JudikaturJustizBsw24069/03

Bsw24069/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
18. März 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Öcalan gg. die Türkei (Nr.2), Urteil vom 18.3.2014, Bsw. 24069/03, Bsw. 197/04, Bsw. 6201/06 und Bsw. 10464/07.

Spruch

Art. 2, Art. 3, Art. 7, Art. 8 EMRK - Nicht reduzierbare Haft bis Lebensende ist EMRK-widrig

Unzulässigkeit der Beschwerde bezüglich der behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK durch den Versuch einer Vergiftung des Bf. (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig)

Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der Haftbedingungen vor dem 17.11.2009 (4:3 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der Haftbedingungen ab dem 17.11.2009 (6:1 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (4:3 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 7 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der lebenslangen Freiheitsstrafe (einstimmig).

Keine Notwendigkeit einer gesonderten Prüfung der Beschwerde unter Art. 5, Art. 6, Art. 13 und Art. 14 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung von Art.3 EMRK stellt eine ausreichende gerechte Entschädigung fürmaterielle und immaterielle Schäden dar; € 25.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Gründer und ehemaliger Führer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Er befindet sich seit dem 16.2.1999 in einem auf der Insel Imrali gelegenen Gefängnis in Haft (zu den Einzelheiten seines Strafverfahrens siehe das erste Öcalan-Urteil, NL 2005, 117).

Beschreibung der Haftbedingungen

Die Haftbedingungen, denen der Bf. bis zum 12.5.2005 unterlag, sind im Urteil des EGMR, Öcalan/TR, beschrieben (Z. 192-196).

Bis zum 17.11.2009 (an diesem Tag wurden fünf Häftlinge nach Imrali verlegt) war der Bf. der einzige Insasse dort. Seine Zelle maß 13 m2. Sowohl natürliche als auch künstliche Beleuchtung waren gegeben. Bewegung im Freien war auf eine Stunde täglich beschränkt. Der Bf. befand sich zwar nicht in Einzelhaft, jedoch war ihm Kontakt nur mit dem Wachpersonal möglich, das mit ihm nur über Dinge betreffend den Gefängnis alltag sprechen durfte. Ferner stand ihm ein Radio, mit dem staatliche Rundfunkprogramme empfangen werden konnten, zur Verfügung. Ein Fernsehapparat wurde ihm aus Sicherheitsgründen und wegen disziplinärer Verfehlungen verweigert. Aus denselben Gründen durfte er auch nicht telefonieren. Eingeschränkt war auch der Zugang zu Tageszeitungen und Zeitschriften. Sie wurden ihm von Familienmitgliedern bzw. seinen Anwälten ausgehändigt. Die Journale, die er vom Wachpersonal bekam, waren zuvor zensuriert worden. Dem Bf. war ein Briefverkehr gestattet, der allerdings von den Behörden teilweise unterbrochen wurde. Er verbrachte beinahe 10 Jahre und neun Monate in ein und derselben Zelle.

Als Reaktion auf eine Empfehlung des Anti-Folter-Komitees des Europarats (im Folgenden: CPT), der sozialen Isolation des Bf. ein Ende zu bereiten, ließen die Strafvollzugsbehörden neue Gebäude auf dem Gefängnisgelände errichten. Seit dem 17.11.2009 belegt der Bf. eine Zelle im Ausmaß von 9,8 m2. Den Insassen stehen eine Sporthalle und zwei weitere Hallen mit Sitzgelegenheiten zur Verfügung. Jeder von ihnen darf zwei Stunden pro Tag Bewegung im Freien machen. Nach einem im Jänner 2010 erfolgten Besuch des CPT, bei dem der spärliche Zugang zu gemeinsamen Freizeitaktivitäten bemängelt worden war, können die Häftlinge nun – statt ursprünglich einer Stunde wöchentlich – drei Stunden Konversation pro Woche mit ihren Mithäftlingen pflegen, einmal in der Woche sind ihnen auch Teamspiele erlaubt. Die Zeit, die der Bf. außerhalb seiner Zelle verbringen darf, beläuft sich auf maximal 38 Stunden, zehn Stunden davon darf er mit Mithäftlingen verbringen. Beginnend mit 20.3.2010 haben alle Gefängnisinsassen zwei Mal im Monat Anspruch auf ein zehnminütiges Telefonat mit der Außenwelt. Auf Anregung des CPT hat der Bf. seit dem 12.1.2012 einen Fernseher.

