JudikaturJustizBsw18015/03

Bsw18015/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
26. Juli 2007

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Schutte gegen Österreich, Urteil vom 26.7.2007, Bsw. 18015/03.

Spruch

Art. 6 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 4 7. Prot. EMRK - Ne bis in idem im Straf- und Verwaltungsstrafverfahren.

Verletzung von Art. 6 EMRK (6:1 Stimmen).

Verletzung von Art. 13 EMRK (6:1 Stimmen).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung

von Art. 4 7. Prot. EMRK (mehrheitlich).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.000,– für immateriellen Schaden, € 2.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am Morgen des 5.10.1997 fuhr der Bf. mit seinem Auto durch ein Dorf und ignorierte dabei die Aufforderung der Polizei anzuhalten. Die Polizisten, die dem Bf. mit rotem Licht ein Zeichen gaben, mussten sogar ausweichen, um nicht vom Auto des Bf. überrollt zu werden. Daraufhin wurde der Bf. am 21.11.1997 von der Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt gemäß § 269 Abs. 1 StGB angeklagt, weil er die Polizisten am Durchführen einer Verkehrskontrolle gehindert hatte, indem er mit dem Auto auf sie zufuhr und sie so mit Gewalt bedrohte.

Am 12.12.1997 sprach das LG Ried im Innkreis den Bf. frei, mangels Berufung wurde das Urteil rechtskräftig.

Am 29.1.1998 erhielt der Bf. ein Schreiben der BH Braunau, in dem ihm ein Verstoß gegen die in § 97 Abs. 5 StVO normierte Verpflichtung, auf Aufforderung eines Organs der Straßenaufsicht anzuhalten, angelastet wurde. Der Bf. brachte zu seiner Verteidigung vor, dass in derselben Sache bereits ein Gericht entschieden hätte und die Durchführung eines Verwaltungsstrafverfahrens somit Art. 4 7. Prot. EMRK zuwiderlaufe.

Am 11.3.1998 sprach die BH in einem Straferkenntnis aus, dass der Bf. gemäß § 97 Abs. 5 iVm. § 99 Abs. 3a StVO eine Verwaltungsübertretung begangen habe und verhängte eine Geldstrafe von ATS 4.000,– (ca. € 290,–).

Der UVS Oberösterreich wies die Berufung des Bf. am 15.12.1998 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Der UVS ließ das Argument des Bf. nicht gelten, seine Bestrafung nach der StVO verletze den Grundsatz des ne bis in idem. § 97 Abs. 5 StVO beinhalte lediglich die Vorschrift, den Aufforderungen der Polizei Folge zu leisten, während § 269 Abs. 1 StGB die Verhinderung einer Amtshandlung durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt unter Strafe stelle. Daher sei das Gerichtsverfahren nach § 269 StGB nicht unvereinbar mit der Verfolgung der Verwaltungsübertretung nach § 97 Abs. 5 StVO.

Die vom Bf. erhobene Beschwerde an den VfGH wurde am 19.6.2000 als unbegründet abgewiesen. Nach Ansicht des VfGH lag ein Fall der Idealkonkurrenz vor, die an sich nicht unvereinbar mit Art. 4

7. Prot. EMRK sei.

Der VfGH verwies die Angelegenheit dann an den VwGH, der die Behandlung der Beschwerde nach § 33a VwGG ebenfalls ablehnte, weil die Strafe den Betrag von € 726,– nicht überstieg und der Fall keine Rechtsfrage von besonderer Bedeutung betraf.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer), Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) und von Art. 4 7. Prot. EMRK (Doppelbestrafungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:

Der Bf. bringt vor, dass die Länge des Verwaltungsstrafverfahrens nach der StVO nicht vereinbar mit dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer nach Art. 6 EMRK sei.

Der zu berücksichtigende Zeitraum erstreckt sich von der Einleitung des Verwaltungsstrafverfahrens am 29.1.1998 bis zur Zustellung der Entscheidung des VwGH am 31.1.2003.

Da die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet gemäß Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (mehrheitlich).

Der GH führt zunächst aus, dass bei der Beurteilung der Verfahrensdauer insbesondere die Komplexität des Falles und das Verhalten des Bf. und der Behörden zu berücksichtigen sind. Der vorliegende Fall betraf keinen komplexen Sachverhalt. Die von der Regierung vorgebrachte Komplexität der betroffenen Rechtsfragen mag zwar die Dauer des Verfahrens vor dem VfGH erklären, rechtfertigt aber keinesfalls die Verzögerungen vor dem VwGH, der insgesamt zwei Jahre, nämlich zwischen 8.11.2000 bis 11.4.2002 und abermals von

23.5. bis 20.12.2002, inaktiv blieb. Der Bf. leistete keinen Beitrag zur Dauer des Verfahrens.

