JudikaturJustizBsw24023/03

Bsw24023/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
05. Januar 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Jaremowicz gegen Polen, Urteil vom 5.1.2010, Bsw. 24023/03.

Spruch

Art. 12, 13, 14 EMRK - Verweigerung der Eheschließung in Strafanstalt.

Zurückweisung der Einrede der Regierung wegen Nichtausschöpfung des Instanzenzugs.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 12 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung von Art. 14 iVm. Art. 12 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.000,– für immateriellen Schaden, € 1.500,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Aufgrund einer Verurteilung wegen versuchten Diebstahls verbüßte der Bf. im Jahr 2003 eine Haftstrafe im Gefängnis Wroclaw Nr. 1. Am 9.6.2003 bat er den Direktor der Strafanstalt Wroclaw Nr. 1 um Erlaubnis, Besuche von einer ebenfalls in Wroclaw inhaftierten Frau namens M. H. zu bekommen, die er 2002 in derselben Strafanstalt kennengelernt hatte. Nachdem der Antrag abgelehnt worden war, stellte er am 16.6.2003 bei der Strafvollzugsabteilung des Bezirksgerichts Wroclaw einen Antrag auf Erlaubnis, M. H. in der Haftanstalt zu heiraten. Ein entsprechender Antrag wurde auch von M. H. eingebracht. Die Anträge wurden wiederum an den Gefängnisdirektor weitergeleitet, der sie am 18.7.2003 ablehnte. Diese Entscheidungen wurden damit begründet, dass die Beziehung nicht schon vor dem Strafvollzug bestanden hätte.

Daraufhin focht der Bf. die Ablehnung beim Bezirksgericht Wroclaw an, was jedoch ohne Erfolg blieb, und ersuchte den Ombudsmann um Hilfe, der den Gefängnisdirektor um eine Überprüfung der möglichen Erlaubnis der Besuche bat. Der Gefängnisdirektor teilte dem Ombudsmann mit, dass der Bf. während der Haft M. H. rechtswidrigerweise kennengelernt hätte, die Beziehung oberflächlich und aus Sicht der Rehabilitation des Bf. nicht angemessen sei. Aufgrund dieser Feststellung war das Thema auch für den Ombudsmann geklärt, der festhielt, dass er keine Anzeichen für die Verletzung der Rechte des Bf. durch die Gefängnisverwaltung sah.

Inzwischen hatte sich der Bf. beim Justizminister über die Ablehnung des Antrags beschwert. Diese Beschwerde wurde an den Bezirksleiter der Strafvollzugsbehörde übergeben. Derselbige wies die Beschwerde mit der Begründung ab, dass die Entscheidung die anwendbare Bestimmungen nicht verletzen würde, da diese den Gefängnisdirektor nicht verpflichteten, die Eheschließung zu gestatten. Währenddessen untersuchte die Strafvollzugsabteilung des Bezirksgerichts Wroclaw die Beschwerde, fällte aber keine Entscheidung.

Unterdessen stellte der stellvertretende Gefängnisdirektor im November 2003 eine an die Personenstandsbehörde Wroclaw adressierte Bescheinigung aus, wonach dem Bf. die Erlaubnis erteilt worden sei, M. H. in der Strafanstalt zu heiraten.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 12 EMRK (hier: Recht auf Eheschließung), Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 12 EMRK

Der Bf. beschwert sich über die Weigerung der Gefängnisbehörden, ihm die Erlaubnis zur Eheschließung in der Haftanstalt zu erteilen.

1. Zulässigkeit

Die Regierung wendet ein, dass die innerstaatlichen Rechtsmittel nicht erschöpft seien. Zudem hätte der Bf. die Opfereigenschaft iSv. Art. 34 EMRK verloren, weil ihm 2003 die Erlaubnis, M. H. im Gefängnis zu heiraten, erteilt worden sei.

Zur Einrede bezüglich der Opfereigenschaft stellt der GH fest, dass die Durchführung des innerstaatlichen Verfahrens über die vom Bf. beantragte Erlaubnis eine Angelegenheit betrifft, die auch die Frage berührt, ob die durch Art. 12 EMRK gewährten Rechte im vorliegenden Fall respektiert wurden. Daher ist es angemessener, diese bei der Prüfung in der Sache zu erörtern.

Darüber hinaus behauptet die Regierung, dass dem Bf. insofern noch ein anderer Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden wäre, als er bei einem Zivilgericht die Genehmigung einer Stellvertreterehe nach Art. 6 des Familien- und Sorgerechtsgesetzes beantragen hätte können.

Nach der genannten Bestimmung kann eine Stellvertreterehe gerichtlich genehmigt werden, wenn wichtige Gründe das Erscheinen der Ehepartner vor der Personenstandsbehörde verhindern. Da das Verfahren der Stellvertreterehe als Versuch der Umgehung der Entscheidung der Gefängnisbehörden angesehen werden könnte, ist es fraglich, ob diese bereit gewesen wären, das Verfahren zu ermöglichen. Aufgrund dessen ist der GH nicht überzeugt, dass eine Stellvertreterehe als wirksamer Rechtsbehelf angesehen werden kann. Dieser Teil der Einrede wird daher zurückgewiesen.

