JudikaturJustiz5Ob539/94

5Ob539/94 – OGH Entscheidung

Entscheidung
03. August 1994

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schwarz, Dr.Flossmann, Dr.Adamovic und Dr.Baumann als weitere Richter in der Pflegschaftssache des Mj.Michael S*****, geboren am 30.September 1976, infolge Revisionsrekurses seiner Mutter, Roswitha S*****, vertreten durch DDDr.Dieter Kindel, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 13. April 1994, GZ 47 R 930/93-299, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Fünfhaus vom 15.November 1993, GZ 1 P 225/87-291, in Ansehung der nunmehrigen Rechtsmittelwerberin bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Mit Beschluß des Erstgerichtes vom 19.Juni 1991 (ON 269) wurden die dem Mj.Michael S***** gewährten, an seine Mutter auszuzahlenden (ON 237) Unterhaltsvorschüsse ab 1.Jänner 1990 auf monatlich S 3.200 erhöht. Durch die am 9.August 1993 verfügte Herabsetzung der Vorschußleistungen auf S 600 monatlich für die Zeit vom 1.September 1991 bis zum 31.Dezember 1991 und auf S 900 für die Zeit vom 1.Jänner 1992 bis zum 31.August 1992 sowie die gänzliche Einstellung der Bevorschussung mit Ende August 1992 kam es in der Zeit vom 1. September 1991 bis zum 31.März 1993 zu einem Überbezug von S

51.200. Grund hiefür war die Aufnahme eines Lehrverhältnisses und der damit verbundene Bezug einer Lehrlingsentschädigung durch den Minderjährigen.

Der Präsident des Oberlandesgerichtes Wien hat daraufhin beantragt, den Minderjährigen, seine Mutter und seinen Stiefvater zur Rückzahlung bzw. zum Ersatz der zu Unrecht bezogenen Unterhaltsvorschüsse zu verpflichten.

Das Erstgericht wies den gegen den Minderjährigen gerichteten Antrag ab, weil die Vorschüsse für den Unterhalt dieses Kindes verbraucht wurden, gab jedoch dem Ersatzbegehren in Ansehung des Stiefvaters und der Mutter des Minderjährigen statt. Beiden wurde vorgeworfen, die in § 21 UVG normierte Mitteilungspflicht in grob fahrlässiger Weise verletzt zu haben, und zwar die Mutter nicht zuletzt dadurch, daß sie die ihr im Juli 1991, September 1992 und Februar 1993 vom Jugendamt zugekommenen Aufforderungen, die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit des Minderjährigen und sein Einkommen bekannt zu geben, unbeantwortet ließ, ja nicht einmal an den Minderjährigen weiterleitete. Erst im März 1993 erfuhr das Jugendamt durch den Minderjährigen von dessen Berufstätigkeit.

Das Rekursgericht wies auch das gegen den Stiefvater gerichtete Ersatzbegehren ab, bestätigte jedoch den erstgerichtlichen Beschluß in Ansehung der Mutter. Es führte aus:

