JudikaturJustiz8Ob140/22d

8Ob140/22d – OGH Entscheidung

Entscheidung
17. November 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann Prentner und Mag. Korn sowie die Hofräte Dr. Stefula und Dr. Thunhart als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei DDr. S* B*, vertreten durch Prutsch Partner Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei L*, vertreten durch Steßl und Kasper Rechtsanwälte GmbH in Graz, wegen Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 27. Juli 2022, GZ 16 R 18/22t 55, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Eisenstadt vom 29. November 2021, GZ 27 Cg 39/20h 51, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 2.040,48 EUR (darin 340,08 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Die beklagte Partei ist die gesetzliche Standesvertretung der Zahnärzte im Burgenland. Zu ihren Aufgabengebieten gehört die Mitwirkung an der Vergabe von Kassenplanstellen durch den Krankenversicherungsträger (BGKK) an die jeweiligen Zahnärzte.

[2] Der Kläger ist Zahnarzt. Er bewarb sich um eine ausgeschriebene, ab 1. 10. 2017 zu besetzende Kassenplanstelle. Davor hatte diese Kassenplanstelle sein Vater inne, dem sie aufgrund von Differenzen von der BGKK entzogen worden war.

[3] Im Verfahren zur Vergabe der Kassenplanstelle galten die Richtlinien der Reihungskriterien Verordnung BGBl II 487/2002.

[4] Der Kläger übersandte seine Bewerbung am 19. 7. 2017 per E Mail an die Beklagte, sein einziger Mitbewerber tat dies am 24. 7. 2017. Die nachträglich von der Beklagten von den Bewerbern geforderte Bestätigung einer Berufshaftpflichtversicherung langte für den Kläger am 9. 8. und für den Mitbewerber am 10. 8. 2017 ein.

[5] Die Beklagte übermittelte einen Besetzungsvorschlag an die BGKK, in dem der Kläger vor seinem Mitbewerber erstgereiht war. Die BGKK erstattete einen Gegenvorschlag, in dem der Mitbewerber vorgereiht wurde. Als Begründung führte sie an, der Mitbewerber hätte bei richtiger Vorgangsweise früher in die Bewerberliste aufgenommen werden und daraus folgend eine höhere Punktezahl erhalten müssen. Die Beklagte erklärte sich „nach nochmaliger genauer Prüfung der eingegangenen Bewerbungsunterlagen“ mit diesem Gegenvorschlag einverstanden, sodass der Mitbewerber die angestrebte Kassenplanstelle erlangte.

[6] Auf drei andere ausgeschriebene Kassenplanstellen in nahe gelegenen Orten bewarb sich der Kläger in der Folge – einmal trotz ausdrücklicher Einladung – nicht. Hätte er sich beworben, wäre er unstrittig zum Zug gekommen.

[7] Mit seiner Klage begehrt er die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle zukünftigen und derzeit nicht bezifferbaren Nachteile, die ihm aufgrund des Nichtabschlusses eines Einzelvertrags entstehen.

[8] Die Beklagte habe ihn rechtswidrig und schuldhaft durch fehlerhafte Information an den Krankenversicherungsträger am Erlangen der Kassenplanstelle gehindert, die er bei richtlinienkonformer Reihung erhalten hätte. Er hätte diesfalls die Ordination seines Vaters samt Einrichtung unentgeltlich übernehmen und ohne größere Investitionen weiter betreiben können. Den meisten Patienten seines Vaters sei er persönlich bekannt und sie hätten besonderes Vertrauen zu ihm. Die Übernahme eines fremden Ordinationsbetriebs wäre mit hohen Kosten und weniger günstigen Aussichten, den Patientenstock des Vorgängers halten zu können, verbunden gewesen, weshalb er sich um die anderen Kassenplanstellen nicht beworben habe.

[9] Die Beklagte wandte – zusammengefasst und soweit im Revisionsverfahren noch von Bedeutung – ein, dem Kläger sei kein ersatzfähiger Schaden entstanden oder künftig zu erwarten. Es fehle ihm ein berechtigtes Feststellungsinteresse.

[10] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren im zweiten Rechtsgang statt. Es vertrat die Rechtsansicht, die Beklagte habe einer sachlich unrichtigen Anwendung der Reihungskriterien zugestimmt und damit gegenüber dem Kläger rechtswidrig und schuldhaft gehandelt. Es sei nicht auszuschließen, dass er auf einer der anderen ausgeschriebenen Kassenplanstellen weniger Patienten übernehmen hätte können als bei der Übernahme der Ordination des Vaters. Zukünftige Schäden seien daher möglich und das Feststellungsinteresse deshalb zu bejahen.

[11] Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab.