Der GH hat bereits wiederholt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK in ähnlich gelagerten Fällen festgestellt. Da die Regierung keine Argumente vorgebracht hat, die im vorliegenden Fall eine andere Schlussfolgerung rechtfertigen würden, erachtet der GH die Länge des Verfahrens als exzessiv und stellt daher eine Verletzung von Art. 6 EMRK fest (6:1 Stimmen).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK:

Der Bf. beschwert sich über das Fehlen eines Rechtsmittels gegen die

überlange Dauer des Verwaltungsstrafverfahrens.

Der GH hält die Beschwerde nicht für offensichtlich unbegründet gemäß Art. 35 Abs. 3 EMRK. Da sie auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (mehrheitlich). Der GH hält fest, dass Art. 13 EMRK ein effektives Rechtsmittel vor einem nationalen Gericht gegen die überlange Verfahrensdauer garantiert. Nach der Rechtsprechung des GH gelten als effektive Rechtsmittel solche, die eine (andauernde) Verletzung verhindern oder adäquate Entschädigung für bereits erfolgte Verletzungen bieten. Der GH sieht die primäre Pflicht eines Staates darin, ein Justizsystem zu schaffen, dessen Verfahren in Zivil- und Strafsachen, einschließlich der Verfahren vor den Höchstgerichten, innerhalb einer angemessenen Zeit erledigt werden. Was die Form der Rechtsmittel gegen die überlange Verfahrensdauer betrifft, steht es den Staaten frei, ob sie ein präventiv oder kompensatorisch ausgerichtetes Rechtsmittel schaffen. Darüber hinaus sind auch die Modalitäten zur Ausübung dieser Rechtsmittel Sache der Staaten, denen letztendlich ein weiter Spielraum offen steht, um die Anforderungen des Art. 13 EMRK zu erfüllen.

Das vorliegende Verfahren widerspricht dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer nach Art. 6 EMRK, insbesondere während der Anhängigkeit vor dem VwGH. Da die Regierung nicht vorbringen konnte, dass hinsichtlich dieser Verzögerungen oder der gesamten Dauer ein effektives Rechtsmittel, das entweder kompensatorisch oder präventiv gewesen wäre, zur Verfügung gestanden hätte, liegt eine Verletzung von Art. 13 EMRK vor (6:1 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Malinverni, gefolgt von den Richtern Rozakis und Jebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK:

Der Bf. bringt vor, dass seine Verurteilung gemäß § 97 Abs. 5 StVO im Anschluss an seinen Freispruch nach § 269 StGB den Art. 4 7. Prot. EMRK verletze.

In den Fällen Gradinger/A und Oliveira/CH stellte der GH fest, dass die bloße Tatsache, dass eine Handlung mehr als einen Straftatbestand erfüllt, nicht Art. 4 7. Prot. EMRK zuwiderläuft. Im Falle der Verfolgung von mehreren Straftatbeständen, die jedoch auf derselben Handlung beruhen, hat der GH zu prüfen, ob die Straftatbestände letztendlich dieselbe Sache betreffen, oder ob sie sich in ihren wesentlichen Elementen unterscheiden.

Im vorliegenden Fall schließt sich der GH nach Überprüfung der zwei Straftatbestände der Ansicht der nationalen Gerichte an: § 97 Abs. 5 StVO beinhaltet lediglich die Vorschrift, den Aufforderungen der Polizei Folge zu leisten, während § 269 Abs. 1 StGB die Verhinderung einer Amtshandlung durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt unter Strafe stellt.

Aus diesem Grund sieht der GH im vorliegenden Fall keine Bestrafung in derselben Sache und daher keine Verletzung des Doppelbestrafungsverbots gemäß Art. 4 7.Prot. EMRK. Die Beschwerde ist daher als offensichtlich unbegründet gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (mehrheitlich).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 1.000,– für immateriellen Schaden, € 2.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Gradinger/A v. 23.10.1995, A/328-C, NL 1995, 195; ÖJZ 1995, 954. Oliveira/CH v. 30.7.1998, NL 1998, 142; ÖJZ 1999, 77. Kudla/PL v. 26.10.2000, NL 2000, 219; EuGRZ 2004, 484; ÖJZ 2001, 908. Franz Fischer/A v. 29.5.2001, NL 2001, 112; ÖJZ 2001, 657. Hauser-Sporn/A v. 7.12.2006, NL 2006, 305; ÖJZ 2007, 511.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.7.2007, Bsw. 18015/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 197) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/07_4/Schutte.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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