Zu den Besuchseinschränkungen

Vom 16.2.1999 bis September 2007 wurde der Bf. insgesamt 126 Mal von seinen Geschwistern und 675 Mal von seinen Anwälten besucht. Im verbleibenden Rest des Jahres 2007 und in den Jahren 2008-2010 stieg die Häufigkeit der Besuche an, während sie sich in den Jahren 2011 und 2012 signifikant verringerte. Der Bf. würde seine Familie bzw. seine Anwälte gerne häufiger sehen, jedoch werden Besuchsanträge regelmäßig mit der Begründung abgelehnt, die schlechten Wetterbedingungen bzw. technische Pannen bei der Fähre würden eine Überfahrt vom Festland zur Insel nicht zulassen.

Mit seinen Anwälten bespricht der Bf., der sich unverändert als Führer des kurdischen Volkes ansieht, häufig die jüngsten internen Angelegenheiten und politischen Entwicklungen die PKK betreffend. Von den Gefängnisbehörden wurden wiederholt Disziplinarstrafen, darunter Isolationshaft, über ihn verhängt, da er versucht hatte, der PKK Instruktionen über seine Anwälte zukommen zu lassen. Familienbesuche sind auf eine Stunde alle 14 Tage beschränkt. Sie fanden ursprünglich in einem Besucherraum mit Trennwand statt. Seit Juli 2010 kann der Bf. die Besucher »am Tisch« empfangen.

Behaupteter Versuch der Vergiftung des Bf.

Am 7.3.2007 wurde der EGMR von den Rechtsvertretern des Bf. darüber in Kenntnis gesetzt, dass eine von ihnen veranlasste Untersuchung von sechs Haaren des Bf. abnormale Dosen von Chrom und Strontium ergeben hätte. Eine von den türkischen Behörden vor Ort erhobene Probe ergab jedoch keinen Hinweis auf giftige oder gesundheitsschädliche Substanzen im Körper des Bf.

Rechtliche Beurteilung

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege) und von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie des Briefverkehrs).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

hinsichtlich der Haftbedingungen

Der Bf. beklagt sich über die seiner Ansicht nach unmenschlichen Bedingungen seiner Anhaltung auf der Insel Imrali und über seine soziale Isolation dort.

Vorbemerkung

Der GH hat die Vereinbarkeit der Haftbedingungen mit Art. 3 EMRK bis zum 12.5.2005 bereits in seinem Urteil Öcalan/TR untersucht. Er kam darin zu dem Ergebnis, dass ungeachtet der Empfehlung des CPT, Langzeiteffekte von sozialer Isolation beim Bf. durch den Zugang zu einem Fernseher und zu Telefonkontakt mit seiner Familie abzumildern, die allgemeinen Haftbedingungen im gegenwärtigen Zeitpunkt (noch) nicht den von Art. 3 EMRK verlangten Mindestschweregrad überschritten hätten. Der GH kann daher nur über die Ereignisse nach dem 12.5.2005, und zwar bis 8.3.2012 – dem Tag, an dem die letzten Stellungnahmen der Parteien eintrafen – absprechen.

Vereinbarkeit der Haftbedingungen mit Art. 3 EMRK

Der GH hat bereits in seinem ersten Öcalan-Urteil festgehalten, dass dessen Anhaltung die türkischen Behörden vor außerordentliche Schwierigkeiten stellte, wurde bzw. wird dieser doch als Anführer einer Separatistenbewegung vom Großteil der türkischen Bevölkerung als der gefährlichste Terrorist des Landes angesehen. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass Gegner des in seiner eigenen Partei nicht unumstrittenen Bf. ihm nach dem Leben trachten und Anhänger versuchen könnten, ihm eine Flucht aus dem Gefängnis zu ermöglichen. Diese Umstände haben sich bis zum heutigen Tag nicht wesentlich geändert, ist doch der Bf., was seine Teilnahme an den politischen Debatten betreffend die Aktivitäten der PKK angeht, aktiv geblieben und hat er an diese Anweisungen über seine Anwälte gegeben, was zu großer Aufregung in der Öffentlichkeit geführt hat. Der GH hat daher Verständnis für die von den Behörden ergriffenen – außergewöhnlichen – Sicherheitsmaßnahmen.