[12] Höhe und Dauer eines aus der Verletzung von Reihungskriterien bei der Vergabe von Einzelverträgen resultierenden Schadens seien nicht unbegrenzt zuzuerkennen. Nach unterschiedlichen Lehrmeinungen sei, vergleichbar mit ähnlichen arbeitsrechtlichen Konstellationen, der Ersatzanspruch auf das Erfüllungsinteresse auf drei bis sechs Monate zu beschränken. Anderen Lehrmeinungen zufolge stehe ein Ersatzanspruch für den Zeitraum zu, bis zu dem der Arzt in einem Bewerbungsverfahren für eine andere Stelle zum Zug kommen könnte. Ein Anspruch auf die Übernahme einer bestimmten Kassenplanstelle bestehe jedenfalls nicht.

[13] Da der Kläger unstrittig mehrfach Gelegenheit gehabt hätte, in den auf den Bewerbungsvorgang folgenden Jahren eine andere Kassenplanstelle in einem nahe gelegenen Ort zu erhalten und dies nur an seinem eigenen Willensentschluss gescheitert sei, habe er die weiteren Folgen dieser Entscheidung selbst zu tragen. Damit bestehe keine Rechtsgrundlage für künftige Ersatzansprüche gegen die Beklagte, die ein Feststellungsinteresse begründen könnten.

[14] Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil zu Höhe und Zeitdauer des Schadenersatzanspruchs nach einem Fehler im Besetzungsverfahren einer ärztlichen Kassenplanstelle noch keine Judikatur des Obersten Gerichtshofs bestehe und die Bedeutung dieser Rechtsfrage über den Einzelfall hinausreiche.

[15] Die von der Beklagten beantwortete Revision des Klägers strebt erkennbar die Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils an, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[16] Die Beklagte weist in ihrer Rechtsmittelbeantwortung darauf hin, dass der Revisionsantrag sinnstörende Fehler aufweist, weil darin Geschäftszahlen angeblich angefochtener Entscheidungen genannt werden, die nicht existieren bzw mit der vorliegenden Rechtssache nichts zu tun haben. Aus der einleitenden Anfechtungserklärung im Zusammenhang mit dem übrigen Inhalt des Rechtsmittels ist das tatsächlich vom Revisionswerber Gemeinte aber mit einer für die geschäftsordnungsgemäße Behandlung noch hinreichenden Deutlichkeit zu erkennen.

Rechtliche Beurteilung

[17] Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht dargestellten Gründen zur Klarstellung der Rechtslage zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.

[18] 1. Im Revisionsverfahren ist die im zweiten Rechtsgang unbekämpft gebliebene Beurteilung, dass die Beklagte einem sachlich nicht gerechtfertigten Besetzungsvorschlag für die Vergabe des vom Kläger angestrebten Kassenvertrags zugestimmt hat, und ihm dem Grunde nach für einen dadurch erlittenen Schaden haftet (vgl Kletter/Seyfried in Sonntag [Hrsg] ASVG 14 § 343 Rz 16), nicht mehr neuerlich zu überprüfen.

[19] Gegenstand des Revisionsverfahren ist, inwiefern die vom Kläger zur Begründung seines Anspruchs vorgebrachten Nachteile einen ersatzfähigen Schaden darstellen, der – als Voraussetzung für das erhobene Feststellungsbegehren – auch in Hinkunft noch eintreten könnte.

[20] 2. Wie der Oberste Gerichtshof bereits wiederholt zum Ausdruck gebracht hat, dienen die Reihungsbestimmungen für die Vergabe eines Kassenvertrags den Interessen der Versicherten und dem Schutz der Bewerber mit dem Ziel, dass möglichst der fachlich Bestqualifizierte zum Zug kommen soll. Die Vergabe eines Kassenvertrags muss auf objektiven und nachprüfbaren Erwägungen beruhen, die transparent und sachlich gerechtfertigt sind (7 Ob 299/00x = SZ 74/129 = ZAS 2002/8 [ Schrammel ]; RIS Justiz RS0115621, auch RS0115622). Die Reihungskriterien sind im Rahmen dieser Zwecke als Schutznorm iSd § 1311 ABGB anzusehen.

[21] 3. Die Übertretung einer Schutznorm macht nur insofern für den dadurch verursachten Schaden haftbar, als durch die Schutznorm gerade dieser Schaden verhindert werden sollte und als gerade die Interessen verletzt wurden, deren Schutz im Zweckbereich der Norm liegt (RS0027553; ua Wagner in Schwimann/Kodek ABGB 4 § 1311 Rz 10). Die Verletzung anderer, außerhalb des Normzwecks gelegener Interessen begründet eine Schadenersatzpflicht nicht.

