JudikaturJustiz9ObA112/05v

9ObA112/05v – OGH Entscheidung

Entscheidung
03. August 2005

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling und Dr. Hopf sowie durch die fachkundigen Laienrichter Mag. Harald Kaszanits und Franz Gansch als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Karin S*****, Verkäuferin, *****, vertreten durch Dr. Georg Grießer ua, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Amir Hossein T*****, Kaufmann, Bahnhof Ottakring, *****, vertreten durch Burghofer Pacher Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen EUR 2.631,48 brutto zuzüglich EUR 1.500 netto sA, über Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 29. März 2005, GZ 7 Ra 42/05f 25, mit dem das Urteil des Arbeits und Sozialgerichts Wien vom 15. Oktober 2004, GZ 9 Cga 57/04y 19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 333,12 (darin EUR 55,52 USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin war ab 2. 12. 2002 beim Beklagten, der Pächter einer Ankerbrot Filiale ist, als Verkäuferin angestellt. Anfang Jänner 2003 ging der Beklagte so knapp an der Klägerin vorbei, dass er an ihr streifte. Sie ging zunächst von einem Versehen aus. In weiterer Folge kam es jedoch wiederholt zu eindeutigen sexuellen Übergriffen, und zwar sowohl verbaler als auch körperlicher Art. So forderte der um 15 Jahre ältere Beklagte die damals 23 jährige Klägerin auf, sich mit ihm im Lager- und Umkleideraum hinzulegen, informierte sich über ihre Wochenendpläne, stellte Besuche bei ihr in Aussicht, erzählte von sexuellen Erlebnissen und prahlte mit der außergewöhnlichen Größe seines Penis. Er belästigte sie auch körperlich. Im Zeitraum Oktober bis November 2003 berührte er die Klägerin zumindest dreimal unsittlich, drückte sich von hinten an sie und rieb seinen Penis an ihr. Der Beklagte nutzte dabei jeweils Gelegenheiten aus, in denen sie im Geschäft unbeobachtet waren.

Die eher ruhige, schüchterne und verschlossene Klägerin war durch das Verhalten des Beklagten schockiert und außer sich. Sie gab dem Beklagten zwar deutlich zu verstehen, dass sie dieses Verhalten nicht wünsche und er damit sofort aufhören solle; manchmal war sie aber so überrascht und perplex, dass sie gar nichts zu ihm sagte. Ihr waren die Vorfälle so peinlich, dass sie es nicht wagte, ihrem Freund bzw ihrer Familie davon zu erzählen oder sich sonst jemandem anzuvertrauen. Sie sagte auch nichts zu den anderen Mitarbeitern des Beklagten, insbesondere auch nicht zu seiner Lebensgefährtin, die in derselben Filiale arbeitete. Mitte November 2003 fand die letzte sexuelle Belästigung der Klägerin durch den Beklagten statt. Gegen Ende November 2003 bemerkten ihr Freund und ihre Familie, dass die Klägerin der Situation am Arbeitsplatz psychisch nicht mehr gewachsen war. Die Klägerin erlitt am Samstag, den 29. 11. 2003, unvermittelt einen Weinkrampf und erzählte alles ihrem Freund. Es war ihr einfach zu viel geworden, sie hielt die Belästigungen des Beklagten nicht mehr länger aus. Erst jetzt realisierte sie das Ausmaß der Übergriffe des Beklagten und verstand sie als sexuelle Belästigungen. Über Anraten ihres Freunds erstattete sie am Montag, den 1. 12. 2003, Strafanzeige gegen den Beklagten und erklärte schriftlich ihren vorzeitigen Austritt aus dem Arbeitsverhältnis.

Die Klägerin begehrt mit der vorliegenden Klage, gestützt auf die Behauptung, sie sei auf Grund der sexuellen Belästigungen des Beklagten aus dem Arbeitsverhältnis vorzeitig ausgetreten, Kündigungsentschädigung, Urlaubsersatzleistung und anteilige Sonderzahlungen in der Höhe von EUR 2.631,48 brutto und als Entschädigung gemäß § 2a Abs 7 GlBG 1979 den Betrag von EUR 1.500 netto, jeweils samt Anhang.

