JudikaturJustizBsw16574/08

Bsw16574/08 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
07. Februar 2013

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Fabris gg. Frankreich, Urteil vom 7.2.2013, Bsw. 16574/08.

Spruch

Art. 14 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK - Diskriminierung unehelicher Kinder im Erbrecht.

Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der Beschwerde unter Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Feststellung, dass die Frage der Entschädigung nach Art. 41 EMRK noch nicht entscheidungsreif ist (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde 1943 unehelich geboren. Zu diesem Zeitpunkt war seine Mutter verheiratet. 1970 ließen Letztere und ihr Gatte eine Vermögensübertragung unter Lebenden auf ihre beiden ehelichen Kinder notariell beglaubigen. Bei der Unterzeichnung des Notariatsakts erklärten sie, die beiden wären ihre einzigen Nachkommen.

Mit Beschluss vom 24.11.1983 wurde der Status des Bf. als uneheliches Kind seiner Mutter vom Zivilgericht Montpellier bestätigt. Er beabsichtigte, die besagte Vermögensübertragung anzufechten, jedoch informierte ihn sein Anwalt darüber, dass eine Klage gemäß Art. 1077 des Code civil (Anfechtung von Vermögensübertragungen unter Lebenden) erst innerhalb von fünf Jahren nach dem Ableben des Erblassers möglich sei.

Die Mutter des Bf. verstarb im Juli 1994. Der Nachlassverwalter setzte ihn daraufhin in Kenntnis, dass er als außerehelich gezeugtes Kind Anspruch auf lediglich die Hälfte des Anteils eines ehelichen Kindes haben würde.

Am 7.1.1998 brachte der Bf. gegen seine beiden Halbgeschwister eine Klage ein, mit der er die Vermögensübertragung unter Lebenden anfocht, gleichzeitig beanspruchte er einen gleichwertigen Anteil am Vermögen.

Nach dem Urteil des EGMR im Fall Mazurek/F verabschiedete der französische Gesetzgeber das Gesetz Nr. 1135 vom 3.12.2001, mit dem außerehelich geborenen Kindern dieselben Erbrechte wie ehelichen Kindern eingeräumt wurden. Die Übergangsbestimmungen sahen vor, dass die neue Regelung – vorbehaltlich einer vorherigen Vereinbarung zwischen den Streitparteien oder eines rechtskräftigen Urteils – auf Nachlässe Anwendung finden würde, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Gesetzes im Bundesgesetzblatt (4.12.2001) bereits eröffnet worden waren und bei denen es noch zu keiner Vermögensaufteilung gekommen war.

Mit Schriftsatz vom 20.2.2003 brachte der Bf. vor, das Gesetz Nr. 1135 setze § 14 des Abstammungsgesetzes 1972 außer Kraft – eine Übergangsbestimmung, derzufolge die Rechte der Erben auf einen »reservierten« Anteil des Vermögens nicht zum Nachteil einer vor Inkrafttreten dieses Gesetzes erfolgten Vermögensübertragung unter Lebenden ausgeübt werden könnten.  Er sei daher zu einer Anfechtung ungeachtet der Tatsache berechtigt, dass der betreffende Notariatsakt bereits Anfang 1970 unterzeichnet worden war.

Mit Urteil vom 6.9.2004 gab das Zivilgericht Béziers der Klage des Bf. mit der Begründung statt, § 14 des Abstammungsgesetzes 1972 würde gegen das Gesetz Nr. 1135 sowie gegen die Art. 8 und 14 EMRK verstoßen. Im vorliegenden Fall sei es noch zu keiner Aufteilung des Vermögens der Mutter gekommen, sodass die neue Regelung Anwendung finde; abgesehen davon könne dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, an einer Bestimmung festhalten zu wollen, die dem Geist und den Zielen des neuen Gesetzes klar widerspreche.