[22] Bei der Vergabe eines Kassenvertrags werden subjektive, nicht dem Ziel der Vergabe an den Best-qualifizierten dienende Auswahlkriterien in der Judikatur als unsachlich und daher unzulässig qualifiziert. Insbesondere wurde dies explizit für die Kriterien der Nachfolge innerhalb der Familie und für das Bestehen einer vorvertraglichen privatrechtlichen Einigung zwischen Bewerber und Praxisvorgänger ausgesprochen (RS0115621 [T1; T4]).

[23] Aus diesem Grund sind die vermögensrechtlichen Interessen der präsumtiven Übergeber einer Kassenpraxis an einem bestimmten Nachfolger vom Schutzbereich der Reihungskriterien ausgenommen, dürfen sie doch für die Reihung nicht maßgeblich sein (2 Ob 48/08k).

[24] Nichts anderes kann spiegelbildlich aber für den übergangenen Bewerber gelten. Bei den Richtlinien für die objektive Reihung zur Vergabe eines Kassenvertrags ist davon auszugehen, dass sie auch das Interesse des nach den Kriterien Bestqualifizierten schützen, die angestrebte selbstständige Tätigkeit als Kassenvertragsarzt zum frühest möglichen Zeitpunkt beginnen zu können. Ein finanzieller Nachteil aufgrund einer unsachlichen Verzögerung des Vertragsabschlusses wegen Verletzung der Reihungskriterien läge daher im Schutzbereich der Norm.

[25] Dieser Schutzbereich erstreckt sich aber nicht auf rein subjektive Interessen, die als solche bei der Reihung der Bewerber gerade keine Rolle spielen dürfen, etwa die Möglichkeit, eine Ordination vom Vorgänger kostenlos übernehmen oder einem Familienmitglied nachfolgen zu können.

[26] Der Kläger stützt sein Feststellungsbegehren hier ausschließlich auf mögliche Nachteile aus dem Entgang der Gelegenheit, die Ordination seines Vaters samt Patientenstock aufgrund des familiären Naheverhältnisses ohne Ablöse übernehmen zu können. Dieses Interesse an einer zufälligen wirtschaftlich günstigen Gelegenheit ist vom Schutzzweck der Reihungsrichtlinien nicht umfasst.

[27] Eine über den Verstoß gegen die Richtlinien hinausgehend arglistige Handlungsweise der Beklagten iSd § 1295 ABGB wurde vom Revisionswerber nicht geltend gemacht.

[28] 4. Allgemein wird außerdem die Zurechnung von Schadensfolgen nach der Rechtsprechung insoweit begrenzt, als sie auf einem selbstständigen, durch den haftungsbegründenden Vorfall nicht herausgeforderten Entschluss des Geschädigten selbst beruhen, der sie insofern auch allein zu verantworten hat (RS0022912 [T1, T2]).

[29] Umgelegt auf den Fall eines bei einer Kassenvertragsvergabe zu Unrecht übergangenen Arztes endet daher, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, der von der Ersatzpflicht der Beklagten umfasste Schadenszeitraum spätestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der Kläger eine der anderen, nach den Feststellungen zumutbaren vergleichbaren Kassenplanstellen erlangen hätte können, wäre er nicht aus eigenem Entschluss von einer Bewerbung abgestanden (idS auch Resch , Die Auswahl der Vertragspartner durch den Versicherungsträger, in Jabornegg/Resch/Seewald , Der Vertragsarzt im Spannungsfeld [1999], 160, 169). Die in der Lehre vertretene Ansicht, dass der Schadenersatzzeitraum abstrakt mit drei oder sechs Monaten zu begrenzen wäre (vgl Mosler in Mosler [Hrsg] , Ärztliches und Nichtärztliches Vertragspartnerrecht [2023] 272 f) bedarf beim vorliegenden Sachverhalt mangels Entscheidungsrelevanz keiner näheren Erörterung.

[30] 5. Ansprüche für den lange vor Schluss der mündlichen Streitverhandlung erster Instanz gelegenen Zeitraum, bis zu dem der Kläger im Falle seiner Bewerbung eine andere Kassenplanstelle erlangt hätte, wären bereits berechenbar bzw – soweit sie sich aus dem Entgang theoretischer Verdienstmöglichkeiten ergeben – allenfalls unter Anwendung des § 273 ZPO bezifferbar. Es wäre daher eine Leistungsklage möglich gewesen. Ein darüber hinausgehendes Feststellungsinteresse für die Vergangenheit hat das Berufungsgericht nach dem maßgeblichen Sachverhalt ohne Rechtsirrtum verneint.

[31] Künftige Schäden, die noch in den Haftungsbereich fallen könnten, wurden nicht nachvollziehbar dargestellt.

[32] 6. Der Revision war daher keine Folge zu geben.

[33] Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 42, 50 ZPO.

Rechtssätze
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