Während der Beklagte in erster und zweiter Instanz noch das Vorliegen sexueller Belästigungen bestritten hatte, geht es im Revisionsverfahren - beide Vorinstanzen erkannten die Ansprüche der Klägerin als in vollem Umfang berechtigt - auf der Grundlage des bindend festgestellten Sachverhalts nur mehr um die Frage, ob der vorzeitige Austritt der Klägerin rechtzeitig erfolgte. Dass die Klägerin in Anbetracht der festgestellten wiederholten sexuellen Belästigungen des Beklagten grundsätzlich zum vorzeitigen Austritt aus dem Arbeitsverhältnis berechtigt war, ist nicht mehr weiter strittig. Die Rechtzeitigkeit des Austritts wurde vom Berufungsgericht ebenfalls zutreffend bejaht; es kann daher vorweg auf dessen Begründung verwiesen werden (§ 510 Abs 3 zweiter Satz ZPO). Ergänzend und zusammenfassend ist den Ausführungen des Revisionswerbers Folgendes entgegenzuhalten:

Rechtliche Beurteilung

Die Frage der Unverzüglichkeit des vorzeitigen Austritts - noch häufiger aber jene der Rechtzeitigkeit der Entlassung - hat den Obersten Gerichtshof schon wiederholt beschäftigt. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Gründe für die vorzeitige Lösung eines Arbeitsverhältnisses bei sonstiger Verwirkung des Entlassungs- oder Austrittsrechts unverzüglich, das heißt ohne schuldhaftes Zögern, geltend zu machen (vgl RIS Justiz RS0028677, RS0028687, RS0031799 ua). Dabei handelt es sich um eine Aufgriffsobliegenheit, deren Verletzung zum Untergang des Entlassungs- bzw Austrittsrechts im konkreten Fall führt (vgl Kuderna , Entlassungsrecht² 14 mwN; 9 ObA 23/99v; RIS Justiz RS0031799 ua). Reagiert ein Arbeitnehmer nicht unverzüglich auf das Vorliegen eines Austrittsgrunds, so kann dies darauf beruhen, dass er die weitere Beschäftigung nicht als unzumutbar ansieht oder auf die Ausübung des Austrittsrechts im konkreten Fall verzichtet (Schramm, Der arbeitsrechtliche Unverzüglichkeitsgrundsatz 15 ff mwN). Andererseits kann aber nicht schon aus jeder Verzögerung der Austrittserklärung auf den Verzicht des Arbeitnehmers geschlossen werden. Der Arbeitgeber ist für alle den Untergang des Austrittsrechts maßgeblichen Umstände behauptungs- und beweispflichtig. Es ist daher Sache des Arbeitgebers, einen Verzicht des Arbeitnehmers auf das Austrittsrecht zumindest implizit zu behaupten. Die bloße Anführung der Daten der Begehung des Austrittsgrunds und des Ausspruchs des Austritts genügen hiefür nicht (vgl 9 ObA 156/99b ua). Im vorliegenden Fall berief sich der Beklagte zwar auf eine Verspätung des Austritts der Klägerin (ON 18, AS 77); dass die Klägerin auf den Austritt verzichtet oder sonst jemals zum Ausdruck gebracht habe, dass ihr eine weitere Beschäftigung beim Beklagten ungeachtet seiner fortgesetzten sexuellen Belästigungen nicht unzumutbar sei, behauptete er jedoch nicht. Auch auf eine Verwirkung hat sich der Beklagte in erster Instanz nicht berufen. Soweit er versäumtes Vorbringen in der Revision nachzuholen versucht, verletzt er das Neuerungsverbot (§ 504 Abs 2 ZPO).

Der vorzeitige Austritt wegen sexueller Belästigung weist im Hinblick auf das mögliche zeitliche Auseinanderfallen von Ereignis einerseits und Wirkungen bei der belästigten Person andererseits Besonderheiten auf, die bisher noch nicht Gegenstand einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs waren. Diese Besonderheiten beschränken sich nicht auf den gegenständlichen Fall, sondern sind bei sexueller Belästigung häufig anzutreffen. Hierauf hat auch der Gesetzgeber im Jahr 2004 reagiert, worauf noch einzugehen sein wird. Die Revision wurde daher vom Berufungsgericht zu Recht zugelassen (§ 502 Abs 1 ZPO).