In der Folge fochten die Halbgeschwister des Bf. das Urteil an. Am 14.2.2006 hob das Gericht zweiter Instanz es auf, da der Bf. zu einer Anfechtung nicht berechtigt gewesen wäre, hätte die Aufteilung des Vermögens doch vor dem Inkrafttreten des Abstammungsgesetzes 1972 stattgefunden. Von einer (stillschweigenden) Außerkraftsetzung von § 14 durch das Gesetz Nr. 1135 könne nicht ausgegangen werden, weil beide Gesetze miteinander im Einklang stehen würden und die gegenständliche Regelung ein legitimes Ziel verfolge, nämlich die Gewährleistung von friedlichen Familienbeziehungen im Wege der Sicherstellung von erworbenen Rechten.

Der Cour de cassation wies die dagegen erhobene Beschwerde des Bf. mit dem Hinweis ab, gemäß den Übergangsbestimmungen des Gesetzes Nr. 1135 seien die neuen Erbrechte von außerehelichen Kindern nur auf Erbmassen anwendbar, die bereits eröffnet und vor dem 4.12.2001 noch nicht aufgeteilt worden seien. Da eine Aufteilung des Vermögens durch den Tod der Mutter des Bf. im Jahr 1994 schlagend geworden sei, könnte die neue Regelung nicht auf ihn Anwendung finden.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), jeweils iVm. Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK

Der Bf. bringt vor, es sei ihm als außereheliches Kind ungeachtet des Urteils des GH im Fall Mazurek/F bzw. des Gesetzes Nr. 1135 unmöglich gewesen, sein Erbrecht geltend zu machen.

Zur Anwendbarkeit von Art. 1 1. Prot. EMRK

Im vorliegenden Fall wurde dem Bf. lediglich wegen seines Status als außereheliches Kind die Anfechtung der Vermögensübertragung unter Lebenden versagt. Es war auch sein Status, auf den sich der Cour de cassation berief, als er die im Gesetz Nr. 1135 enthaltenen Übergangsbestimmungen derart auslegte, dass eine Anwendung der neuen Erbrechtsregelung auf seinen Fall nicht in Frage komme. In Beschwerden wie der vorliegenden,wo einem Bf. ein Vermögensgegenstand aus einem angeblich diskriminierenden Grund vorenthalten wurde, ist zu prüfen, ob er oder sie hinsichtlich dieses Gegenstands einen durchsetzbaren Anspruch nach innerstaatlichem Recht hatte. Dies ist hier zu bejahen.

Die Regierung legt dar, der Bf. könne für sich kein Erbrecht hinsichtlich der 1970 erfolgten Vermögensübertragung unter Lebenden beanspruchen, da diese zur sofortigen und unwiderruflichen Aufteilung des Vermögens seiner Mutter führte – und zwar bevor die Gerichte  anerkannten, dass er ein Abkömmling seiner Mutter sei.

Der GH kann sich dem nicht anschließen. Zwar hat eine Vermögensübertragung unter Lebenden die sofortige Übertragung des Eigentums zur Folge, jedoch erfolgt gemäß der Rechtsprechung des Cour de cassation eine Aufteilung des Vermögens erst beim Tod des Erblassers. Dies war im vorliegenden Fall der Juli 1994 – zu diesem Zeitpunkt war das Abstammungsverfahren bereits abgeschlossen. Es war also lediglich wegen seines Status als außereheliches Kind, dass der Bf. von der mütterlichen Erbschaft ausgeschlossen wurde. Sein vermögenswertes Interesse fällt somit in den Anwendungsbereich von Art. 1 1. Prot. EMRK. Dies reicht aus, um auch Art. 14 EMRK für anwendbar zu erklären.

In der Sache

Der GH hat bereits im Fall Marckx/B festgestellt, dass Einschränkungen des Erbrechts von Kindern aufgrund der Abstammung mit der Konvention unvereinbar sind. Auch von den Staaten des Europarats wird die Bedeutung der gleichen Behandlung von ehelichen und unehelichen Kindern allgemein anerkannt. Es müssen daher sehr gewichtige Gründe geltend gemacht werden, damit eine Unterscheidung aufgrund außerehelicher Geburt als mit der Konvention vereinbar erachtet werden kann.