Haftungsgrund sei die Verletzung der in § 21 UVG normierten Mitteilungspflicht, die neben dem gesetzlichen Vertreter des Kindes und dem Unterhaltsschuldner denjenigen treffe, "der das Kind pflegt und erzieht". Diese Voraussetzung erfülle im gegenständlichen Fall die Mutter, weil ihr das Obsorgerecht zukomme. Sie habe sich zwar mit einem Verbleib des Kindes beim Stiefvater einverstanden erklärt, damit aber nur von ihrem Recht Gebrauch gemacht, sich der Hilfe eines Dritten bei der Pflege und Erziehung des Kindes zu bedienen. Eine Mitteilungspflicht des Stiefvaters im Sinne des § 21 UVG sei dadurch nicht begründet worden. Die scheinbar gegenteilige Meinung von Knoll im Kommentar zum UVG, wonach es auf die faktische Ausübung der Pflege und Erziehung und nicht auf deren rechtliche Zuordnung ankomme, sei nicht so zu verstehen, daß eigene Rechte und Pflichten eines nicht obsorgeberechtigten Extraneus begründet werden sollten. Man habe nur jenen Fällen Rechnung tragen wollen, in denen noch nicht über die Zuteilung der Elternrechte entschieden wurde, obwohl sich das Kind bereits faktisch in der alleinigen Obsorge eines Elternteils befindet. Bestätigt werde diese Auffassung durch die Regelung im § 17 Abs 2 letzter Halbsatz UVG, wonach den "Nurzahlungsempfänger" keine Mitteilungspflicht im Sinne des § 21 UVG und folglich auch keine Ersatzpflicht treffe. Letztlich sei davon auszugehen, daß eine Mitteilungspflicht im Sinne des § 21 UVG vor allem für den gelte, dem eine entsprechende Rechtsbelehrung anläßlich der Vorschußgewährung zugegangen sei. Im konkreten Fall sei ausdrücklich die Auszahlung der Unterhaltsvorschüsse an die Mutter angeordnet worden, und an dieser Auszahlungsanordnung habe sich - entgegen ihren Behauptungen - auch nie etwas geändert. Gehe man aber von einer Mitteilungspflicht der Mutter im Sinne des § 21 UVG aus, dann falle ihr auch - aus den vom Erstgericht angeführten Gründen - eine grobe Pflichtverletzung zur Last.

Die Entscheidung des Rekursgerichtes enthält den Ausspruch, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Zur Frage, wer als Pflegeperson im Sinne des § 22 UVG anzusehen ist, fehle nämlich eine höchstgerichtliche Judikatur.

Im jetzt vorliegenden Revisionsrekurs macht die Mutter geltend, daß der Gesetzeswortlaut eindeutig demjenigen die Mitteilungspflicht im Sinne des § 21 UVG auferlege, in dessen Pflege und Erziehung sich das Kind befinde. Es komme daher auf die faktischen Verhältnisse und nicht auf die rechtliche Zuordnung der Pflege und Erziehung an. Da sich der Minderjährige Michael seit Auflösung der Ehegemeinschaft zwischen Mutter und Stiefvater bei letzterem befinde, habe für die Rechtsmittelwerberin keine Mitteilungspflicht bestanden. Nicht sie, sondern der Stiefvater sei auch in den faktischen Genuß der Unterhaltsvorschüsse gekommen. Der Revisionsrekursantrag geht dahin, in Abänderung des angefochtenen Beschlusses auch das Ersatzbegehren gegen die Mutter abzuweisen oder hilfsweise die Rückersatzpflicht des Stiefvaters festzustellen.

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht angeführten Grund zulässig, jedoch nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Richtig ist, daß der Gesetzeswortlaut des § 22 UVG, wonach unter anderem derjenige für den Ersatz zu Unrecht gewährter Vorschüsse haftbar gemacht wird, in dessen Pflege und Erziehung sich das Kind befindet, eine Interpretation nahelegt, die allein auf faktische Verhältnisse abstellt. Auch die bereits vom Rekursgericht zitierte Lehrmeinung deutet die an mehreren Stellen des UVG verwendete Verknüpfung von Rechten und Pflichten mit der Person desjenigen, "der das Kind pflegt und erzieht" (§§ 17 Abs 2 und 21 UVG), so, daß es auf die faktische Ausübung der Pflege und Erziehung und nicht auf deren rechtliche Zuordnung ankommt (Knoll, Kommentar zum Unterhaltsvorschußgesetz, Rz 6 zu § 15 und Rz 9 zu § 21). Im Rahmen des äußersten Wortsinns einer Gesetzesbestimmung ist jedoch immer jene Auslegung zu wählen, die Wertungswidersprüche vermeidet und die Vorstellungen des Gesetzgebers verwirklicht. Da die Pflege und Erziehung eines Kindes ein äußerst komplexes Beziehungsgeflecht umschreibt, das sich mit der bloß faktischen Zuordnung von Ausübungshandlungen nicht erklären läßt, sondern immer auch rechtliche Strukturen zeigen muß, um faßbar zu sein, bietet sich auch hier ein solcher Interpretationsspielraum.