Der Revisionswerber stützt sein Rechtsmittel vor allem auf die Entscheidung 9 ObA 319/89, in der vom Obersten Gerichtshof die Rechtzeitigkeit eines vorzeitigen Austritts verneint worden sei, bei dem zwischen dem auslösenden Ereignis und der Austrittserklärung sechs Tage gelegen seien. Es sei nicht nachvollziehbar, warum in der vorliegenden Rechtssache ein anderer zeitlicher Maßstab Anwendung finden solle.

Richtig ist, dass die Obliegenheit der unverzüglichen Geltendmachung eines Austrittsgrunds auch für den vorzeitigen Austritt wegen sexueller Belästigung gilt. Sie darf jedoch (wie auch sonst) nicht überspannt werden, sondern bedarf verständnisvoller Anwendung, sollen nicht wie das Berufungsgericht zutreffend hervorhob gerade jene sexuell Belästigten die Austrittsmöglichkeit verlieren, die durch die Belästigung besonders betroffen und gleichsam paralysiert sind, sodass sie nicht sofort mit einer Austrittserklärung reagieren können. Aus dem vom Revisionswerber zitierten Fall 9 ObA 319/89 ist für seinen Standpunkt nichts zu gewinnen. Abgesehen davon, dass das dort dem Austritt zugrundegelegte Verhalten nicht bloß sechs Tage, sondern bereits mehrere Wochen zurücklag und abgeschlossen war, ist es mit dem vorliegenden Fall überhaupt nicht vergleichbar. Der Revisionswerber verkennt sichtlich die Auswirkungen sexueller Belästigung im Allgemeinen und vernachlässigt sie im Besonderen. Sexuelle Belästigung liegt nach dem hier noch anzuwendenden § 2 Abs 1b GlBG 1979 (idF vor der Novelle BGBl 2004/66) vor, wenn ein der sexuellen Sphäre zugehöriges Verhalten gesetzt wird, das die Würde einer Person beeinträchtigt, das für die betroffene Person unerwünscht, unangebracht oder anstößig ist und eine einschüchternde, feindselige oder demütigende Arbeitsumwelt für die betroffene Person schafft. Schutzobjekt ist die Willensfreiheit und Selbstbestimmung eines Menschen bezüglich seiner Geschlechtssphäre ( Eichinger , Rechtsfragen zum Gleichbehandlungsgesetz: Mittelbare Diskriminierung - sexuelle Belästigung - Beweislastverteilung 96 ff; dies, DRdA 2000/7, 53). Sexuelle Belästigung verletzt die Menschenwürde; sie ist daher inakzeptabel (9 ObA 292/99b = DRdA 2001/15 [ Smutny ]; 9 ObA 143/03z ua). Es handelt sich um Gewaltakte in dem Sinn, dass es von den Betroffenen nicht erwünschte Handlungen sind, die ihre Persönlichkeitsgrenzen und ihre Selbstbestimmung nicht achten (9 ObA 64/04h ua). Darunter fallen Handlungen, die geeignet sind, die soziale Wertschätzung der Betroffenen durch Verletzung ihrer Intimsphäre und der sexuellen Integrität im Betrieb herabzusetzen und deren Ehrgefühl grob zu verletzen (9 ObA 319/00b = DRdA 2001/16 [ Smutny ] ua). Körperliche Kontakte gegen den Willen der Betroffenen ("Begrapschen") überschreiten im Allgemeinen die Toleranzgrenze (9 ObA 292/99b ua). Durch die sexuellen Übergriffe entsteht ein belastendes Arbeitsklima, das die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen nachhaltig beeinträchtigt. Sie fühlen sich in ihrer Bewegungsfreiheit am Arbeitsplatz eingeschränkt und stehen unter permanenter Anspannung ( Beermann/Meschkutat , Psychosoziale Faktoren am Arbeitsplatz unter Berücksichtigung von Stress und Belästigung 25; Smutny/Mayr , GlBG 319 ff; 9 ObA 64/04h ua). Die meisten Betroffenen - überwiegend Frauen - erleben sich ohnmächtig und hilflos einer Situation ausgeliefert, wo es für sie keine befriedigende Reaktionsmöglichkeit gibt. Sie fühlen sich gedemütigt, verletzt und erniedrigt ( Holzbecher/Braszeit/Müller/Plogstedt , Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz 71). Sexuelle Belästigungen betreffen den Intimbereich, erzeugen bei den Betroffenen meist Scham und Peinlichkeit. Die meisten Frauen versuchen, die Situation ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Sie wählen defensive Formen der Gegenwehr, die das Problem nicht benennen, und versuchen vielfach, die Belästigungen zu ignorieren und sich ihre Betroffenheit nicht anmerken zu lassen. Viele antizipieren, dass sie bei offensiver Gegenwehr mit zusätzlichen negativen Konsequenzen rechnen müssen ( Beermann/Meschkutat aaO 26).