Die unterschiedliche Behandlung zwischen dem Bf. und seinen Halbgeschwistern beruhte auf § 25 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 1135 vom 3.12.2001, welches die Anwendung des neuen Erbrechts von außerehelichen Kindern auf Erbfälle beschränkt, welche vor dem 4.12.2001 stattfanden und bei denen noch keine Aufteilung des Vermögens erfolgte. Der Cour de cassation legte diese Übergangsbestimmung in ständiger Rechtsprechung derart aus, dass bei Vermögensübertragungen unter Lebenden erst der Tod des Erblassers den Erbfall auslöse. Dementsprechend habe die Aufteilung des Vermögens zum Zeitpunkt des Todes der Mutter des Bf. im Jahr 1994 stattgefunden. Ein eheliches Kind, welches von diesem Rechtsgeschäft ausgeschlossen oder zum Zeitpunkt von dessen Abschluss noch nicht geboren worden war, wäre aber gemäß Art. 1077 des Code civil zu einer Beanspruchung seines Erbteils berechtigt. Der einzige Grund für die unterschiedliche Behandlung des Bf. war derjenige, dass er einer außerehelichen Geburt entstammte. Zu prüfen ist, ob dafür im innerstaatlichen Recht eine objektive und angemessene Rechtfertigung bestand.

Frankreich hat nach dem Urteil des GH im Fall Mazurek sein Erbrecht reformiert, indem es zwei Jahre später alle außereheliche Kinder diskriminierenden Bestimmungen aufhob. Laut der Regierung sei es jedoch nicht statthaft gewesen, von Dritten (hier: anderen Erben) bereits erworbene Rechte zu beseitigen – was den rückwirkenden Effekt des Gesetzes Nr. 1135 auf zum Zeitpunkt seiner Verlautbarung eröffnete Erbfälle, in denen noch keine Vermögensaufteilung erfolgt sei, rechtfertige. Zweck der Übergangsbestimmung sei es gewesen, friedliche Familienbeziehungen im Wege der Sicherstellung der Ansprüche von Begünstigten, bei denen das Erbe bereits aufgeteilt worden war, zu gewährleisten.

Der GH ist nicht davon überzeugt, dass die Verweigerung des Erbrechts von einzelnen Familienmitgliedern friedliche Beziehungen in der Familie fördert. Er akzeptiert jedoch, dass der Schutz wohlerworbener Rechte dem Interesse der Rechtssicherheit dient.

Was die Erbfolge von außerehelichen Kindern angeht, hat der Cour de cassation festgehalten, es habe bereits eine Aufteilung des Vermögens stattgefunden, sodass der Bf. von der neuen Erbrechtsregelung nicht profitieren könne. Der GH ist der Ansicht, dass diese Vorgangsweise im Einklang mit dem Prinzip der Rechtssicherheit steht. Das Anliegen, die Stabilität von bereits abgeschlossenen Erbschaftsvorkehrungen zu gewährleisten, stellt daher ein legitimes Ziel dar, das eine unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen vermag. Bleibt zu prüfen, ob diese zum verfolgten Ziel verhältnismäßig war.

Der GH hat bereits festgehalten, dass sich der Schutz berechtigter Erwartungen von Verstorbenen und ihren Familien dem Gebot der gleichen Behandlung von ehelichen und unehelichen Kindern unterzuordnen hat. Angesichts der Tatsache, dass nach dem Tod der Mutter eine fünfjährige Frist zur Anfechtung der Vermögensübertragung unter Lebenden zu laufen begann, hätten die Halbgeschwister des Bf. somit damit rechnen müssen, dass dieser ihre Ansprüche anfechten könnte, was er schließlich auch tat. Während des Gerichtsverfahrens erging das Urteil des EGMR im Fall Mazurek/F, in dem er die unterschiedliche Behandlung von Erben aufgrund der Abstammung als mit der Konvention unvereinbar einstufte. Die darin festgelegten Prinzipien wurden mit dem Gesetz Nr. 1135 vom 3.12.2001 in das französische Recht übernommen. Zudem war der Bf. seinen Halbgeschwistern nicht unbekannt. All dies reichte aus, um bei ihnen gerechtfertigte Zweifel dahingehend auszulösen, ob die Erbmasse zum Zeitpunkt des Todes der Mutter im Jahr 1994 tatsächlich auf sie übergegangen sei.