Nach den Gesetzesmaterialien zum UVG (5 BlgNR 14. GP) wurde die in § 21 normierte Mitteilungspflicht jener Person, die das Kind pflegt und erzieht, damit gerechtfertigt, daß letzten Endes (auch) ihr die Vorschüsse zugute kommen (aaO 19). Auch die an eine grob fahrlässige Verletzung dieser Mitteilungspflicht anknüpfende Haftung für den Ersatz zu Unrecht gewährter Vorschüsse wurde damit begründet, daß die Personen, in deren Pflege und Erziehung sich das Kind befindet, mittelbar durch die Vorschüsse einen Vorteil genießen (aaO 19 f). In den mittelbaren Genuß eines solchen Vorteils gelangt jedoch nur derjenige, dem durch die finanzielle Zuwendung die Erfüllung eigener Pflichten erleichtert wird. Der Sinn dieser Regelung wird klar, wenn man bedenkt, daß das Recht zur Pflege und Erziehung eines Kindes immer auch die korrespondierende Pflicht mit sich bringt, dem Kind unter Aufwand aller materiellen und persönlichen Mittel diese Pflege und Erziehung wirklich zukommen zu lassen. Der erkennende Senat schließt sich daher der Rechtsmeinung des Rekursgerichtes an, daß die in § 21 UVG normierte Mitteilungspflicht sowie die damit zusammenhängende Ersatzpflicht nach § 22 UVG nicht diejenige Person treffen sollten, die bloß tatsächlich mit der Pflege und Erziehung des in Genuß von Unterhaltsvorschüssen stehenden Kindes befaßt ist, sondern den Obsorgeberechtigten bzw. Obsorgepflichtigen, der sich bei der Erfüllung seiner Aufgaben zwar Dritter bedienen kann, dadurch aber nicht von seinen Mitteilungs- und Ersatzpflichten befreit wird. Den tatsächlichen Verhältnissen kommt nur dann Bedeutung zu, wenn Eltern das Obsorgerecht zusteht, faktisch jedoch nur einer von ihnen die Pflege und Erziehung ausübt, wie dies vor allem im Stadium zwischen Auflösung der Ehe und Zuteilung des Obsorgerechtes vorkommt. In einem solchen Fall erscheint es gerechtfertigt, den faktisch nicht mit der Pflege und Erziehung des Kindes befaßten Elternteil von der Mitteilungspflicht zu entbinden, da ihn das Vertrauen auf die Pflichterfüllung des anderen in aller Regel ohnehin exculpieren würde; der allein Obsorgeberechtigte wird jedoch nur damit argumentieren können, daß ihn die faktischen Pflege- und Erziehungsverhältnisse unter Umständen vom Vorwurf einer grob fahrlässigen Verletzung seiner Mitteilungspflicht befreien.

Im konkreten Fall ist dieser Entlastungsbeweis, wie schon das Rekursgericht zutreffend ausführte (§ 16 Abs 3 AußStrG iVm § 510 Abs 3 ZPO), gescheitert. Tatsächlich begründet es den Vorwurf grober Fahrlässigkeit an die obsorgeberechtigte Mutter des Minderjährigen, drei ausdrückliche Aufforderungen zur Bekanntgabe einer allfälligen Erwerbstätigkeit ihres Sohnes nicht beachtet zu haben. Wenn jetzt die Rechtsmittelwerberin vorbringt, die Unterhaltsvorschüsse seien nicht ihr, sondern dem Stiefvater ausbezahlt worden (womit offensichtlich der Grad ihres Verschuldens gemildert oder das Eventualbegehren begründet werden soll), geht sie nicht vom festgestellten Sachverhalt aus.

Es war daher wie im Spruch zu entscheiden.

Rechtssätze
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