Diese Wirkungen traten auch hier ein. Einerseits war die Klägerin, wie bereits ausgeführt, durch das Verhalten des Beklagten schockiert und außer sich, andererseits manchmal so überrascht und perplex, dass sie gar nichts sagte. Obwohl sie dem Beklagten zu verstehen gab, dass sie dieses Verhalten nicht wünsche, ließ er nicht von ihr ab und belästigte sie immer wieder aufs Neue. Der Klägerin waren die Vorfälle so peinlich, dass sie es für längere Zeit nicht wagte, jemandem davon zu erzählen. Erst zwei Wochen nach der letzten Belästigung Mitte November 2003 erlitt die Klägerin am Wochenende einen Weinkrampf, weil sie der Situation am Arbeitsplatz psychisch nicht mehr gewachsen war. Sie hielt die Belästigungen des Beklagten nicht mehr länger aus und realisierte erst jetzt das Ausmaß der Übergriffe des Beklagten und verstand sie als sexuelle Belästigungen. Diese psychische Ausnahmesituation der Klägerin ist bei der Beurteilung der Rechtzeitigkeit ihres Austritts zu berücksichtigen (vgl 9 ObA 50/94). Die von sexueller Belästigung Betroffenen sind - wie die Klägerin häufig erst nach längerer Zeit in der Lage, sich zu artikulieren. Von dieser Erfahrungstatsache ließ sich auch der Gesetzgeber im Zug der Novellierung des GlBG im Jahr 2004 (BGBl 2004/66) leiten, als er die Frist für die Geltendmachung von Ansprüchen aus sexueller Belästigung von vormals sechs (§ 10b Abs 1 GlBG 1979) auf 12 Monate (§ 15 Abs 1 GlBG 2004) verdoppelte (AB 499 BlgNR 22. GP 3; Hopf , Belästigung in der Arbeitswelt, in FS Bauer/Maier/Petrag 147 [168] ua). Weiters ist zu beachten, dass den Austrittsgründen gemein ist, dass sie derart schwer wiegender Natur sind, dass die weitere Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses nicht einmal für die Dauer der Kündigungsfrist zumutbar ist ( Löschnigg , Arbeitsrecht10 514, 554; 9 ObA 115/02f ua). Dies war auch im vorliegenden Austrittsfall so. Die Unzumutbarkeit der weiteren Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses manifestierte sich jedoch bei der Klägerin nicht schon mit der Belästigungshandlung des Beklagten Mitte November 2003, sondern erst etwa zwei Wochen später am Samstag, den 29. 11. 2003, als die Klägerin zuhause im Anschluss an einen am Wochenende erlittenen Weinkrampf realisierte, dass sie es am Arbeitsplatz nicht mehr länger aushält. Der am darauf folgenden Montag, zwei Tage später erfolgte Austritt geschah demnach entgegen der Auffassung des Revisionswerbers ohne Verzug. Die Vorinstanzen haben dem Klagebegehren zutreffend Berechtigung zuerkannt. Der unbegründeten Revision des Beklagten muss ein Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 2 ASGG, 50 Abs 1, 41 Abs 1 ZPO.

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