Zu den materiellen Haftbedingungen ist zu sagen, dass diese mit den Europäischen Strafvollzugsregeln des Ministerrats vom 11.1.2006 konform gehen. Auch vom CPT wurden sie als insgesamt akzeptabel bewertet.

Der GH wird nun Grad und Dauer der Isolation des Bf. im Hinblick auf den Zugang zu Informationen und die Kommunikationsmöglichkeiten mit dem Gefängnispersonal und den Mithäftlingen einerseits und der Familie und den Anwälten andererseits ermitteln.

Zum Ausmaß der Isolation

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die soziale Isolation des Bf., der vor dem 17.11.2009 der einzige Gefängnisinsasse war, partiell und relativ war. Seit dem 17.11.2009 kann der Bf. mit seinen Mithäftlingen eine Stunde bzw. – seit Jänner 2010 – drei Stunden wöchentlich Gespräche führen. Was Besuche durch Familienangehörige angeht, konnten diese aufgrund der exponierten Lage des Gefängnisses nicht immer regelmäßig stattfinden. Der GH notiert mit Besorgnis, dass der Bf. in den Jahren 2011 und 2012 nur wenige Besuche erhalten hat. Von seinen Anwälten, die ihn jeden Mittwoch besuchen dürfen, erhielt der Bf. zu manchen Zeiten regelmäßige Besuche, die jedoch dann ausfielen, wenn die Gefängnisbehörden Besuchsgesuche aufgrund des schlechten Wetters, einer Schiffspanne oder eines gegen einen seiner Anwälte anhängigen Strafverfahrens wegen Übermittlung von Botschaften an die PKK abgelehnt hatten.

Zur Dauer der Isolation

Der Bf. befand sich vom 12.5.2005 bis zum 17.11.2009 in relativer sozialer Isolation, also für vier Jahre und sechs Monate. Rechnet man die Zeitspanne hinzu, die er bereits zuvor im Gefängnis verbracht hatte, ergeben sich insgesamt zehn Jahre und neun Monate.

Was die Periode bis zum 17.11.2009 betrifft, können die dem Bf. auferlegten Beschränkungen mit jenen im Fall Ramirez Sanchez/F verglichen werden, in dem der GH keine Verletzung von Art. 3 EMRK festgestellt hat. Allerdings hat er im besagten Urteil auch darauf hingewiesen, dass für als gefährlich angesehene Individuen, welche nicht dem normalen Haftregime unterworfen werden können, andere Lösungen als die Verhängung von Isolationshaft gefunden werden sollten. In diesem Zusammenhang ist auf den Bericht des CPT aus 2007 zu verweisen, in dem es ähnliche Bedenken hinsichtlich der schädlichen Folgen für den Bf. im Fall einer Verlängerung seiner relativen sozialen Isolation vorbrachte. Die türkische Regierung hat darauf nach erneuter Mahnung des CPT positiv reagiert, indem sie auf dem Gefängnisarreal ein neues Gebäude errichten und fünf weitere Häftlinge auf die Insel kommen ließ. Ab November 2009 hat sich das auf den Bf. angewendete Haftregime Schritt für Schritt von der ursprünglichen sozialen Isolation entfernt. Das CPT äußerte sich dennoch besorgt über das lange Fehlen eines eigenen Fernsehers für den Bf. und über die häufige Unterbrechung der Kommunikation mit seinen Anwälten. Wäre dem früher nachgekommen worden, hätte eine soziale Isolation des Bf. vermieden werden können. In Kombination mit dem Faktor »Zeit« (mehr als 13-jährige Anhaltung) musste das Fehlen von Kommunikationsmöglichkeiten für einen langen Zeitraum beim Bf. gerechtfertigte Gefühle einer sozialen Isolation aufkommen lassen.

Abschließend ist festzuhalten, dass es der Regierung obliegt (mag auch die Wahl, eine abgelegene Insel als Haftort für den Bf. zu wählen, in ihr Ermessen fallen), die Strafvollzugsbehörden mit den entsprechenden Transportmitteln auszustatten, um einen reibungslosen Ablauf von Besuchen der Häftlinge zu ermöglichen.