2. Entscheidung in der Sache

a. Grundsätze der Rechtsprechung des GH

Art. 12 EMRK garantiert das Recht zu heiraten und eine Familie zu gründen. Es unterliegt sowohl hinsichtlich des Verfahrens als auch seines Inhalts den innerstaatlichen Rechtsordnungen, doch dürfen die darin enthaltenen Beschränkungen das Recht nicht in einer Weise oder in einem solchen Umfang beeinträchtigen, dass sein Wesensgehalt berührt wird. Insofern ist die Angelegenheit der innerstaatlichen Ehebedingungen nicht gänzlich den Vertragsstaaten überlassen.

Die Beschränkungen des Rechts auf Eheschließung im innerstaatlichen Recht können formelle Regeln bezüglich der Öffentlichkeit und der feierlichen Begehung der Ehe beinhalten. Diese können auch materiell- rechtliche Bestimmungen basierend auf Erwägungen des öffentlichen Interesses, im speziellen bezüglich der Ehefähigkeit, der Einwilligung, der Prävention der Bigamie und des Verwandtschaftsverhältnisses betreffen. Die relevanten Gesetze dürfen aber einer Person oder einer Gruppe von Personen nicht aus anderen Gründen das Recht entziehen, eine Person ihrer Wahl zu heiraten.

Bei der Untersuchung eines Falls im Hinblick auf Art. 12 EMRK muss der GH unter Rücksichtnahme auf den Ermessensspielraum des Staates feststellen, ob der angefochtene Eingriff willkürlich oder unverhältnismäßig war.

Durch eine Freiheitsstrafe werden einer Person ihre Freiheit und einige weitere Rechte und Privilegien entzogen. Dies bedeutet aber nicht, dass Personen in Haft das Recht auf Eheschließung nicht ausüben könnten. Wie der GH mehrmals festgestellt hat, genießt ein Häftling weiterhin die grundlegenden Menschenrechte und Freiheiten, die nicht im Widerspruch zum Sinn der Freiheitsstrafe stehen; jede zusätzliche Beschränkung muss durch die Behörden gerechtfertigt werden.

Während eine solche Rechtfertigung in Überlegungen der Sicherheit gefunden werden könnte, insbesondere in der Vorbeugung von Verbrechen und Unordnung, die unausweichlich aufgrund der Umstände der Inhaftierung entstehen, verlieren inhaftierte Personen das in Art. 12 EMRK garantierte Recht auf Eheschließung nicht bloß aufgrund ihres Status.

b. Anwendung auf den vorliegenden Fall

Die Beschwerde war nicht gegen die polnischen Gesetze, gegen deren Qualität oder Anwendung im konkreten Fall gerichtet, sondern ausschließlich gegen die Verweigerung der Erlaubnis zur Eheschließung. Der Bf. begründet seine Beschwerde damit, dass keine überzeugenden Gründe für die Entscheidung angegeben wurden und diese in willkürlicher und unverhältnismäßiger Weise gefällt wurde.

Der GH stellt fest, dass die Behörden die Ablehnung des Antrags des Bf. auf Erlaubnis der Eheschließung mit Gründen rechtfertigten, die in keiner Weise mit der Sicherheit im Gefängnis oder der Prävention von Unordnung verbunden waren, sondern sich auf die Bewertung der Natur und Qualität der Beziehung zu M. H. beschränkten. Da der Bf. und M. H. nicht beweisen konnten, dass ihre Beziehung bereits vor dem Gefängnisaufenthalt bestanden hatte, wurde sie von den Behörden als »?unrechtmäßig?« betrachtet. Dies wurde damit begründet, dass sich die beiden offenbar während einer gleichzeitigen Haft in derselben Strafanstalt kennengelernt und Kontakt durch eine im Gefängnis verbotene Form (mittels Papierdrachen) hatten. Zusätzlich behauptete die Behörde, dass die Umstände, unter denen die Beziehung entstanden war – »im Gefängnis« und »gewiss unrechtmäßig« – bedeuteten, dass sie »sehr oberflächlich« und hinsichtlich der sozialen Rehabilitation des Bf. »unwürdig« sei.

Diese Argumente stellen die höchst subjektive Meinung der Behörden darüber dar, welche Art von Beziehung nicht die feierliche Begehung der Ehe verdient. Sie haben keinerlei Bezug zu den Bestimmungen des polnischen Familien- und Sorgerechtsgesetzes, die die Ausübung des Rechts auf Eheschließung regeln und die Gründe für die Verweigerung der Eheerlaubnis aufzählen.

Der GH akzeptiert, dass die Gefängnisbehörden die Erlaubnis von den Bedingungen, unter denen die Hochzeit stattfinden soll, abhängig machen durften, insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen der Sicherheit und der Vermeidung von Unordnung. Allerdings sieht der GH keine Gründe dafür, dass sie die Tiefe der Gefühle des Bf. bewerten, die Qualität seiner Beziehung beurteilen und die Entscheidung zu heiraten bloß wegen der Umstände kritisieren, unter denen er seine künftige Ehefrau kennengelernt hat.