Angesichts der Tatsache, dass die Gerichtspraxis in Europa und die nationalen Gesetzesreformen eine klare Tendenz Richtung Eliminierung jeglicher Diskriminierung hinsichtlich des Erbrechts von außerehelich geborenen Kindern zeigen, ist der GH der Auffassung, dass die 1998 eingebrachte und 2007 zurückgewiesene Klage des Bf. einen gewichtigen Faktor bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der vorliegenden unterschiedlichen Behandlung darstellt. Das legitime Ziel des Schutzes der Erbansprüche seiner Halbgeschwister war somit nicht ausreichend gewichtig, um den Anspruch auf seinen Teil des mütterlichen Erbes überwiegen zu können.

Im Übrigen dürften sogar die nationalen Behörden davon ausgehen, dass die Erwartungen von Erben als Begünstigte einer Vermögensübertragung unter Lebenden nicht in jedem Fall geschützt sind. Die Klage auf Anfechtung eines derartigen Rechtsgeschäfts wäre nämlich nicht zurückgewiesen worden, wenn sie von Seiten eines ehelichen, später geborenen oder willkürlich ausgeschlossenen Kindes eingebracht worden wäre. Der GH meldet insofern Zweifel an der unterschiedlichen Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips hinsichtlich ehelicher und unehelicher Kinder durch die nationalen Gerichte an – und zwar zu einem Zeitpunkt lange nach den Urteilen in den Fällen Marckx und Mazurek. Dazu kommt, dass der Cour de cassation auf die vom Bf. aufgeworfene Frage der behaupteten Diskriminierung nicht eingegangen ist. Der GH hat bereits hervorgehoben, dass die nationalen Gerichte verpflichtet sind, Vorbringen von Bf. mit besonderer Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt zu prüfen, wenn sich diese auf die von der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten stützen.

Zwischen den verwendeten Mitteln und dem gesetzlich verfolgten Ziel bestand daher kein ausgewogenes Verhältnis. Für die unterschiedliche Behandlung des Bf. lag somit keine objektive und angemessene Rechtfertigung vor. Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richter Popovic, gefolgt von Richterin Gyulumyan, und von Richter Pinto de Albuquerque).

Freilich sind die Staaten nicht daran gehindert, Übergangsbestimmungen vorzusehen, um ihren Verpflichtungen gemäß Art. 46 EMRK nachzukommen. Zwar stellen die »Feststellungsurteile« des GH den Staaten die Wahl der Mittel zur Beseitigung von Konventionsverletzungen frei, jedoch sind sie gehalten, ähnliche wie in den Urteilen festgestellte Konventionsverletzungen zu vermeiden. Damit geht auch eine Verpflichtung der Gerichte einher, im Einklang mit der verfassungsmäßigen Ordnung und in Übereinstimmung mit dem Rechtssicherheitsprinzip den Konventionsstandards in der Auslegung durch den GH volle Geltung zu verschaffen. Dies wurde aber im gegenständlichen Fall verabsäumt.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Der Bf. bringt mit derselben Begründung wie unter Art. 1 1. Prot. EMRK eine Verletzung von Art. 8 EMRK vor.

Der GH hält eine gesonderte Erörterung dieses Beschwerdepunkts nicht für notwendig (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Frage einer gerechten Entschädigung ist noch nicht entscheidungsreif (einstimmig).

Anmerkung

Die V. Kammer hatte in ihrem Urteil vom 21.7.2011 keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK festgestellt (5:2 Stimmen). Eine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK hielt sie für nicht notwendig (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Marckx/B v. 13.6.1979 = EuGRZ 1979, 454

Mazurek/F v. 1.2.2000

Pla und Puncernau/AD v. 13.7.2004 = NL 2004, 183

Merger und Cros/F v. 22.12.2004

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.2.2013, Bsw. 16574/08 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 37) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_1/Fabris.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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