Ergebnis

Die soziale Isolation des Bf. hat unter mehr oder weniger identischen Umständen, wie sie im Urteil vom 12.5.2005 festgestellt wurden, angedauert. Die Haftbedingungen, denen der Bf. vor dem 17.11.2009 unterlag, waren somit als unmenschlich einzustufen. Verletzung von Art. 3 EMRK (4:3 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum von Richter Raimondi, Richterin Karakas und Richter Lorenzen).

Mit Rücksicht auf die oben beschriebene Verbesserung der Haftbedingungen ab dem 17.11.2009 erreichten diese nicht den von Art. 3 EMRK geforderten Schweregrad. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Der Bf. bringt vor, die behördlichen Einschränkungen den Kontakt mit seinen Familienangehörigen, den Telefon- und Briefverkehr und Besuche betreffend hätten sein Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt.

Der GH erinnert daran, dass die Gefängnisbehörden angehalten sind, Häftlingen bei der Aufrechterhaltung des Kontakts mit nahen Angehörigen beizustehen. Im vorliegenden Fall war der Bf. einem speziellen Haftregime unterworfen, welches eine zeitliche und räumliche Beschränkung der Familienbesuche mit sich brachte.

Diese Einschränkungen stellten zweifellos einen Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Familienlebens dar, beruhten aber auf einer Rechtsgrundlage (Gesetz Nr. 5.275 über den Strafvollzug und präventive Maßnahmen) und waren somit gesetzlich vorgesehen. Sie verfolgten auch legitime Ziele, nämlich die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit sowie die Verhinderung von Straftaten. Was die Notwendigkeit des Eingriffs betrifft, teilt der GH die Sorge der Regierung, dass der Bf. im Fall einer Kommunikation mit der Außenwelt versuchen könnte, Kontakte zur PKK wiederherzustellen. Es besteht daher kein Zweifel, dass die Anwendung eines speziellen Haftregimes auf ihn notwendig war.

Was nun die Abwägung des persönlichen Interesses des Bf., mit seiner Familie zu kommunizieren, mit jenem der Allgemeinheit auf Einschränkung von Kontakten zur Außenwelt anbelangt, ist festzuhalten, dass die Gefängnisbehörden versucht haben, den Kontakt des Bf. mit seinen Verwandten aufrechtzuerhalten: Besuche sind einmal in der Woche ohne Vorgaben hinsichtlich der Anzahl der Besucher gestattet, sie finden seit 2010 auch an einem Tisch (ohne Trennwand) statt. Ein zehnminütiges Telefongespräch darf der Bf. alle zwei Wochen führen. Auch der – zensurierte – Briefverkehr mit Familienmitgliedern verläuft problemlos.

Der Eingriff war somit gerechtfertigt und verhältnismäßig. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (4:3 Stimmen; abweichendes Sondervotum des Richters Sajó und der Richterin Keller; abweichendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK

Der Bf. legt erstens dar, vor dem Inkrafttreten von Gesetz Nr. 4.771/2002, mit dem die Todesstrafe in Friedenszeiten abgeschafft wurde, hätten zum Tode verurteilte Personen, deren Exekution von der Nationalversammlung nicht genehmigt worden war, in Haft für eine Höchstdauer von 36 Jahren verbleiben müssen. Das vor Inkrafttreten des besagten Gesetzes verhängte Todesurteil sei daher entgegen dem Prinzip nulla poena sine lege rückwirkend in eine härtere Strafe umgewandelt worden. Zweitens sei die soziale Isolation, die ihm auferlegt worden sei, von keinerlei Gesetzen gedeckt gewesen.

Der GH wird zuerst prüfen, ob das gegen den Bf. ursprünglich ausgesprochene Todesurteil angesichts des seit 1984 in der Türkei bestehenden Todesstrafen-Moratoriums tatsächlich mit einer Freiheitsstrafe von maximal 36 Jahren gleichgesetzt werden kann. Zum einen ist festzuhalten, dass das Risiko für die Vollstreckung des Todesurteils bis vor dem Urteil des Staatssicherheitsgerichts vom 3.10.2002, mit dem die Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt wurde, mit Blick auf die Person des Bf. und die damalige politische Situation durchaus real war. Zum anderen hat die Regierung zutreffend darauf hingewiesen, dass gemäß den einschlägigen Gesetzen zum Zeitpunkt vor der gesetzlichen Abschaffung der Todesstrafe zum Tode verurteilte Personen nur dann in den Genuss einer bedingten Entlassung nach 36 Jahren kommen konnten, wenn die Vollstreckung der Todesstrafe vom türkischen Parlament ausdrücklich abgelehnt worden war. Im Fall des Bf. war das Todesurteil jedoch zu keiner Zeit Gegenstand einer parlamentarischen Prüfung. Der GH vermag sich daher dessen Argumentation nicht anzuschließen.

