo Alpe-Adria.

Spruch

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 7.602,12 für materiellen Schaden, € 4.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. ist Medieninhaberin der Tageszeitung Der Standard. Am 4.4.2006 wurde in der Zeitung ein Artikel veröffentlicht, der sich mit der Untersuchung über die von der Hypo Alpe-Adria erlittenen Verluste befasste. In diesem wurde der Name von Christian Rauscher dahingehend erwähnt, dass der Vorstandsvorsitzende Wolfgang Kulterer und der Vertreter der Aktionäre und mit einer Aufsichtsfunktion ausgestattete Jörg Haider ihm als Mitglied der Treasury-Abteilung der Bank die Schuld an den Verlusten gegeben hätten. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass es sich bei Rauscher um den Sohn eines früheren SPÖ-Landesregierungsmitglieds handle.

Am 16.6.2006 leitete Rauscher gegen die Bf. wegen Offenlegung seiner Identität ein Verfahren nach § 7a MedienG ein.

Das LG für Strafsachen Wien wies den Antrag am 18.7.2006 ab. Es wies darauf hin, dass § 7a Abs. 1 MedienG eine Abwägung der Interessen des Klägers am Schutz seiner Identität und des öffentlichen Interesses an deren Offenlegung erfordere. Das Gericht sah ein überwiegendes öffentliches Interesse gegeben, da der Kläger zwar keine Figur des öffentlichen Lebens war, aber eine Verbindung zwischen seiner beruflichen Tätigkeit und dem öffentlichen Leben existierte, weil dem Land ja 45 % der Bank gehörten und somit Land und Steuerzahler einen beachtlichen Anteil der Verluste zu tragen hatten. Der Kläger war für jene Abteilung verantwortlich, die die Verluste verursacht hatte. Die Öffentlichkeit hätte ein überwiegendes Interesse am Erhalt von Informationen über die Identität der für die Verluste Verantwortlichen.

Am 14.2.2007 gab das OLG Wien der Berufung des Klägers statt und verurteilte die Bf. zur Zahlung von € 5.000,–. Das LG hätte die konfligierenden Interessen falsch gewichtet. Die Offenlegung der Identität des Klägers in einem frühen Verfahrensstadium, wo die Verdächtigungen vage und unsicher waren, sei nicht zu rechtfertigen. Die Offenlegung hätte in diesem Fall keinen eigenständigen informativen Wert gehabt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit) durch das Urteil des OLG Wien.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Zulässigkeit

Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Die Argumentation der Parteien konzentrierte sich auf die Frage, ob der Eingriff iSd. Art. 10 Abs. 2 EMRK »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.

Dafür ist es erforderlich festzustellen, ob der Eingriff einem »dringenden sozialen Bedürfnis« entsprang, ob er verhältnismäßig zu dem verfolgten legitimen Ziel war und ob die von den nationalen Behörden zur Rechtfertigung angeführten Gründe sachlich und hinreichend waren.

Die vom OLG Wien angeführten Gründe waren ganz unzweifelhaft »sachlich« für die Zwecke der Durchführung der Prüfung der Notwendigkeit gemäß Art. 10 Abs. 2 EMRK. Der GH untersucht nun, ob sie auch »hinreichend« waren.

Der GH stimmt mit den nationalen Gerichten überein, dass es im vorliegenden Fall darum geht, das Recht der Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK gegen das Recht des Klägers auf den Schutz seiner Identität abzuwägen, wobei Aspekte der persönlichen Identität vom »Privatleben« nach Art. 8 EMRK umfasst werden.

In Fällen, in denen der GH den Schutz des Privatlebens gegen die Meinungsäußerungsfreiheit abzuwägen hatte, war ein Faktor, den er in Betracht gezogen hat, die Stellung der von der Veröffentlichung betroffenen Person, nämlich ob sie eine Figur des öffentlichen Lebens war oder auf andere Weise die öffentliche Bühne betreten hatte.

Der GH stimmt mit der Einschätzung des LG für Strafsachen und des OLG Wien überein, dass es sich beim Kläger um keine Figur des öffentlichen Lebens handelt. Auch hat er nicht die öffentliche Bühne betreten. Die Frage, ob eine Person, deren Interessen durch eine Medienberichterstattung verletzt worden sind, eine Figur des öffentlichen Lebens ist, stellt allerdings lediglich eines von mehreren zu berücksichtigenden Elementen dar.

Einen weiteren wichtigen Faktor, den der GH häufig betont hat, wenn es um die Abwägung konfligierender Interessen unter Art. 10 EMRK einerseits und Art. 8 EMRK andererseits geht, ist der Beitrag von Artikeln oder Fotos zu einer Debatte von allgemeinem Interesse.