Zweifellos sind Strafanstalten kein typischer Ort für das Kennenlernen künftiger Partner, doch macht das Faktum, dass beide inhaftiert waren, die Beziehung nicht automatisch zu einer illegalen und oberflächlichen Beziehung. Die Partnerwahl und die Entscheidung zu heiraten, in Freiheit wie auch im Gefängnis, ist eine private und persönliche Angelegenheit. Abgesehen von überwiegenden Sicherheitserwägungen und um zu gewährleisten, dass das Recht auf Eheschließung in Übereinstimmung mit den Gesetzen ausgeübt wird, ist es den Behörden nach Art. 12 EMRK nicht erlaubt, in die Entscheidung eines Gefangenen einzugreifen, eine eheliche Beziehung mit der Person seiner Wahl einzugehen.

Das Eingehen einer rechtlichen Bindung von Mann und Frau ist Kerngehalt des Rechts auf Eheschließung. Im vorliegenden Fall war der einzige Grund, warum der Bf. unfähig war zu heiraten, nicht seine Untauglichkeit aufgrund gesetzlicher Hindernisse im polnischen Recht, sondern der Umstand, dass die Behörden seine Entscheidung zu heiraten bestritten und ihm die Erlaubnis verweigerten, die nötige Zeremonie im Gefängnis durchzuführen. Die Verweigerung hatte dieselben Konsequenzen wie ein effektives gesetzliches Hindernis, das durch Art. 12 EMRK gewährte Recht auszuüben. Dies kann nicht durch irgendein denkbares von den Behörden verfolgtes legitimes Ziel gerechtfertigt werden.

Der GH weist das Argument der Regierung zurück, dass das Recht, im Gefängnis zu heiraten, schlussendlich gewährt wurde und sie jedenfalls nach der Haftentlassung heiraten könnten. Eine Verzögerug der Eheschließung volljähriger Personen, welche die übrigen Ehevoraussetzungen erfüllen, kann nach Art. 12 EMRK nicht als gerechtfertigt betrachtet werden.

Die Verletzung der Konvention wurde im vorliegenden Fall durch das Fehlen eines fairen und verhältnismäßigen Ausgleichs zwischen öffentlichen und individuellen Interessen, die auf dem Spiel standen, verursacht. Aufgrund dessen beeinträchtigt die angewandte Maßnahme den Wesensgehalt des Rechts auf Eheschließung. Demzufolge stellt der GH eine Verletzung von Art. 12 EMRK fest (einstimmig).

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK

Der Bf. bringt vor, dass er die Verweigerung der Erlaubnis zu heiraten nicht anfechten konnte.

1. Zulässigkeit

Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK. Da die Beschwerde auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. In der Sache selbst

Art. 13 EMRK gewährleistet die Verfügbarkeit eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs, um die Konventionsrechte und Freiheiten auf nationaler Ebene durchzusetzen.

Angesichts der festgestellten Verletzung von Art. 12 ist die Behauptung einer Konventionsverletzung ohne Zweifel iSv. Art. 13 EMRK vertretbar.

Es ist wahr, dass dem Gefangenen schließlich fünf Monate nach dem Antrag die Erlaubnis erteilt wurde und dass er die anfängliche Ablehnung beim Strafvollzugsgericht anfechten konnte, was er auch tat. Allerdings vergingen fünf Monate bis zu dieser Entscheidung und über sein Rechtsmittel wurde nicht entschieden, bevor die Gefängnisbehörden schließlich ihre ursprüngliche Entscheidung änderten und die Beschwerde gegenstandslos wurde. Dieser Rechtsbehelf bot dem Bf. daher keine wirksame Abhilfe.

Aufgrund der Verzögerung hatte das Verfahren keine bedeutsamen Konsequenzen für das vom Bf. geltend gemachte Recht. Die nachträgliche Erlaubnis, eine Ehe abzuschließen, kann nicht als die von Art. 13 EMRK geforderte Wiedergutmachung angesehen werden. Da die Rechtsbehelfe somit nicht wirksam waren, weist der GH die Einrede der Regierung zurück und stellt eine Verletzung von Art. 13 EMRK fest (einstimmig).

III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 12 EMRK:

Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet im Sinne des Art. 35 Abs. 3 EMRK. Da die Beschwerde auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Angesichts der Feststellungen unter Art. 12 ist eine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK nicht erforderlich (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 1.000,– für immateriellen Schaden, € 1.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig)..

Vom GH zitierte Judikatur:

Hamer/GB v. 13.10.1977 (ZE).

Hirst/GB v. 30.3.2004 = NL 2004, 73.

B. und L./GB v. 13.9.2005 = NL 2005, 227.

Hirst/GB (Nr. 2) v. 6.10.2005 = NL 2005, 236.

Dickson/GB v. 18.4.2006 = NL 2006, 92.

Frasik/PL v. 5.1.2010.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 5.1.2010, Bsw. 24023/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 17) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_01/Jaremowicz.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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