Als nächstes ist das Vorbringen des Bf. zu untersuchen, wonach das über ihn verhängte Todesurteil zuerst in eine »normale« lebenslange Freiheitsstrafe und dann rückwirkend in eine verschärfte – ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung – umgewandelt worden wäre. Der GH wird daher der Frage nachgehen, ob die sukzessiven Reformen, welche die türkische Strafgesetzgebung im Zuge des Prozesses der Abschaffung der Todesstrafe durchlaufen hat, dem Bf. eine Möglichkeit boten, nach einer gewissen Zeit aus der Haft entlassen zu werden.

Nun ist dem Gesetz Nr. 4.771/2002, welches die Todesstrafe abschafft und sie durch lebenslange Freiheitsstrafe ersetzt, jedoch klar zu entnehmen, dass letztere Strafe vom Verurteilten bis zum Rest seines Lebens zu verbüßen ist, ohne Aussicht auf bedingte Entlassung. Das Gesetz Nr. 5.218 vom 21.7.2004 über die Abschaffung der Todesstrafe fügt präzisierend hinzu, dass die Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung, wie sie im Strafvollzugsgesetz vorgesehen ist, insbesondere nicht auf Personen Anwendung findet, über die wegen Begehung von terroristischen Akten die Todesstrafe verhängt worden war. Folglich stand dem Bf. zum Zeitpunkt der Abschaffung der Todesstrafe kein Gesetz offen, welches die Möglichkeit einer bedingten Entlassung nach Verbüßung einer Mindesthaftzeit vorgesehen hätte.

Was das vom Bf. gerügte Nichtvorliegen einer gesetzlichen Regelung betreffend seine soziale Isolation betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese sich daraus ergab, dass er der einzige Insasse auf der Insel Imrali war. Die außergewöhnliche Maßnahme, ein ganzes Gefängnis nur für eine Person zu reservieren, war nicht Bestandteil eines auf härtere Bestrafung ausgerichteten Haftregimes. Die Behörden wollten auf diese Weise das Leben des Bf. schützen bzw. das Risiko von Fluchtversuchen minimieren. Es konnte vom Staat daher nicht erwartet werden, eine derartige Maßnahme gesetzlich im Detail zu regeln. Abgesehen davon musste der Bf. vorhersehen, dass die Behörden für den Fall seiner Festnahme besondere Vorkehrungen für seine Anhaltung treffen würden.

Es ist daher keine Verletzung von Art. 7 EMRK festzustellen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

hinsichtlich der lebenslangen Freiheitsstrafe

Der Bf. behauptet, seine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe auf Lebenszeit, ohne dass mildernden Faktoren wie gute Führung und Bereitschaft zur Rehabilitation Rechnung getragen werden könnte, stelle in Verbindung mit der ihm auferlegten sozialen Isolation eine unmenschliche Behandlung dar.

Der GH hat im Fall Vinter u.a./GB festgehalten, dass die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe per se nicht unvereinbar mit Art. 3 EMRK oder der Konvention ist. Ernste Fragen können sich aber dann stellen, wenn die Strafe de facto und de iure nicht reduzierbar ist. Im vorliegenden Fall ist daher zu untersuchen, ob der Bf. Aussichten auf eine Freilassung hat. Zu prüfen ist, ob das türkische Recht die Möglichkeit der Überprüfung einer Freiheitsstrafe auf Lebenszeit dahingehend vorsieht, dass diese abgemildert, ausgesetzt, nachgelassen oder in eine bedingte Strafe umgewandelt werden kann.