Im vorliegenden Fall berichtete der Artikel unbestritten über eine Frage von öffentlichem Interesse. Er betraf einen Bankenskandal, der zu enormen Verlusten einer Bank führte, die zu 45% im Eigentum des Landes Kärnten stand. Vor diesem Hintergrund widmete sich der Artikel einerseits dem Umstand, dass Politik und Banken miteinander verflochten waren und berichtete über die Eröffnung einer staatsanwaltschaftlichen Untersuchung andererseits. In diesem Zusammenhang wiederholt der GH, dass unter Art. 10 Abs. 2 EMRK wenig Raum für Einschränkungen der politischen Rede oder von Fragen von öffentlichem Interesse besteht.

Darüber hinaus steht auch außer Streit, dass die im Artikel berichteten Gegebenheiten korrekt waren.

Das OLG Wien stützte sich stark auf den Umstand, dass der Artikel über die Eröffnung strafrechtlicher Verfahren berichtete und durch Angabe des Namens des Klägers diesen als Verdächtigen hinsichtlich der Untreue im Bezug auf eine große Summe Geldes vorstellte. Der GH verweist auf die besonderen den Medien obliegenden Pflichten hinsichtlich des Anbietens von Informationen zu strafrechtlichen Verfahren (siehe die Empfehlung des Ministerrats Rec (2003) 13). Er akzeptiert auch die Feststellung des OLG Wien, dass die Enthüllung der Identität eines Verdächtigen im frühen Verfahrensstadium besonders problematisch sein kann.

Der GH muss allerdings bei der Beurteilung der Notwendigkeit eines Eingriffs den Artikel als Ganzes beachten. Der gegenständliche Artikel ist kein typisches Beispiel für Gerichtsberichterstattung, sondern konzentriert sich mehr auf die politische Dimension des Bankenskandals. Abgesehen von der Erwähnung des Umstands, dass in der Führungsetage der Bank wegen Verdachts der Untreue eine staatsanwaltschaftliche Untersuchung eröffnet worden war, handelt der Artikel nicht von der Abwicklung oder dem Inhalt der Untersuchung als solcher.

Der Fokus des Artikels liegt stattdessen auf dem Ausmaß, zu dem Politik und Banken verflochten sind, sowie auf der politischen und wirtschaftlichen Verantwortung für die enormen Verluste der Bank. Er erwähnt, dass Herr Haider und Herr Kulterer versuchten, dem Kläger die Schuld zuzuschieben. Es wird in diesem Zusammenhang auf dessen Vater, einem Mitglied der SPÖ und früherem Mitglied der Landesregierung verwiesen und somit auf parteipolitische Gründe angespielt. Namen, Personen und persönliche Beziehungen sind klarerweise von beträchtlicher Bedeutung in diesem Bereich. Es ist schwer vorstellbar, wie die Bf. über diese Dinge in sinnvoller Weise hätte berichten können, ohne die Namen aller Beteiligten, den Kläger eingeschlossen, zu erwähnen. Dies unterscheidet den vorliegenden Fall vom Fall Wirtschafts-Trend Zeitschriften-Verlagsgesellschaft mbH/A (Nr. 2), in dem der GH die Beschwerde durch den Herausgeber eines österreichischen Nachrichtenmagazins für unzulässig erklärte, das zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt worden war, weil es den Namen eines Polizisten im frühen Stadium eines strafrechtlichen Verfahrens gegen ihn offengelegt hatte. In diesem Fall brachte die Enthüllung des Namens des Polizisten keinen Mehrwert zu den im Artikel bereits gelieferten Informationen.

Außerdem bezog sich das OLG Wien auf die Feststellung des LG Wien, dass die Offenlegung von Herrn Rauschers Identität nachteilig für diesen war, insbesondere für sein berufliches Fortkommen. Es trat allerdings dem Argument des LG nicht entgegen, dass sein Name und seine Position bei der Hypo Alpe-Adria in Geschäftskreisen bereits vor der Veröffentlichung des fraglichen Artikels hinlänglich bekannt sein mussten.

Insgesamt befindet der GH, dass die vom OLG Wien angeführten Gründe obwohl »sachlich« so doch nicht »hinreichend« waren. Deshalb haben die nationalen Gerichte den geringen Ermessensspielraum überschritten, der ihnen für Beschränkungen hinsichtlich Debatten von öffentlichem Interesse zusteht. Der Eingriff war daher nicht »notwendig in einer demokratischen Gesellschaft«. Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 7.602,12 für materiellen Schaden, € 4.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

News Verlags GmbH Co KG/A v. 11.1.2000 = NL 2000, 24 = ÖJZ 2000, 394

Wirtschafts-Trend Zeitschriften-Verlagsgesellschaft mbH/A (Nr. 2) v. 14.11.2002 (ZE) = NL 2002, 247 = ÖJZ 2003, 155

Verlagsgruppe News GmbH/A (Nr. 2) v. 14.12.2006 = NL 2006, 313

Eerikäinen u.a./FIN v. 10.2.2009

Flinkkilä u.a./FIN v. 6.4.2010

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.1.2012, Bsw. 34702/07 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 3) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_1/Standard Nr. 3.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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