Der GH hat bereits festgestellt, dass die relative soziale Isolation, die von der Regierung nach und nach gelockert wurde, ab dem 17.9.2009 nicht mehr den von Art. 3 EMRK verlangten Schweregrad aufwies. Zur Frage der Unabänderlichkeit der Strafe ist zu sagen, dass das Gesetz über die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten vorsieht, dass ein bereits ausgesprochenes Todesurteil in eine verschärfte lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt wird. Dies heißt nichts anderes, als dass die zu einer solchen Strafe von einem Gericht verurteilte Person – wie hier der Bf. – den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen muss, und zwar ohne dass Faktoren wie ihre weitere Gefährlichkeit oder die Möglichkeit ihrer bedingten Entlassung nach Verbüßung einer gewissen Haftzeit Berücksichtigung fänden. In diesem Zusammenhang ist auf § 107 Gesetz Nr. 5.275 über den Strafvollzug und präventive Maßnahmen (welches Fälle wie jene des Bf. von einer bedingten Entlassung explizit ausnimmt) und auf § 68 Strafgesetz zu verweisen, wonach Strafen wie die über den Bf. verhängte »Ausnahmen« darstellen, die von der Verjährung ausgenommen sind. Aufgrund seines Status als wegen eines Verbrechens gegen die nationale Sicherheit zu einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe Verurteilter ist es dem Bf. daher von Gesetzes wegen verwehrt, während der Verbüßung seiner Haft um Freilassung aus legitimen strafvollzugsrechtlichen Gründen anzusuchen.

Zwar kann der türkische Präsident die Freilassung eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Häftlings wegen fortgeschrittenen Alters oder Krankheit anordnen. Hierbei geht es aber um eine Haftentlassung aus humanitären Gründen, welche nicht dem strafvollzugsrechtlichen Begriff »Aussicht auf Entlassung« entspricht. Zwar wird vom türkischen Gesetzgeber in mehr oder weniger regelmäßigen Intervallen ein allgemeines oder partielles Amnestiegesetz verabschiedet (Häftlinge werden sofort oder nach Verbüßung einer Mindesthaftzeit auf freien Fuß gesetzt), jedoch hat die Regierung nicht vorgebracht, dass ein derartiges Projekt für den Bf. in Vorbereitung stünde oder dass ihm eine bedingte Entlassung in Aussicht gestellt worden wäre.

In der Praxis ist es daher so, dass Personen wie der Bf., die zu einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, kein Mechanismus zur Verfügung steht, der eine nochmalige Überprüfung ihrer Strafe nach Verbüßung einer Mindesthaftzeit gestatten würde – und zwar dahingehend, ob (noch) legitime Gründe für die Aufrechterhaltung der Haft bestehen.

Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass die über den Bf. verhängte lebenslange Freiheitsstrafe nicht reduzierbar ist. Folglich liegt eine Verletzung von Art. 3 EMRK vor (einstimmig). Dies bedeutet freilich nicht, dass der Bf. sofort freizulassen wäre, sondern lediglich, dass die türkischen Behörden nach der Einrichtung eines Haftprüfungssystems gemäß den vom GH im Fall Vinter u.a./GB entwickelten Prinzipien (vgl. die Z. 111-113) zu prüfen haben werden, ob ein Verbleib des Bf. in Haft nach wie vor gerechtfertigt werden kann.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK

Was den behaupteten Versuch einer schleichenden Vergiftung des Bf. betrifft, nimmt der GH Bezug auf das von der Regierung vorgelegte Resultat einer medizinischen Analyse, wonach in dessen Körper keinerlei Schwermetalle vorgefunden worden wären. Es ist somit kein Anschein einer Konventionsverletzung zu erkennen. Dieser Beschwerdepunkt ist daher als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Zu den weiteren gerügten Konventionsverletzungen

Der Bf. behauptet Verletzungen von Art. 5, 6, 13 und 14 EMRK im Zusammenhang mit seiner sozialen Isolation und der fehlenden Möglichkeit, eine effektive Überprüfung dieser Maßnahme zu erlangen. Diese Beschwerdepunkte sind zwar für zulässig zu erklären, jedoch erachtet der GH eine gesonderte Prüfung nicht für notwendig (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK stellt eine ausreichende gerechte Entschädigung für materielle und immaterielle Schäden dar. € 25.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Ramirez Sanchez/F v. 27.1.2005 = NL 2005, 19

Öcalan/TR v. 12.5.2005 (GK) = NL 2005, 117 = EuGRZ 2005, 463

Vinter u.a./GB v. 17.1.2012 = NL 2012, 20

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.3.2014, Bsw. 24069/03 u.a. entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 109) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_2/Ocalan.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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